Selektive Wahrnehmung

Am vergangenen Freitag gab es hier in Schwerin die „Lichternacht“. Verschieden historische Gebäude, unter anderem auch die St. Anna-Kirche, wurden farbig angestrahlt. In der Dunkelheit erregten die so aus dem normalen Stadtbild herausgehobenen Gebäude die Aufmerksamkeit der Spaziergänger. Als ich beim Stadtmarketing, das die Lichternacht durchführt, nachfragte, was das Konzept der ganzen Aktion sei, sagte mir die Projektleiterin sinngemäß: „Natürlich wollen wir unsere Stadt in Szene setzen. Aber das ist nicht der einzige Zweck. Wir haben den Eindruck, dass selbst die Schweriner manchmal gar nicht wissen, welche schönen Gebäude es bei uns überhaupt gibt. Das Schloss, den Dom oder das Theater kennt sicher jeder. Tatsache ist aber, dass die meisten an vielen Sehenswürdigkeiten jeden Tag einfach so vorbeilaufen. Durch die Illumination werden die verborgenen Schätze sichtbar und wir laden die Bürger ein, die Stadt noch einmal mit anderen Augen zu entdecken.“ St. Anna liegt mitten in der Altstadt und es war für mich eigentlich kaum vorstellbar, dass die Schweriner ein doch immerhin großes und markantes Gebäude einfach nicht kennen sollten. Aber dieser Eindruck täuscht. Mehrfach wurde mir schon berichtet, dass etwa Besucher unserer Kirchenkonzerte am Ende der Veranstaltungen kamen, sich bedankten und sagten, dass sie zwar schon lange in Schwerin wohnen würden, nun aber das erste Mal in ihrem Leben in unserer Kirche gewesen seien.

Wie ist es möglich, ein solches Gebäude offensichtlich jahrelang zu übersehen? Psychologen sprechen davon, dass wir Menschen eine selektive Wahrnehmung haben. Das bedeutet: Offensichtlich blenden wir in unserer Wahrnehmung der Welt Dinge aus, die für uns nicht relevant sind. Das Gehirn speichert die Eindrücke, die für uns nützlich oder gefährlich sein könnten. Mir ist das selbst neulich so gegangen, als ich das erste Mal einen Briefkasten suchte. Ich ging aus dem Haus und überlegte, wo ich in der Nähe des Pfarramtes einen gesehen hatte. Aber es fiel mir kein Ort ein. Erst als ich mich auf den Weg machte, mehrere Straßen ablief und bewusst nach dem Briefkasten suchte, fand ich auch einen – an einer Stelle die ich an den vorherigen Tagen schon dutzende Male passiert hatte. Wenn ich dort jetzt vorbeigehe, sehe ich das Gelb des Briefkastens natürlich sofort als erstes.

Wenn die Bibel davon erzählt, wie Menschen zum Sehen gelangen, erzählt sie davon häufig auf zwei Ebenen. Vordergründig geht es natürlich erst um das rein körperliche Sehen – so wie im heutigen Evangelium, wo ein Blinder das Augenlicht zurückerhält:

In jener Zeit als Jesus mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge Jericho verließ, saß an der Straße ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazaret war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir! Viele wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich. Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu. Und Jesus fragte ihn: Was soll ich dir tun? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte wieder sehen können. Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dir geholfen. Im gleichen Augenblick konnte er wieder sehen, und er folgte Jesus auf seinem Weg (Mk 10, 46-52).

Im Hintergrund behandelt dieses Evangelium aber ein anderes „Sehen“. Dies ist ein inneres Sehen, ein Wahrnehmen und Verstehen. Die Erzählung birgt eine Merkwürdigkeit. Als Jesus den blinden Bartimäus rufen lässt, springt dieser auf, wirft seinen Mantel von sich und läuft auf Jesus zu. Für einen Blinden ist das sicher nicht unmöglich, allerdings hätte man an dieser Stelle eher erwartet, dass Jesus zum Blinden geht, oder dass dieser von anderen zu Jesus geführt hat. Es scheint, als ob der Glaube, also die innere Wahrnehmung der Person und Bedeutung Jesu, ihm bereits jetzt geholfen hat. Als er dann die Augen öffnet und wieder sehen kann, ist er nicht nur körperlich geheilt, sondern hat offensichtlich auch innerlich etwas erkannt. Er folgt Jesus auf seinem Weg. Die Pointe des Ganzen ist: Während vielen, die Jesus umgeben und das ganze Geschehen sehend mitverfolgen die Person Jesu und die göttliche Gegenwart in ihm nicht wahrnehmen, ist es ausgerechnet der Blinde, der in Wirklichkeit mehr gesehen hat als sie selbst.

Die selektive Wahrnehmung betrifft offensichtlich auch den Glauben. Da ist es bei Vielen, vielleicht sogar den meisten Menschen so wie mit den Zuschauern eines Theaterstücks, das ich einmal in Hamburg erlebt habe. Dort trat eine Schauspielerin auf und hielt eine flammende Rede zu den bedrängenden Themen unserer Zeit. Währenddessen spielte ein Schauspieler am Bühnenrand mit einer Handpuppe, einem Wiesel oder Eichhörnchen. Er machte das so gut, dass der ganze Saal anfing zu lachen. Nach wenigen Augenblicken schauten alle nur noch auf den Puppenspieler. Vom Inhalt der gleichzeitig gehaltenen Rede bekam niemand mehr etwas mit. Wenn ich heute Menschen erzähle, wie schön und erfüllend der Glaube ist, stehe ich häufig vor dem gleichen Effekt. Es gibt genug andere Dinge, die ihre Aufmerksamkeit viel mehr beanspruchen, die amüsanter, hübscher, bedrohlicher oder aufregender sind. Die Aufmerksamkeit für die Frage des Glaubens ist erst dann da, wenn er für mich relevant wird. Und nicht wenigen geht es dann so, wie mir mit dem Briefkasten. Erst jetzt beginnen sie zu suchen, nach dem, was sie bislang selektiv ausgeblendet hatten. Sie suchen nicht selten vergebens, um einen Ort oder eine Person zu finden, die Ihnen in ihrem Bedürfnis nach Gott weiterhelfen könnte. Deswegen glaube ich, dass es für den Glauben drei wichtige Dinge gibt. Es braucht einen Anlass, der die bislang selektive Wahrnehmung in ein Suchen verwandeln kann. Es braucht ein inneres Sehen, Verstehen oder Spüren, dass dieser Glaube für sie relevant ist und es braucht die Begegnung.

Bei Bartimäus ist alles dies vorhanden. Aus seiner Begegnung mit Jesus wird mehr, als er gedacht hat. Der Wunsch nach einer Heilung der Augen wird ihm erfüllt. Aber es geschieht mehr. Die Heilung wird nur zu einem Schritt hin zu einer tiefen Gemeinschaft mit Jesus. Hier beginnt der Weg der Nachfolge.

Die Lichternacht hat dazu geführt, dass Einige in unsere Kirche gekommen sind, die noch nicht da waren. Dass daraus mehr wird, wäre mein tiefer Wunsch.

 

Ein Kommentar zu „Selektive Wahrnehmung

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