In den vorherigen Überlegungen hatte sich gezeigt, dass alle moralischen Begründungssysteme ihre Stärken und ihre Schwächen haben. Es ist davon auszugehen, dass es keine moralische Letztbegründung gibt, die unbestreitbar ist. Insofern kann es nur darum gehen, einen Weg aufzuzeigen, der für möglichst viele beschreitbar ist, so dass die Zahl der Gegner, die es in extremen Positionen immer geben wird, möglichst gering bleibt. Das Naturrecht hatte eine Basis für eine starke moralische Grundordnung geliefert. Sein Problem ist, dass es ohne metaphysische (also, in der Welt nicht empirisch nachweisbare) Annahmen nicht auskommen kann. Es geht von einem dem Menschen unabhängigen vorgegebenen ethischen Rahmen aus. Bestreitet man, wie etwa im Positivismus geschehen, dass es solche metaphysischen Wirklichkeiten wie Gott, den universalen Willen, oder die reine Moralität gibt, oder dass diese zumindest auf unsere Art der Welterfassung keinen Einfluss haben, bzw. wir über sie keine Aussagen treffen können (Wittgenstein), bleibt als Quelle der Moral nur der Mensch selbst übrig. Die Menschen selbst werden also zu Konstrukteuren ihrer Moral. Der Konstruktivismus benennt einen wichtigen Punkt, wenn er auf die zeit- und kulturbedingten Prägungen moralischer Systeme hinweist. Allerdings kennt er keinen anderen Ausweg, als die Neukonstruktion moralischer Weltbilder vorzuschlagen und verliert den Maßstab, an dem man ihre Berechtigung oder Gültigkeit messen könnte. Die Diskursethik versucht, die Weltbilder im Dialog zu (universal) gültigen Normen zusammenzufügen. Der „ideale Diskurs“ bleibt dabei allerdings eine Utopie und bedarf der Zustimmung zu den Diskursprinzipien.
Will man über die Moral nicht nur in einem zeitlich und örtlich begrenzten Rahmen sprechen, also etwa die moralischen Spielregeln meiner eigenen Familie oder Gruppe klären, braucht es mindestens einen universal für alle Menschen geltenden Ausgangspunkt. Bei Kant war dies z.B. die Annahme, dass sich der Mensch dem Guten gegenüber verpflichtet weiß und es kraft seiner Vernunft und seines Gewissens auch erkennen kann. Ein solcher Ausgangspunkt ist dann wichtig, wenn es um Verständigung über moralische Normen in größeren Bezügen, etwa zwischen Volksgruppen oder Staaten geht. Aber, so würde der Konstruktivist fragen, kann es einen solchen Ausgangspunkt überhaupt geben, wo wir doch von einer Vielzahl von Kulturen und Traditionen ausgehen? Es scheint mir daher richtig zu sein, eine Ethik so zu begründen, dass sie zum jetzigen Zeitpunkt eine möglichst universale Gültigkeit haben kann. Ob diese Gültigkeit auch rückwirkend für vergangene Zeitalter (etwa die Steinzeit) behauptet werden kann, oder auch im Jahr 2519 noch unverändert Gültigkeit hat, ist aus meiner Sicht angesichts der Notwendigkeit, aktuelle ethische Fragen zu beantworten zweitrangig. Ich schlage also einen pragmatischen Weg vor und noch zudem einen, der alltagstauglich Anwendung finden kann (man kann also die sonst gerne zitierten Beispiele fremder Welten beiseitelassen). Schließlich geht es um die konkreten Fragen, die eingangs erwähnt wurden, also etwa, ob es eine Verpflichtung gibt, Flüchtlinge zu retten oder ob es ein Recht auf Sterbehilfe gibt.
7. Vorbemerkung
Ich möchte zunächst eine Voraussetzung thematisieren, die für das Vorhandensein einer Ethik fundamental ist. Sich über ethische Fragen zu unterhalten, macht nur Sinn, wenn wir dem Satz „Der Mensch ist frei“ eine gewisse Bedeutung zumessen. Es geht also um die Behauptung, dass der Mensch die Möglichkeit hat, sich in bestimmten Situationen, die seine Moral herausfordern, unterschiedlich zu verhalten. Wenn ich, um ein bekanntes Beispiel aufzugreifen, einen Mensch sehe, der verletzt am Boden liegt, habe ich zwei Optionen: Zu helfen, oder vorbeizugehen. Auch wenn ich aufgrund meiner Persönlichkeit oder meiner Überzeugungen zu der einen oder anderen Option tendiere, bin ich doch grundsätzlich in der Lage, mich auch anders zu entscheiden (auch wenn es mir nachher Gewissensbisse verursacht). Diese ganz einfache Sache, einer gewissen Entscheidungsfreiheit klingt selbstverständlich. Aber auch sie wird bestritten. Ist der Mensch nicht frei, dann ist bei ihm alles vorherbestimmt – mit einem Fremdwort: determiniert. Der Mensch ist dann ausführendes Organ Gottes, des Weltgeistes, seiner Psyche, seiner Gene oder Synapsen. Wenn das so ist, dann trägt der Mensch keine Verantwortung für seine Handlungen. Dann konnte er gar nicht anders handeln, weil es eben genauso für ihn bestimmt war. Unbezweifelbar ist, dass es Faktoren gibt, die unsere Freiheit einschränken. Aber im Kern gilt doch, dass es mir (unter Aufbringung aller Willenskräfte) immer möglich gewesen wäre, anders zu handeln. Ist der Mensch für seine Taten nicht verantwortlich, kann er für sie auch nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Es gibt dann auch keine guten oder bösen Taten, weil diese nicht aus guter oder böser Absicht geschehen, sondern einfach so. Gibt es kein „gut“ und „böse“, macht es auch keinen Sinn, über Moral zu sprechen. Wir wären wie Wellen, die durch den Wind mal die eine, mal die andere Form annehmen, aber nicht aus eigener Kraft handeln. Eine solche Vorstellung ist theoretisch begründbar. In der Praxis aber handeln wir immer so, als ob wir moralische Wesen wären. Wir verlagern die Verantwortung in der Regel nicht auf eine metaphysische oder materielle Ebene („Es war eben ein Dämon, der mich gezwungen hat, X zu töten / Es war mein Erbgut, das mir keine andere Wahl ließ, als Y zu bestehlen“). Gehen wir also als erstes einmal davon aus, dass das Sprechen über Moral Sinn hat und dass wir in der Lage sind, aufgrund moralischer Überzeugungen zu handeln.
8. Ein pragmatischer Ansatz
Woraus lässt sich also möglichst allgemeingültig Moral heute begründen? Ich möchte ansetzen bei einem kirchlichen Dokument. Das Zweite Vatikanische Konzil hat das Verhältnis der Kirche zur Welt neu bestimmt. Das dazugehörige Schreiben ist die Konstitution „Gaudium et spes“ (GS). Das Dokument versucht sich an einer allgemeinen Bestimmung des Menschen und führt in Nr. 12 aus:
Was ist aber der Mensch? Viele verschiedene und auch gegensätzliche Auffassungen über sich selbst hat er vorgetragen und trägt er vor, in denen er sich oft entweder selbst zum höchsten Maßstab macht oder bis zur Hoffnungslosigkeit abwertet, und ist so unschlüssig und voll Angst. In eigener Erfahrung dieser Nöte kann die Kirche doch, von der Offenbarung Gottes unterwiesen, für sie eine Antwort geben, um so die wahre Verfassung des Menschen zu umreißen und seine Schwäche zu erklären, zugleich aber auch die richtige Anerkennung seiner Würde und Berufung zu ermöglichen. Die Heilige Schrift lehrt nämlich, dass der Mensch „nach dem Bild Gottes“ geschaffen ist, fähig, seinen Schöpfer zu erkennen und zu lieben, von ihm zum Herrn über alle irdischen Geschöpfe gesetzt, um sie in Verherrlichung Gottes zu beherrschen und zu nutzen.
„Gaudium et spes“ greift auf die Anfänge der Bibel zurück. Der Mensch ist nach Gen 1,26 nach dem Bild Gottes geschaffen. Aus der Abbildlichkeit Gottes, also aus der Tatsache, dass sich Gott jedem Menschen einprägt und ihm die Fähigkeit zur Gotteserkenntnis gibt, schließt das Dokument die Einzigartigkeit des Menschen. In GS 24 heißt es auf dieser Grundlage über die menschliche Gemeinschaft:
Gott, der väterlich für alle sorgt, wollte, dass alle Menschen eine Familie bilden und einander in brüderlicher Gesinnung begegnen. Alle sind ja geschaffen nach dem Bild Gottes, der „aus einem alle Völker hervorgehen ließ, die das Antlitz der Erde bewohnen“ (Apg 17,26), und alle sind zu einem und demselben Ziel, d.h. zu Gott selbst, berufen. Daher ist die Liebe zu Gott und zum Nächsten das erste und größte Gebot. Von der Heiligen Schrift werden wir belehrt, dass die Liebe zu Gott nicht von der Liebe zum Nächsten getrennt werden kann: „… und wenn es ein anderes Gebot gibt, so ist es in diesem Wort einbegriffen: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst … Demnach ist die Liebe die Fülle des Gesetzes“ (Röm 13,9-10; 1 Joh 4,20).
Aus der Feststellung der Gottesebenbildlichkeit ergibt sich die menschliche Ethik. Da nicht nur ich, sondern jeder andere Mensch Gottes Bild ist, sind alle Menschen gleich und aufeinander bezogen. Die Begegnung mit dem Nächsten ist zugleich Begegnung mit Gott. Man könnte also von einer „Heiligkeit“ des Menschen sprechen. Die Nächstenliebe ist somit das Grundgesetz jeder menschlichen Moral. Das Konzilsdokument buchstabiert die Folgen dieser grundlegenden ethischen Feststellung im weiteren Verlauf aus:
Zu praktischen und dringlicheren Folgerungen übergehend, will das Konzil die Achtung vor dem Menschen einschärfen: alle müssen ihren Nächsten ohne Ausnahme als ein „anderes Ich“ ansehen, vor allem auf sein Leben und die notwendigen Voraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens bedacht (GS 27).
Da alle Menschen eine geistige Seele haben und nach Gottes Bild geschaffen sind, da sie dieselbe Natur und denselben Ursprung haben, da sie, als von Christus Erlöste, sich derselben göttlichen Berufung und Bestimmung erfreuen, darum muss die grundlegende Gleichheit aller Menschen immer mehr zur Anerkennung gebracht werden. Gewiss, was die verschiedenen physischen Fähigkeiten und die unterschiedlichen geistigen und sittlichen Kräfte angeht, stehen nicht alle Menschen auf gleicher Stufe. Doch jede Form einer Diskriminierung in den gesellschaftlichen und kulturellen Grundrechten der Person, sei es wegen des Geschlechts oder der Rasse, der Farbe, der gesellschaftlichen Stellung, der Sprache oder der Religion, muss überwunden und beseitigt werden, da sie dem Plan Gottes widerspricht. (GS 29)
Das Konzil skizziert hier die Pflicht zur Achtung jeder Person (auch des Gegners), zur gegenseitigen Hilfe und Unterstützung und im letzten zur gleichberechtigten Integration aller Menschen in die Menschheitsfamilie. Die Feststellung der Gottebenbildlichkeit hat also weitreichende Folgen. Sie ist zunächst einmal behauptet. Sie stützt sich auf eine offenbarte Wahrheit. Als solche ist sie für Juden und Christen annehmbar. Die Voraussetzung einer christlichen Ethik ist die Annahme der Offenbarung und damit ein Akt des Glaubens.
Was ist aber mit denen, die die Offenbarung nicht anerkennen? Um zu einem möglichst universalen Konzept der Ethik zu gelangen, können wir gegenüber einem Buddhisten oder Atheisten nicht mit der Gottebenbildlichkeit argumentieren. Wir dürfen dieses Wort nicht verwenden. In der Sache aber, so glaube ich, sind wir auf der richtigen Fährte. Die säkulare Übersetzung der Gottebenbildlichkeit ist ein vertrautes Wort: die Menschenwürde. Das deutsche Grundgesetz hält sie als ethisches Fundament in seinem ersten Artikel „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ fest. In ähnlicher Form sagt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als ersten Artikel der Grundrechte aus: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“
Im Grunde handelt es sich bei der Menschenrechtserklärung und „Gaudium et spes“ in der Substanz der Moralbegründung um einen sehr ähnlichen Text, nur das das Vatikanische Konzil eine religiöse Version liefert, die UN eine (aus ihrer Sicht) weltanschauungsunabhängige und damit universalisierbare.
Das Konzept der Menschenwürde als Fundament der globalen Ethik muss nun gegen Einsprüche verteidigt werden. Das klingt erst einmal überflüssig, weil wir es gewohnt sind, in ethischen Fragen mit der Menschenwürde zu argumentieren. Aber, hält der Begriff einer Überprüfung stand? Einige Gegenargumente werden im Folgenden geprüft:
a) Die Diskursethik dürfte mit der Annahme einer Menschenwürde wenige Probleme haben. Schließlich setzt sie voraus, dass es sich bei den Diskursteilnehmern um rationale, vor allem aber prinzipiell gleichberechtigte Individuen handelt. Bei den Diskursteilnehmern, übrigens auch solchen, die sich nicht selbst äußern können, aber Berücksichtigung finden (z.B. zukünftige Generationen), werden Pflichten bei der Einhaltung des Diskurses vorausgesetzt, ebenso Rechte. Die Menschenwürde, bei der das Selbstbestimmungsrecht, die freie Entscheidung, aber auch das Existenzrecht vorausgesetzt werden, wird also unter den Regeln des Diskurses nicht in Frage gestellt, selbst dann, wenn „Menschenwürde“ als Begriff nicht ausdrücklich verwendet werden sollte.
b) Aus positivistischer Sicht gibt ein wesentliches Problem: Was meine ich eigentlich, wenn ich „Menschenwürde“ sage? Es handelt sich, so könnte man ja sagen, erst einmal um eine philosophische Aussage, um eine gewisse Theorie über den Menschen. Ist der Begriff also wissenschaftlich substanzlos? Das wäre der Fall, wenn es keine messbaren Evidenzen für die Existenz einer Menschenwürde gäbe. Diese sollten allerdings durchaus zu finden sein. Zum einen würden Mediziner, Psychologen und Verhaltensforscher im Verhalten eines Menschen Muster beobachten, die für die Existenz, oder zumindest die Selbstzuschreibung der Menschenwürde sprechen können. So gibt es etwa das Gefühl der Scham, der Schuld oder auch der Verletzung, wenn Menschen den Eindruck haben, in ihrer Würde missachtet worden zu sein. Opfer von Gewalt oder Ausgrenzung zeigen ähnliche Verhaltensmuster und sind anfällig für bestimmte psychische Phänomene (Trauma, Schock, Depression, permanentes aggressives Verhalten). Umgekehrt gibt es positive Auswirkungen auf körperliche Gesundheit und Psyche, wenn Menschen sich in ihrer Würde geachtet und bestärkt fühlen. Insbesondere in den Erziehungswissenschaften spielt dieser Faktor eine enorme Rolle. Zum anderen müsste ein Positivist befragt werden, ob er denn selbst für sich Menschenwürde in Anspruch nehmen würde. Sofern Menschen sich nicht nach der veralteten Evolutionsregel des „survival oft he fittest“ verhalten, kann ihnen ein Empfinden und auch ein Schutzmechanismus unterstellt werden, der auch den Schwachen hilft, einen Platz in der menschlichen Gemeinschaft zu finden. Wer für sich selbst keine „Menschenwürde“ akzeptiert, müsste auch Eingriffen in seine körperliche Unversehrtheit und seine soziale Stellung indifferent gegenüber stehen.
c) Der gewichtigste Einwurf dürfte wiederum von den Konstruktivisten kommen. Schließlich könnte das Konzept der „Menschenwürde“ ebenfalls bloß ein soziales Konstrukt sein. Die beschriebenen beobachtbaren Folgen einer Übertretung oder Bestärkung dieser Würde könnten ebenso gut Folgen von kulturell anerzogenen Verhaltensregeln sein. Die Scham eines Opfers von sexueller Gewalt wäre dann nichts „typisch Menschliches“, sondern die Folge einer Internalisierung (Verinnerlichung) bestimmter gesellschaftlicher Regeln, nach denen sexuelle Gewalt abzulehnen und zu sanktionieren ist. Meine Gefühle würden auf solche verinnerlichten Regeln reagieren und sie zum Ausdruck bringen. Sie wären Teil eines Gesellschaftsspiels, das sich über die Jahrhunderte eingependelt hat. Würde man die Regeln dieses Spiels verändern, würden sich auf Dauer auch die dazu passenden Gefühlsregungen und psychischen Folgen verändern.
In der Tat gibt es in der konstruktivistischen These einen wahren Kern. Nehmen Sie das folgende Beispiel. Sie schauen den James-Bond-Film „Im Geheimdienst ihrer Majestät“ an. James Bond schleust sich hier in ein geheimes Sanatorium des Bösewichts Blofield ein. Auf dem Weg zu seiner Mission rettet Bond eine junge Frau, Tracy, in die er sich unsterblich verliebt. Am Ende des Films will sich Blofield an Bond rächen, indem er Tracy entführt. Bond unternimmt eine spektakuläre Rettungsaktion, bei der er zahlreiche Männer Blofields erschießt und das Sanatorium in die Luft jagt. Am Ende des Films heiraten James Bond und Tracy. Blofield rächt sich erneut und erschießt Tracy. Wie fast alle Filme dieser Art, lenkt auch „Im Geheimdienst ihrer Majestät“ unser moralische Empfinden. Wir haben am Ende tiefes Mitleid mit Bond, der seine Frau verliert und einen tiefen Hass auf Blofield. Der besondere Wert von Tracys Leben ist uns voll bewusst. Dass Bond allerdings auf dem Weg zu Tracy einige Dutzend Männer erschossen hat, macht uns moralisch gesehen nichts aus. Sie haben offensichtlich durch ihre Mitwirkung an den Verbrechen Blofields keine wirkliche Existenzberechtigung. Unsere moralischen Urteile bezüglich des Todes von Tracy und dem Tod der Männer sind völlig unterschiedlich. Legen wir allerdings als Wertmaßstab die „Menschenwürde“ zugrunde, sind die unterschiedlichen moralischen Urteile nur schwer zu rechtfertigen. Beide, Blofield und Bond sind Mörder, beide haben Menschenleben auf dem Gewissen. Jetzt können Sie sagen: Es ist ja nur ein Film. Aber der Film verdichtet nur, was wirklich auf der Welt geschieht. Der Film verhandelt den Gegensatz von „gut“ und „böse“. Insofern ich bereit bin, kein neutraler Beobachter zu bleiben, sondern für mich entscheide, wer hier gut und wer hier böse ist, fällt mein moralisches Urteil unterschiedlich aus. Das Böse darf vernichtet werden, das Gute nicht. Damit haben wir es mit einem Fall sozialer Konstruktion zu tun. Blofield selbst dürfte aus der anderen Perspektive den Tod seiner Männer als zutiefst unmoralisch bewerten (sofern wir ihm zugestehen, moralisch urteilen zu können).
In der Wirklichkeit liegt in dieser Manipulation moralischer Urteile, man könnte auch sagen, in ihrer Konstruktion, eine Strategie. Damit ich (oder der Staat) gegen bestimmte Gruppen oder Nachbarstaaten vorgehen kann, brauche ich eine moralische Rechtfertigung. Ich komme nicht umhin, meinen Gegnern ihr Existenzrecht und damit ihre Menschenwürde abzusprechen. So werden aus Gegnern Feinde und damit „Böse“, die zu bekämpfen sind. Die „anderen“ sind dann pauschal Terroristen, Aggressoren, feindliche Agenten, Klassenfeinde oder Untermenschen. Ihr Lebensrecht ist verwirkt. Zugleich ist mein eigenes aggressives Verhalten aus meiner Sicht dadurch gerechtfertigt.
Mir geht es nicht um Begründungsstrategien für Kriege (das ist eine ganz eigene Diskussion) sondern um das Argument, dass auch die „Menschenwürde“ nur ein soziales Konstrukt ist, also bestimmten Wertvorstellungen unterworfen ist, die sich verändern können. Gemäß dieser These könnte z.B. gelten:
Mein netter Nachbar, der mir immer geholfen hat, besitzt selbstverständlich Menschenwürde. Als ich sein Foto auf einem Steckbrief gesuchter Terroristen sah, verlor er die Menschenwürde.
Eine solche These würde wahrscheinlich auch der Konstruktivist nicht teilen. Ein solches Denken ist gefährlich. Wenn die Idee der universalen Menschenwürde (bei aller kulturellen Ausformung) nicht zu halten ist, bedeutete dies, dass die Menschenwürde nur von Fall zu Fall zugesprochen werden kann. Was sollen aber dafür die Maßstäbe sein? Besitzt ein Straftäter Menschenwürde, besitzen Demenzkranke Menschenwürde, oder Säuglinge? Diese Fragen werden ja durchaus diskutiert. Im Kern läuft es wieder auf die relativistische Machtfrage zu, es ist also eine Frage der Deutungshoheit. Wer keine Menschenwürde besitzt, darf ohne Sanktionen bestraft oder ausgelöscht werden. Die Menschenwürde ist so etwas wie ein zivilisatorischer Schutzwall gegen die Willkür von Gewalt. Sie ist gerade mit Blick auf die Genozide des 20. Jahrhunderts immer hochgehalten worden. In dem Moment, in dem die Armenier, die Juden oder die Tutzi nicht mehr als Menschen im vollen Sinn gelten, wird ihre Vernichtung gerechtfertigt. Eine menschenwürdige Behandlung ist nicht mehr nötig. Da sich aber wahrscheinlich jeder Mensch ein Lebensrecht und damit auch eine Würde zuschreibt, ist die Menschenwürde aus Sicht des Einzelnen ein absoluter Wert und gilt auch universal. Es kann sein, dass es eine Welt gibt, in der wir eine solche Selbstzuschreibung für nicht gerechtfertigt annehmen und die Menschenwürde einigen Menschen zu- anderen aberkennen, bzw. in einer Welt leben, in der uns die Menschenwürde heute zu- und morgen abgesprochen werden kann. Aber wer möchte in dieser Welt leben? In dem Augenblick, in dem wir uns von einer universellen Anerkennung der Menschenwürde verabschieden, werden alle gängigen ethischen Vorstellungen über Bord geworfen. Es gilt dann kein Tötungsverbot mehr, kein Recht auf körperliche Unversehrtheit, kein Recht auf freie Selbstentfaltung, keine Meinungsfreiheit, kein Diskriminierungsverbot. Wir würden in einer Diktatur leben, in der Menschrechte frei verhandelbar und von den Herrschenden zugeteilt würden.
Mein Argument gegenüber den Konstruktivisten ist ein rein pragmatisches. Es gibt auch für sie äußerst evidente Gründe, die Menschenwürde als universale ethische Norm anzuerkennen, selbst wenn ihre Herkunft offen bliebe. Das Christentum kennt das Wort „Menschenwürde“, schaut man in die Bibel, so nicht. Es ist ein Wort aus einer späteren Zeit. Wir dürfen uns also von den Worten nicht irreleiten lassen. Das Prinzip der Menschenwürde, wie es sich etwa im Gebot der Nächstenliebe oder der Feindesliebe ausdrückt, ist aber sehr wohl vorhanden. Es mag sein, dass eine religiöse Begründung der Menschenwürde aus der Ebenbildlichkeit Gottes heraus für Nichtgläubige unverständlich ist. Im Kern aber, so meine Überzeugung, kommt keine verantwortungsvolle Ethik ohne die Voraussetzung dieser menschlichen Universalie aus. Sie ist Grundbedingung für moralische Handlungsimperative. Wie weit diese ausgelegt und verpflichtend gemacht werden, ist Aufgabe der Gesellschaft, des Rechtes und der Politik. Sie haben die schwere Bürde, das Konzept der Menschenwürde unter den jeweiligen Bedingungen der Zeit auszubuchstabieren, ohne allerdings ihren Kerngehalt zu verletzen. Auf dieser Basis kann man, so meine, auch heute noch Moral begründen.
Hallo Probst Bergner, der Eintrag war sehr interessant, schien mir allerdings nicht das eigentliche Problem der heutigen bzw. der zukünftigen Zeit zu adressieren. Einfach zu sagen, dass das Konzept von Menschenwürde alle unsere Probleme lösen würde scheint mir von nur geringer Überzeugungskraft denn auch, wenn es nicht direkt religiös ist, sich doch sehr wohl aus einem religiösen Ursprung entwickelt hat. Das heißt nicht, dass es direkt verworfen wird oder werden würde, denn es bietet den Leuten Schutz, den sie ohne es nicht unbedingt erhalten würden. Falls aber dieser Schutz irgendwann nicht (mehr) nötig sei, hätte auch das Konzept sehr schnell seinen utilitaristischen Wert verloren und würde neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen (z.B. Designer-Babys etc.) Ein Land, was dieser dystopischen Möglichkeit momentan unangenehm nahe kommt scheint mir China zu sein.
Meine Frage lautet also, wie können wir als Christen oder auch nicht-Christen in Europa, die die gleichen Werte haben mit anderen Kulturen, wie z.B. der Chinesischen umgehen und in einen produktiven Diskurs eintreten, wenn die Grundprinzipien nicht vorhanden sind? Danke für Ihre Zeit.
Mit freundlichen Grüßen
Benedikt
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