Christliches Menschenbild, Teil 2

Ist der Mensch frei? Diese Frage scheint eine rhetorische zu sein. Wie selbstverständlich behauptet unsere Zeit die Freiheit als eine Art Grundrecht des Menschen. Sie wird als Ausweis der Moderne betrachtet, die es jedem ermöglicht, die kulturellen, traditionellen und institutionellen Einschränkungen menschlicher Selbstentfaltung zu überwinden. Die Freiheit wird zu einer Grundvoraussetzung für das, was wir als „Entfaltung der Persönlichkeit“, „authentisches Leben“ oder auch „Autonomie“ positiv bewerten. Jeder Mensch darf sich selbst nach eigenen Maßstäben entwickeln. Eine zentrales Diskussionsfeld ist dabei zur Zeit die Frage nach der menschlichen Geschlechtlichkeit, an der das (post-)moderne Freiheitspostulat beispielhaft erprobt wird. Wie weit darf eine Einschränkung der Freiheit durch normative (d.h. „regelnde“) moralische Regeln gehen und ist nicht letztlich sogar die gängige Einteilung der Geschlechter in „männlich“ und „weiblich“ zu hinterfragen? Handelt es sich hier nicht um eine freiheitsbeschränkende Kategorisierung, die angesichts einer angenommenen Vielfältigkeit geschlechtlicher Selbstzuordnungen als übergriffig abzulehnen ist? Wird die Freiheit der Selbstbestimmung des Menschen über sich selbst hier nicht durch überkommene Regelungen verletzt? Der Diskurs zeigt hier einen Extremfall im Streit um die richtige Vorstellung von der Freiheit des Menschen. Dieser Streit hat mittlerweile auch die Theologie erreicht.[1] Konkret geht es um die Fragen des Glaubens und der Moral. Wie weit darf eine dogmatische oder moraltheologische Verbindlichkeit kirchlicher Lehre für den Einzelnen noch eingefordert werden? Oder ist nicht vielmehr jeder frei, zu glauben und zu leben, wie er möchte?

Tatsächlich akzeptieren eigentlich auch die größten Freiheitsbefürworter die Tatsache, dass die Freiheit des Einzelnen niemals absolut (d.h. „unbegrenzt“) ist. Mindestens für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen braucht es Regeln und Gesetze, die auf der einen Seite die Freiheit des Einzelnen einschränken, sie auf der anderen Seite aber auch gegen Übergriffe durch andere schützen. Der Übergriff auf die Freiheit des anderen (Diskriminierung, Benachteiligung, Straftaten) soll selbstverständlich verboten sein. An dieser schlichten Tatsache wird deutlich, dass die Freiheit immer einen geregelten Rahmen braucht. Freiheit ohne Einschränkung gibt es nicht. Dafür sorgt allein schon die Tatsache, dass der Mensch in seinen Möglichkeiten immer schon zeitlich und räumlich eingeschränkt ist. Spätestens die begrenzte Lebenszeit zwingt ihn dazu, sein Tun und Handeln auf ein Ziel auszurichten. Er kann nie alles tun, alles werden, alles verwirklichen, was er vielleicht wünscht. Im Zentrum steht die Frage: Was ist gut für mich und was schlecht?

Biblische Freiheit

Diese Art von „Freiheit in Grenzen“ bestimmt die biblische Sicht auf den Menschen. Dies macht bereits die Schöpfungsgeschichte deutlich. In Genesis 3 heißt es:

Dann pflanzte Gott, der HERR, in Eden, im Osten, einen Garten und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. Gott, der HERR, ließ aus dem Erdboden allerlei Bäume wachsen, begehrenswert anzusehen und köstlich zu essen, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. […] Gott, der HERR, nahm den Menschen und gab ihm seinen Wohnsitz im Garten von Eden, damit er ihn bearbeite und hüte. Dann gebot Gott, der HERR, dem Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn am Tag, da du davon isst, wirst du sterben.

Die Freiheit des ersten Menschen ist von Beginn an eingeschränkt. Adam bekommt von Gott einen Lebensraum, den „Garten“ zugewiesen. Zugleich bekommt er einen Auftrag, nämlich, den Garten zu hüten und zu bebauen. Und ein drittes kommt hinzu: Gott gibt Adam zugleich ein erstes Gebot auf den Weg. Er darf vom Baum der Erkenntnis nicht essen. Adam ist im modernen Sinn kein autonomes Geschöpf, das sich erst überlegen könnte, was es mit seinem Leben anfangen möchte. Von vornherein hat er eine Bestimmung. Von ihm wird Gehorsam gefordert. Hinter dem Schöpfungsbericht steht eine feste Überzeugung, die sich durch die ganze Bibel zieht: Es gibt für jeden Menschen einen Weg, der ihn zu einem erfüllten Leben führt. Es gibt sozusagen für jeden eine Berufung oder Bestimmung. Wer diesem Weg folgt, d.h. den Willen Gottes für sein Leben erkennt und ihn befolgt, dessen Leben wird gelingen und gedeihen. Von vorneherein hat der Mensch aber noch eine andere Möglichkeit. Er ist frei und kann sich damit auch gegen Gott und sein Gebot entscheiden. In der Schöpfungsgeschichte ist genau dies der nächste Schritt. Adam und Eva lassen sich dazu verführen, Gottes Gebot zu übertreten – mit verheerenden Folgen: Sie verlieren ihren Lebensort und die Gottesliebe und sind zunächst auf sich allein gestellt. Die Entfernung von Gott und der Verstoß gegen Gottes Willen heißt theologisch „Sünde“. Die Realität der Sünde wird fortan die Geschichte der Menschen bestimmen. Das Leben wird von einem Ringen um die richtigen Entscheidungen geprägt. Die Freiheit ist gefährlich. Die ganze Bibel dokumentiert das Suchen nach dem richtigen Weg. Im Buch Deuteronomium etwa stellt Mose dem Volk Israel das göttliche Gesetz vor und sagt dann:

„Siehe, hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor, nämlich so: Ich selbst verpflichte dich heute, den HERRN, deinen Gott, zu lieben, auf seinen Wegen zu gehen und seine Gebote, Satzungen und Rechtsentscheide zu bewahren, du aber lebst und wirst zahlreich und der HERR, dein Gott, segnet dich in dem Land, in das du hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen. Wenn sich aber dein Herz abwendet und nicht hört, wenn du dich verführen lässt, dich vor anderen Göttern niederwirfst und ihnen dienst – heute erkläre ich euch: Dann werdet ihr ausgetilgt werden; ihr werdet nicht lange in dem Land leben, in das du jetzt über den Jordan hinüberziehst, um hineinzuziehen und es in Besitz zu nehmen.“  (Dtn 30, 16ff.)   

Das Volk ist also frei, sich für oder gegen Gott (und damit für andere Götter) zu entscheiden. Der eine Weg führt zum Leben, der andere zum Tod. Auch die Botschaft Jesu handelt von diesem Grundkonflikt. Die ersten Worte seiner Verkündigung sind: „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15). Seine Mission ist, das Volk Israel wieder zu Gott zurückzuführen. Daher muss auf diesem Weg die Sünde besiegt werden, um wieder zur vollen Erkenntnis Gottes und zur Gemeinschaft mit ihm zu kommen. Jesus fordert die bewusste Entscheidung zur Umkehr. Dies wird zum Beispiel in der Begegnung mit dem Zöllner Zachäus deutlich (Lk 19). Der Tod am Kreuz wird zum Zeichen für den endgültigen Sieg über die Sünde (1Petr 2,24), die Auferstehung und Geistsendung entgrenzt das Versöhnungsangebot Gottes. Von nun steht allen Menschen (nicht mehr allein dem erwählten Volk Israel) das Versöhnungsangebot Gottes offen. Allen Mensch  ist das Leben in Fülle verheißen.

Diese kurzen Hinweise müssen an dieser Stelle genügen. Die Idee der menschlichen Freiheit dürfte deutlich geworden sein. Biblisch besteht die Freiheit der Menschen darin, sich für oder gegen Gottes Willen zu entscheiden. Jüdisch geschieht dies primär auf dem Weg der göttlichen Gebote (des „Gesetzes“), christlich auf dem Weg des Glaubens an die Erlösung durch Christus und die Nachfolge Jesu. Diese Idee von Freiheit mag uns heute fremd vorkommen. Geschichtlich war sie aber von enormer Bedeutung. Die Geschichte der Christenheit steht immer vor der Frage, was der richtige Weg ist, um im Sinne Gottes zu leben und zu handeln. Diese Frage bestimmt über Jahrhunderte  das soziale Leben, aber auch das politische Handeln. Eine besondere Zuspitzung erfährt die Frage schließlich bei Martin Luther.

Der Kampf um die Freiheit

Luther und die Reformation wären ohne den Streit zwischen zwei theologischen Richtungen nicht denkbar. Es geht dabei zentral um die Freiheit des Menschen. Luther war Ordensmann, Mönch des Augustinerordens. Seine Kongregation (d.h. „Untergruppe des Ordens“) war vom Denken des Heiligen Augustinus geprägt und vertrat eine strenge Linie. Augustinus, der im 4. Jahrhundert lebte, hatte in seinem Spätwerk besonders die Frage der menschlichen Freiheit behandelt. Wenn der Mensch seine Lebensentscheidung für Gott treffen soll, was kann er dann tun, um den richtigen, gottgefälligen Weg zu finden? Wenn Gott den Menschen aus der Sünde retten möchte, was ist dann der Beitrag, der von jedem Menschen gefordert wird? Wir würden vielleicht sagen, dass dies möglich ist, indem die Menschen etwa die Bibel lesen, über das Evangelium nachdenken und dann frei entscheiden, wie sie gemäß dem, was sie davon verstanden haben leben wollen. Wer also etwas Gutes tut, oder im Gebet und im Gottesdienst versucht, Gott nahe zu sein, der ist auf dem richtigen Weg. Augustinus lehnt das kategorisch ab. Er sagt: Die Macht der Sünde ist so stark, dass die Menschen aus eigenem Vermögen nicht erkennen können, was gut oder schlecht ist. Ihre Freiheit ist also durch die Sünde eingeschränkt. Um zu erkennen was das Richtige ist, geht es gar nicht anders, als dass Gott selbst eingreift und dem Menschen diese Erkenntnisfähigkeit wieder schenkt. Das Heil (also das „Vor-Gott-gerecht-sein“) kommt nicht aus dem menschlichen Willen (auch nicht in Teilen), sondern allein durch Gott selbst. Ohne dieses Eingreifen Gottes ist der Mensch blind, erst durch die Gnade Gottes wird er sehend.

Luther wiederholt diese Lehre des Augustinus. Der Mensch kann nur zum Guten gelangen, wenn er sich ganz auf die Gnade Gottes einlässt. Das einzige, was er selbst durch seine Freiheit beisteuern kann, ist, sich ganz Gott zu übergeben, konkret: zu glauben, dass allein Kreuz, Tod und Auferstehung Christi mich aus der Sünde erlösen können. Ist das geschehen, hat der Mensch also seine eigene Freiheit an Gott übergeben, dann gelangt er auf den richtigen Weg. Die Konsequenz: Alles, was Menschen aus eigener Erkenntnis, aus philosophischem Nachdenken, aus eigener Kraft (gute Werke) oder an religiösen Übungen tun können, bringt ihnen nichts. Es ist wertlos. Deshalb haben alle „Hilfsmittel“ des Glaubens, also etwa die Sakramente oder die Lehre der Kirche keinen heilsrelevanten Sinn. Sie können nachträglich, also nach dem „Glaubensakt“ eine Hilfe sein, aber eben nicht mehr. Das Heil entscheidet sich nicht an ihnen. Die menschliche Freiheit wird bei Luther also auf ein Minimum reduziert. Auch er glaubt fest, dass der Mensch durch die Sünde so „kaputt“ ist, dass er aus eigenen Fähigkeiten nicht weiter kommt. Luther hegt Sympathien für die Vorstellung der „Prädestination“ (d.h. „Vorherbestimmung“). Da der Mensch aus eigener Kraft nichts zu einem guten Leben beisteuern kann, sondern ihm alles geschenkt wird, ist sein Leben eben nicht im modernen Sinn „frei“, sondern von Gott vorherbestimmt. Dem Menschen bleibt nichts weiter, als sich in den göttlichen Plan zu fügen und zu hoffen, dass Gott es am Ende gut mit ihm meint.

Die katholische Kirche geht einen anderen Weg. Sie hält im Kern daran fest, dass der Mensch aus eigener Kraft das Gute erkennen und tun kann, dass es eine natürliche Erkenntnisfähigkeit des Menschen gibt. Auch für sie bleibt die göttliche Gnade im Kern entscheidend.  Die Mitwirkung des Menschen und seine freien Entscheidungen sind aber schon eine Folge des von Gott gewollten und unterstützen freien Willens, auch wenn dieser freie Wille durch die Macht der Sünde geschwächt ist.[2]

Freiheit im christlichen Menschenbild

Auf die Frage nach der Freiheit des Menschen gibt es also in der christlichen Tradition (auch innerhalb der katholischen Theologiegeschichte[3]) unterschiedliche Antworten. Sie laufen alle darauf hinaus, dass die Freiheit des Menschen eingeschränkt ist. Sie ist immer mit der Frage nach dem Willen Gottes verbunden. Die Verheißung eines guten und glücklichen Lebens ist damit anders als bei modernen Freiheitsauffassungen nicht allein auf dem Weg eigener Entscheidungen und aus eigener Kraft zu realisieren. Die menschliche Freiheit misst sich an der Freiheit Gottes. Dass allerdings auch diese Grundeinsicht der Bibel und der kirchlichen Tradition innerhalb der Theologie kontrovers diskutiert wird, zeigt, dass Bemühen, auch angesichts der Stärke moderner Freiheitsvorstellungen die traditionellen Antworten zu überdenken.

[1] S. z.B. Menke, Karl-Heinz, Macht die Wahrheit frei oder die Freiheit wahr?, Regensburg 2017.

[2] S. hierzu das „Dekret über die Rechtfertigung“ des Trienter Konzils, besonders Kap. 1, Kap. 5 und can. 4 und 5.

[3] S. hierzu etwa den Streit um den sog. „Jansenismus“ .

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