Wie kann man Moral begründen? – Teil 2

Nachdem im ersten Teil dieses Textes zur Frage der Begründbarkeit ethischer Normen das Naturrecht und seine Varianten diskutiert wurden, sollen nun drei aktuellere philosophische Ansätze vorgestellt werden, der Positivismus, der Konstruktivismus und die Diskursethik.

3. Positivistisches Denken

In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag weist Papst Benedikt bei der Begründung von Recht und Moral auf eine Entwicklung hin, die ihm Sorge bereitet:

„Der Gedanke des Naturrechts gilt heute als eine katholische Sonderlehre, über die außerhalb des katholischen Raums zu diskutieren nicht lohnen würde […]. Ich möchte kurz andeuten, wieso diese Situation entstanden ist. Grundlegend ist zunächst die These, dass zwischen Sein und Sollen ein unüberbrückbarer Graben bestehe. Aus Sein könne kein Sollen folgen, weil es sich da um zwei völlig verschiedene Bereiche handle. Der Grund dafür ist das inzwischen fast allgemein angenommene positivistische Verständnis von Natur und Vernunft. Wenn man die Natur – mit den Worten von H. Kelsen – als „ein Aggregat von als Ursache und Wirkung miteinander verbundenen Seinstatsachen“ ansieht, dann kann aus ihr in der Tat keine irgendwie geartete ethische Weisung hervorgehen. Ein positivistischer Naturbegriff, der die Natur rein funktional versteht, so wie die Naturwissenschaft sie erklärt, kann keine Brücke zu Ethos und Recht herstellen, sondern wiederum nur funktionale Antworten hervorrufen. Das gleiche gilt aber auch für die Vernunft in einem positivistischen, weithin als allein wissenschaftlich angesehenen Verständnis. Was nicht verifizierbar oder falsifizierbar ist, gehört danach nicht in den Bereich der Vernunft im strengen Sinn.“

Was sich bei Kant schon angedeutet hatte, ist nach Meinung Benedikts mittlerweile allgemein akzeptiert. „Sein“ und „Sollen“ können voneinander getrennt werden. Thomas von Aquin hatte in der Natur und damit auch im Menschen eine natürliche Ordnung und ein Ziel gesehen, das ihnen durch den Schöpfergott gegeben wurde. Die Natur ist nicht einfach eine Ansammlung von Dingen, sondern sie hat ein inneres Streben zum Guten. Man kann also aus der Beobachtung der Natur (Sein) ableiten, was gut oder richtig ist (Sollen). Wenn ich nicht mehr glaube, dass dies der Fall ist, kann ich die Natur nur noch (wissenschaftlich) beschreiben. Sie spricht aber in ethischer Hinsicht nicht mehr zu mir. Die Moral entwickelt sich dann allein aus dem menschlichen Nachdenken. Ein klassisches Beispiel ist die Grundfrage menschlichen Zusammenlebens. Nach Naturrechtslehre kann aus der Beobachtung, dass aus der Verbindung von Mann und Frau neues menschliches Leben entsteht, geschlossen werden, dass dies in der Schöpfungsordnung angelegt ist. Es ist also gut, die Verbindung von Mann und Frau anzustreben und zu fördern. Andere, unfruchtbare menschliche Verbindungen sind dann „unnatürlich“. In der Übersetzung des Naturrechts wird der Staat also bestrebt sein, die Familie (verstanden als Vater, Mutter, Kinder) unter seinen besonderen Schutz zu stellen. Fallen „Sein“ und „Sollen“ auseinander, ist das so nicht mehr möglich. Ich kann zwar die Entstehung neuen Lebens aus der Verbindung von Mann und Frau als biologische Tatsache feststellen, für mein Handeln und das Handeln der Gesellschaft ergibt sich daraus aber noch keine ethische Bewertung dieses Faktums. Eine Ethik der Familie und damit handlungsleitende Maßnahmen in diesem Bereich müssen sich dann aus anderen Quellen speisen. Wenn ich nicht mehr mit der „natürlichen Schöpfungsordnung“ argumentieren kann, brauche ich philosophische, wissenschaftliche, psychologische oder pragmatische Gründe, um eine besondere Stellung der „klassischen“ Familie zu begründen. Das Beispiel zeigt, blickt man auf die Diskussionen um gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Adoptionsrecht, künstliche Befruchtung und Leihmutterschaft, wie schwierig es ist, moralische Normen zu begründen, wenn das Naturrecht als Begründungsquelle ausfällt.

Der Papst nennt diese Denkrichtung „positivistisch“. Der Positivismus ist eine philosophische Denkrichtung. Er folgt dem Grundsatz, dass sich Erkenntnisse nur aus „positiven“, d.h. beweisbaren Fakten ableiten dürfen. Dies klingt sehr wissenschaftlich. In der Geschichte des Positivismus haben wir es aber nicht immer mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu tun. Der Begründer des Positivismus, Auguste Comte (1798-1857), etwa entwickelte eine Geschichtsphilosophie aufgrund einer von ihm als wissenschaftlich eingestuften Erkenntnis über notwendige Abläufe in der menschlichen Geschichte. So etwas würden wir heute eher als Spekulation betrachten. In der Rechtsphilosophie traten die Positivisten für das sogenannte „positive Recht“ ein. Das bedeutet, dass es für das Recht keine „höhere“ Legitimation, etwa durch religiöse Überzeugungen geben kann. Recht kann nur von den Menschen selbst unter pragmatischen Gesichtspunkten gestaltet werden. Bei den Positivisten im Bereich der Naturphilosophie handelt es sich meist um „Materialisten“. Sie erkennen in der Natur, wie oben bereits angedeutet, keinen tieferen Sinn oder Zweck.

Ich möchte an dieser Stelle kurz auf den österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889-1951) eingehen. Er ist im strengen Sinn wohl kein Positivist, bereitet aber dem positivistischen Denken aber an vielen Stellen den Weg. Wittgenstein beschäftigt sich mit der Sprache und der Logik. In seinem Meisterwerk „Tractatus logico-philosophicus“ versucht gewissermaßen, die Sprache neu zu ordnen. Er stellt fest, dass unsere Sprache häufig unlogisch ist. Sie beschreibt nicht exakt, was der Fall ist. Vielmehr verwirrt sie uns häufig. Sie spricht von Dingen oder Zusammenhängen, als ob sie wirklich da wären. Sie verwendet Bilder und Metaphern. Bei Wittgenstein richtet sich das Unbehagen gegen philosophische oder metaphysische Sätze. Wenn etwa vom philosophischen „Ich“ die Rede ist, vom „Weltgeist“ oder auch von „Gott“ – was soll damit gemeint sein? Ein Ziel wäre es daher, klar sagen zu können, was gemeint ist, also exakt zu sprechen. Es müsste ein streng logisches Sprachsystem geben. Der letzte Satz des „Tractatus“ heißt daher: „Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man schweigen.“[1]

Das bedeutet nicht, dass Wittgenstein nicht an Gott glaubt. Es bedeutet auch nicht, dass es für ihn keine Ethik gibt.[2] Es ist für ihn nur unmöglich, darüber klar zu sprechen. Das „Unaussprechliche“ ist für ihn das „Mystische“[3]. Es geht, wie Wittgenstein in seinem „Vortrag über Ethik“ von 1929 sagt, um Dinge, die wir nicht sprachlich fassen können, die aber da sind, etwa wie das Gefühl schuldig zu sein. Glaubensfragen und moralische Fragen sind also von ganz anderer Art als die Dinge der Weltbeobachtung und Logik. Da sie allerdings nicht adäquat sprachlich ausgedrückt werden können, haben sie zunächst einmal eine Gültigkeit „nur für mich“. Sie sind auf eine nicht näher zu bestimmende Weise Teil meines Weltbilds. Wittgenstein schreibt:

„Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.“[4]

Wittgensteins Philosophie ist ziemlich komplex und hat im Laufe der Zeit einige Veränderungen erfahren. Für die Frage der Begründung von Moral kann man kurzgefasst festhalten: Auf der einen Seite denkt Wittgenstein positivistisch. Er möchte nur logisch beweisbare Aussagen als allgemein gültig gelten lassen. Aussagen darüber, was gut oder schlecht ist, gehören nicht dazu. Sie haben kein logisches Fundament, sondern speisen sich aus einer anderen Quelle. Diese Quelle ist allerdings nicht allgemein zugänglich. Weil ich über ethische Fragen keine allgemein gültigen Aussagen treffen kann, lässt sich auch die Moral nicht allgemeingültig begründen. Ich kann keine logischen Gründe dafür angeben, warum ein bestimmtes Verhalten gut ist. Gleichzeitig habe ich aber in den ethischen Fragen so etwas wie einer innere Überzeugung, ein Gefühl, eine „mystische Einsicht“. Sie hat etwas mit der Art und Weise zu tun, wie ich die Welt sehe, erfahre und wahrnehme. Der Grund für moralisches Handeln liegt also in meinem Inneren. Moralische Vorstellungen kann ich im letzten nur begründen, weil ich es so fühle oder meine. Dabei lässt Wittgenstein offen, ob es sich bei diesem moralischen Empfinden um etwas handelt, was bei allen Menschen gleich ausgeprägt ist, oder ob es streng individuell zu verstehen ist. Eine rationale Verständigung über Grundlagen der Ethik ist somit ausgeschlossen. Damit weist Wittgenstein den Weg zu einer Moralauffassung, die vielleicht heute am häufigsten zu finden ist. Es geht um ein konstruktivistisches oder auch relativistisches Denken.

4. Konstruktivismus

Ein guter Freund erzählte mir neulich die folgende Begebenheit: Er hatte in einen Abend in einer Hochschulgemeinde gestaltet. Es sollte ein Diskussionsabend über das Frauenpriestertum sein. Er hatte erwartet, dass es zu einem Schlagabtausch von Argumenten für und gegen die Zulassung von Frauen zu Priesterweihe kommen würde. Stattdessen geschah etwas anderes. Die Studierenden hielten die ganze Fragestellung für überflüssig. Dies geschah nicht etwa deswegen, weil man die Forderung nach dem Frauenpriestertum als selbstverständlich gerechtfertigt ansah, sondern, weil es nach Meinung der Diskutierenden ohnehin keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen gebe. Wenn es nach herkömmlichen Verständnis keine Männer oder Frauen gibt, also keine Unterscheidung der Geschlechter, macht es tatsächlich keinen Sinn, über spezifische Frauenfragen zu sprechen. Es gibt dann keine spezifischen Frauenfragen. (Dass die Studenten damit auch gleichzeitig den Feminismus ad absurdum geführt haben, war ihnen möglicherweise nicht bewusst.)

Was war dort passiert? Im universitären Bereich, in dem der Abend stattfand, waren die Studierenden offensichtlich Anhänger einer konstruktivistischen Theorie. Der Konstruktivismus dürfte wohl besonders in ethischen Fragen heute die am weitesten verbreitete Philosophie sein.[5] Seine Grundthese ist: Es gibt keine Tatsachen unabhängig von ihrer Beschreibung. Damit gehen Konstruktivisten weiter als die Positivisten. Diese hatten ja behauptet, es gebe keine Tatsachen, die nicht wissenschaftlich erfasst werden können. Die Konstruktivisten sagen: Auch, was wissenschaftlich erfasst ist, ist nicht objektiv. Vielmehr ist auch die wissenschaftliche Beschreibung nur eine Art, die Dinge der Welt zu deuten und zu beschreiben. Wir Menschen machen durch unsere Sprache und unsere Logik nichts anderes, als die Welt zu ordnen. Wir geben den Dingen Namen, entwickeln Theorien und zeigen bestimmte Zusammenhänge auf. Kurz: Wir konstruieren die Welt. Dies betrifft auch die Naturwissenschaften. Der französische Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour (geb. 1947) zeigt die scheinbar streng objektive Wissenschaft als einen Zusammenhang verschiedenster Faktoren. Ein prominentes Beispiel ist für ihn die Entdeckung der Mikroben durch Pasteur[6]. Der Forscher profitiert von technischen Geräten, wirtschaftlichen Faktoren, Leitinteressen oder Deutungsmustern. Er entdeckt nicht einfach etwas, was da ist, sondern er deutet etwas, das er vermutet und meint im Experiment nachweisen zu können. Latour fragt: „Wo waren die Mikroben vor Pasteur?“ und antwortet: Sie waren nicht da. Das scheint unsinnig zu sein, schließlich gab es etwas, was Pasteur als Mikroben identifiziert ja schon immer. Aber im strengen Sinne wurde dieses „Etwas“ erst durch Pasteurs Entdeckung zur Mikrobe. Es hätte sein können, dass ein anderer Wissenschaftler ebenfalls auf dieses „Etwas“ aufmerksam wird, es aber völlig anders deutet, einsetzt und benennt. Dann gäbe es heute keine Mikroben, sondern etwas anderes. Mit anderen Worten: Auch die Wissenschaft konstruiert ihre scheinbar objektiven Erkenntnisse. Sie ist Produzentin einer Wirklichkeit, einer Art, wie wir die Welt beschreiben. Es gibt also Weltbilder (z.B. ein naturwissenschaftliches Weltbild) in der bestimmte Beschreibungen Sinn machen und „funktionieren“.

Die Konstruktivisten arbeiten sich also an der Weltbeschreibung ab. Das ist ein sehr faszinierendes Geschehen. Sie benutzen als Mittel die „Dekonstruktion“. Das bedeutet, sie hinterfragen die Art und Weise, wie die Welt im Allgemeinen gedeutet wird und bauen die Bausteinchen eines Weltbildes auseinander (dekonstruieren), um anschließend alternative Weltbilder aus diesen nun lose gewordenen Bausteinchen aufzubauen (konstruieren). Eine der bekanntesten konstruktivistischen Thesen (und jetzt sind wir wieder bei der Diskussion in der Hochschulgemeinde), ist die Gender-Theorie. Diese u.a. von Judith Butler (geb. 1956) entwickelte Theorie folgt der klassischen Vorgehensweise von Dekonstruktion und Konstruktion.[7] Das klassische (naturrechtlich abgesicherte) Bild der Geschlechter war: Es gibt Männer und Frauen. Für diese Annahme gibt eine Menge Gründe, auf die hier nicht näher eingegangen werden muss. Im Kern ruht die Unterscheidung (positivistisch) auf klaren naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, etwa, dass Frauen und Männer Unterschiede in ihrem Chromosomensatz aufweisen (XY,XX). Butler meldet nun konstruktivistische Zweifel an: Könnte es nicht sein, dass die Unterscheidung von Männern und Frauen etwas mit unserem Weltbild zu tun hat? Könnte es nicht auch eine alternative Beschreibung der Geschlechter geben? Die Gender-Theorien behaupten, dass es zwar einen biologischen Unterschied zwischen Männern und Frauen gibt. Daraus haben sich aber Rollenbilder und soziale Merkmale entwickelt, die rein konstruiert sind. Man muss also die Natur („sex“), von der sozialen Rolle der Geschlechter („gender“) trennen. Im Grunde ist das erst einmal eine klassische positivistische Position: Aus der Natur kann ich keine Schlussfolgerungen für die Ethik ziehen. Aber die Gender-Theorien gehen noch weiter. Es gibt Grenzfälle, an denen auch biologisch keine klare Grenze zwischen männlich und weiblich gezogen werden kann. Man kann also anhand des Chromosomensatzes bei einer (sehr kleinen) Zahl von Menschen das biologische Geschlecht nicht zuordnen. Naturrechtlich gesehen wird dieses Faktum so beurteilt: In der Regel gibt es männlich und weiblich. Dazu gibt es aber seltene Abweichungen. Diese sind „unnormal“, d.h. sie entsprechen nicht der Norm und sind als Sonderfälle zu behandeln. In der Gender-Theorie geht so etwas nicht: Zeigt nicht die biologische Variation gerade, dass unsere herkömmlichen Normvorstellungen von männlich und weiblich nicht funktionieren? Sollte man diese Norm nicht ganz aufgeben und auf Zuordnungen der Geschlechtlichkeit ganz verzichten? Die Frage der Geschlechter erhält somit einen neuen Bezugsrahmen, ein neues Weltbild:  Es gibt dann nicht mehr zwei Geschlechter, sondern es gibt keine normierten Geschlechtlichkeiten mehr. Deshalb muss niemand mehr ein Mann- oder Frau-Rolle annehmen, sondern kann seine eigene Geschlechtlichkeit selbst definieren. Fällt die ursprüngliche Norm, gibt es streng genommen keine Männer und Frauen mehr, sondern eine Vielfalt geschlechtlicher Identitäten. In einer solchen Welt der Vielfalt gelten dann auch andere moralische Normen. So sind beispielsweise alle Partnerschaften zwischen Menschen anzuerkennen, weil es keine heterosexuelle Norm mehr gibt. Ähnliches gilt dann für die Fragen von Familie oder Elternschaft. Radikale Zweige der Gender-Theoretiker(-innen) würden auch die Monogamie oder das Inzestverbot entsprechend hinterfragen. Ein solches neues Weltbild erfordert eine neue Moral.

Das Beispiel zeigt, wie der Konstruktivismus arbeitet. Ethische Normen ergeben sich aus Weltbildern. Weltbilder sind menschlich konstruierte Sicht- und Beschreibungsweisen der Welt. Es gibt damit keine universellen ethischen Grundsätze mehr. Es kann lediglich sein, dass bestimmte ethische Grundsätze in verschiedenen Weltbildern die Gleichen sind (etwa, dass das Tötungsverbot in verschiedenen Weltbildern akzeptiert ist). Populär äußert sich der Konstruktivismus, der zugleich ein ethischer Relativismus ist, in der Aussage:

Ich sehe das (ethische Problem x) so, du siehst es so. Wir haben beide unser Weltbild, in dem unsere jeweilige Haltung Sinn macht.

Damit gilt auch:

Ich kann dich für deine Haltung nicht kritisieren, denn sie folgt einer anderen Logik. Ich kann dir lediglich sagen, dass ich dein Weltbild für falsch halte.

Als gewissermaßen universale ethische Forderung bleibt noch bestehen:

Ich greife dir nicht in deine Freiheit ein, die Dinge so zu sehen, wie du sie siehst. Ich zwinge dich nicht, meine Haltung zu übernehmen, sonst könnte man ja auch mich zwingen, eine andere Haltung zu übernehmen.

Befragt man Jugendliche nach moralischen Urteilen bekommt man meist Antworten, die diesen Aussagen inhaltlich entsprechen. Die Vorstellung, für eine bestimmte Haltung kritisiert zu werden, wird abgelehnt. Schließlich müsste eine Kritik unter „Wahrheitsanspruch“ erfolgen. Es müsste also eine Haltung geben, die universal gültig ist. Die kann es aber nicht geben, weil auch sie nur Teil eines bestimmten Weltbildes wäre. Hier allerdings beginnen die Probleme.

5. Die Probleme des Konstruktivismus

Der Konstruktivismus endet in einem ethischen Relativismus. Das ist zunächst eine bequeme Position. Moralisch ist, was ich oder meine Gruppe als moralisch anerkenne und zulasse. Es gilt nämlich nicht:

Das Verhalten x ist moralisch richtig.

Vielmehr gilt im Konstruktivismus:

Das Verhalten x ist in dem Weltbild, das ich teile, richtig.

Was passiert aber, wenn es zu Konflikten kommt? Ein strenger ethischer Relativismus müsste sagen:

Das Verhalten x ist in dem Weltbild, das ich teile richtig. In dem Weltbild einer anderen Gruppe ist es nicht richtig, auch wenn ich mir vielleicht wünschen würde, dass es anders wäre.

Es lässt sich für den Relativisten nicht ermitteln, was für alle Menschen das Richtige wäre. Er klammert die Wahrheitsfrage aus. Es gibt keine universellen moralischen Richtlinien, weil jede Richtlinie nur unter den Voraussetzungen eines bestimmten Weltbilds gilt. Dies ist zur Zeit eine beliebte Argumentation in den sog. postkolonialen Debatten. Die (durchaus begründete) These ist: Die Kolonialmächte haben ihren Kolonien in Afrika oder Amerika ihr Weltbild aufgezwungen. In Verantwortung vor der Freiheit und Selbstbestimmung der dortigen Menschen müssen wir akzeptieren, dass diese ihr Leben nach anderen religiösen oder ethischen Prinzipien geordnet haben. Man darf also die Praxis fremder Völker aus Wertschätzung für deren eigene Kultur nicht kritisieren.

In der Praxis lässt sich der ethische Relativismus nicht durchhalten. De facto lässt sich der Wahrheitsanspruch nicht ausklammern. Vergleichen Sie einmal folgende Beispiele:

Beispiel 1: Vor einigen Monaten berichteten die Medien über einen selbsternannten christlichen Missionar, der den Versuch unternahm, bei dem noch ursprünglich lebenden Volk der Sentinelesen, die auf Inseln im indischen Hoheitsgebiet leben, zu missionieren. Er wurde durch die Ureinwohner bei seiner Ankunft getötet.[8]

Beispiel 2 (fiktiv): Ein Mitarbeiter von „Amnesty International“ reist illegal nach Nordkorea ein und organisiert im Untergrund Seminare über Menschenrechte und Demokratie. Er wird dabei verhaftet, zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Für Beispiel 1 würde ein Konstruktivist geltend machen, dass der Versuch der Missionierung, also der Einschleusung eines westlich orientierten religiösen Weltbilds unzulässig ist, da die Autonomie der Weltbilder gewahrt bleiben muss (in dieser Weise äußerte sich auch die Gesellschaft für Bedrohte Völker). Gilt das aber auch für Beispiel 2? Die Ausgangslage ist die gleiche. Ein Agent der westlichen Gesellschaft, versucht, das geschlossene Weltbild eines steinzeitkommunistischen Systems zu unterlaufen. Im Fall des zweiten Beispiels wären die Reaktionen aber ganz andere. Der Gedanke der moralischen Autonomie der nordkoreanischen Gesellschaft würde in den Kommentaren nicht auftauchen. Vielmehr würde der Versuch der Weltbildveränderung einhellig begrüßt werden. Auch unter der Maßgabe des Konstruktivismus unterscheiden wir in moralischer Hinsicht ganz offensichtlich zwischen guten und schlechten Weltbildern. Diese Wertung ist allerdings philosophisch gesehen gar nicht möglich. Ich kann nicht mehr sagen als:

Ich würde mir wünschen, dass das, was in meinem Weltbild moralisch richtig ist, auch in anderen Weltbildern gilt.

Da es aber (anders als im Naturrecht oder bei Kant) keinen universalen Wahrheitsanspruch für ethische Normen geben kann, kann ich diesen auch nicht geltend machen. Das einzige, was ich in dieser Sicht tun kann, ist, andere von der Richtigkeit meines Weltbilds zu überzeugen. Das ist exakt, was auch geschieht. De facto handeln auch Relativisten häufig so, als würde der Kategorische Imperativ für sie gelten. Eine kleine Stichprobe in meiner facebook-timeline reicht aus, um zu sehen, dass Verfechter einer liberalen Demokratie (incl. Klimaschutz und Gender-Gerechtigkeit) andere Weltbilder nicht als gleichwertig akzeptieren. Im Gegenteil: Es lässt sich doch eher ein Kampf der Weltbilder beobachten. Die liberalen Demokraten bekämpfen das Weltbild von Wirtschaftsliberalen, konservativen Christen, Nationalisten, Salafisten, Monarchisten oder orthodoxen Juden. Der Konstruktivismus gleitet immer in einen Kampf ab. Da gesellschaftliche Normen soziale Konstruktionen sind, gilt der Kampf denen, die gesellschaftliche Normen verteidigen, die nicht dem eigenen Weltbild entsprechen. In der Sprache von Michel Foucault, dem vielleicht einflussreichsten Konstruktivisten, geht es immer um die „Diskursmacht“. Der Diskurs ist der Weg, auf dem sich ein Weltbild verbreitet und gegen andere durchsetzt. An die Stelle allgemeingültiger ethischer Prinzipien tritt das Recht des Stärkeren. Das hat weitreichende Folgen. Gibt es keine ethischen „Universalien“, kann derjenige, der die Macht hat, seine ethischen Vorstellungen anderen vorgeben. Die liberalen Demokraten gehen immer davon aus, dass sie im Machtkampf gewinnen werden – wie allerdings ist es, wenn stattdessen die Befürworter eines nationalistischen Weltbilds die Oberhand gewinnen, wie in den USA passiert? Sollte es keine universalen ethischen Maßstäbe geben, auf die man sich berufen kann, sondern alles nur „relativ“ und „sozial konstruiert“ sein, kann eine Veränderung nur durch Umkehrung von Machtzuständen erreicht werden.

6. Diskursethik

Gibt es Alternativen zum Kampf der Weltbilder? Müssen ethische Normen, die als konstruiert angesehen werden zwangsläufig dem Recht des Stärkeren gehorchen? Die deutschen Philosophen Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas haben in den 70er Jahren ein anderes Modell entwickelt. Sie gehen zunächst einmal davon aus, dass Menschen unterschiedliche Auffassungen und Weltbilder haben. Gerade in moralischen Fragen, die häufig kulturell bedingt beantwortet werden, kann es zu unterschiedlichsten Positionen kommen. Trotzdem müssen einige Fragen für Gemeinschaften, mithin sogar für die Weltgemeinschaft geklärt werden. Wie kann man zu einer Verständigung gelangen? Apels und Habermas’ Antwort ist im Kern ziemlich einfach: Wir müssen diese Fragen diskutieren und uns einigen. Das hört sich einfach an. Die entscheidenden Fragen sind nur: Wer muss diskutieren? und: Wie soll eine Einigung aussehen?

In der Diskursethik geht es um ein kommunikatives Handeln.[9] Das Ziel ist, in einer bestimmten Frage eine Einigung zu erzielen. Dabei sollen alle Beteiligten und alle Lösungsansätze miteinander ins Gespräch gebracht werden. Der Diskurs muss gewaltfrei sein, d.h. Ansprüche einzelner Gruppen dürfen nicht mit Macht oder Autorität durchgesetzt werden. Die Diskutanten sollen wahrhaftig sprechen, also nicht taktisch handeln. Sie sollen sich der Wahrheit verpflichtet wissen, was auch bedeutet, die Wahrheitsansprüche der anderen zu achten und in ihren Positionen Wahrheit erkennen. Es kann also nicht bloß darum gehen, den anderen von meiner Position überzeugen zu wollen. Die Diskursteilnehmer sollen füreinander verständlich reden und sich an gemeinsam akzeptierte Regeln des Diskurses halten. Ein solcher Diskurs würde in einer „idealen Kommunikationsgemeinschaft“ stattfinden.

Damit ist schon klar, dass es sich um ein utopisches Programm handelt. Einzelne Diskurse können sich der „idealen Kommunikationsgemeinschaft“ nur annähern. Nach Habermas gibt es zwei Regeln: Die erste Regel besagt, dass eine im Diskurs vereinbarte Norm die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer(-innen) des Diskurses trifft oder zumindest treffen kann. Die zweite Regel ist das Universalisierungsprinzip. Es besagt, dass die Folgen und Nebenwirkungen einer Norm und ihrer Anwendung von allen Betroffenen akzeptiert werden können. Wenn man so will, reformuliert Habermas den kategorischen Imperativ, nachdem moralische Entscheidungen so getroffen werden sollen, dass sie als allgemeine Regel für alle gelten könnten. Quelle der Entscheidung ist nun nicht mehr der Einzelne und sein Gewissen, sondern der Diskurs. Es gibt also in der Diskursethik zwei (technische) Universalprinzipien, die alle einhalten müssen. Damit ist wiederum ein schwieriger Punkt genannt. Wenn die Universalprinzipien als Minimalanforderung nicht anerkannt werden, ist der Diskurs nicht möglich. Der französische Philosoph Francois Jullien hat kürzlich eingewandt, dass die von Habermas aufgestellten Prinzipien für einen kulturübergreifenden Diskurs bereits zu anspruchsvoll sind, da sie einer europäischen Denktradition verhaftet bleiben. Jullien setzt daher die Anforderungsbedingungen herunter und plädiert dafür, dass allein die Tatsache, dass wir uns über Dinge verständigen können als Grundlage für den Diskurs gelten kann.[10]

Trotz dieser Schwierigkeiten darf man, glaube ich, den Ansatz der Diskursethik nicht gering schätzen. Sie öffnet eine Chance auf eine universelle Verständigung und versucht positiv, den relativistischen „Kampf der Weltbilder“ zu vermeiden. Man kann vielleicht mit gutem Willen sagen, dass die Erklärung der Menschrechte auf dem Boden eines solchen Diskurses erfolgt ist. Habermas gelangt aber auch hier im letzten zu einer Konsequenz, die schon in der Betrachtung vorheriger philosophischer Systeme in der Luft lag: Ganz ohne universale Prinzipien geht es offenbar nicht. Die Beantwortung ethischer Fragen braucht ein gewisses Maß an Allgemeingültigkeit. Wie ein solcher, allein schon aus praktischen Gründen vernünftiger Ansatz aussehen könnte, versuche ich nächsten Abschnitt zu skizzieren.


[1] Wittgenstein, Ludwig, Werkausgabe Bd.1, 85. Tractatus, Nr. 7.

[2] S. hierzu Vossenkuhl, Wilhelm, Ludwig Wittgenstein, München 1995, 293-301.

[3] S. Tractatus, Nr. 6.522.

[4] Wittgenstein, Über Gewissheit, Nr. 94, Werkausgabe Bd. 8, 139.

[5] Zur Darstellung des Konstruktivismus und des Relativismus war mir eine gute Hilfe: Boghossian, Paul, Angst vor der Wahrheit, Frankfurt 2019 (2013).

[6] Latour, Bruno, Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt, 2002, 137-209.

[7] Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt 2017 (1991).

[8] https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Missionar-getoetet-Streit-um-Umgang-mit-Urvoelkern,missionar100.html

[9] S. für das Folgende die Darstellung der Diskursethik in: Kehl, Medard, Die Kirche, Würzburg 2001 (1992), 140-147.

[10] S. Jullien, Francois, Es gibt keine kulturelle Identität, Frankfurt 2018 (2017), 83-96.

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