Es war ein Bild wie aus vergangenen Zeiten. Nach der Abstimmung über das Grundlagenpapier zur Sexualmoral und dessen Nicht-Annahme stellten sich Delegierte des Synodalen Weges Schulter an Schulter in einem Kreis zusammen. In der Mitte hielt eine Teilnehmerin ein Plakat mit der Aufschrift „Kein Raum für Menschenfeindlichkeit“ in die Höhe. Der Protest gegen die Ablehnung des Papiers durch einen Teil der Bischöfe erinnerte an die Proteste auf dem Katholikentag in Essen von 1968, der zu einer Demonstration gegen die kurz zuvor erschienene Enzyklika „Humanae Vitae“ geriet. Damals hatte Papst Paul VI. in die Diskussion um sexualethische Fragen eingegriffen und mit höchster Verbindlichkeit das Verbot künstlicher Verhütungsmethoden verkündet. Nun hat der ewige Streit um die Sexualmoral wieder einen öffentlichkeitswirksamen Höhepunkt erreicht. Berichten zufolge herrschte im Versammlungsraum des Synodalen Weges weitgehend Entsetzen. Tränen sollen geflossen sein und im Schwall der social-media-Kommentare wurde nicht mit Superlativen gegeizt. Die katholische Kirche bliebe nun einmal ein menschenverachtender Verein, stand dort zu lesen und man befürchtete nicht weniger als das Ende der Kirche. Mit etwas weniger Schaum vor dem Mund und außerhalb der gruppendynamischen Prozesse im Frankfurter Messesaal darf man durchaus etwas gelassener sein. Was war passiert? Der Synodale Weg hatte sich selbst demokratische Spielregeln verordnet, in denen festgelegt war, dass die Beschlüsse der Versammlung mit einer doppelten 2/3-Mehrheit gefällt werden müssen. Dies bedeutet, dass sowohl 2/3 aller Delegierten, als auch 2/3 der Bischöfe zustimmen müssen, um einen der vorbereiteten Texte zu ratifizieren. In der Abstimmung über den Text zur Neubestimmung sexualmoralischer Bewertungsmaßstäbe ergab sich nun, dass mehr als 80% der Delegierten zustimmten, allerdings nur 61% der anwesenden Bischöfe. Der Text war somit knapp gescheitert. So etwas kommt in demokratischen Prozessen vor. Offensichtlich war das Papier doch nicht ausreichend konsensfähig. Wo der handwerkliche Fehler im Vorfeld der Versammlung gelegen hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Eigentlich ist es spätestens seit dem II. Vatikanischen Konzil guter Brauch, Texte so lange zu verhandeln, bis eine weitgehend einmütige Zustimmung erfolgen kann. Möglicherweise war man von Seiten der Versammlungsleitung zu sehr ins Risiko gegangen. Zudem standen die „Abweichler“ von vorneherein unter einem immensen Druck, wie der Passsauer Bischof Stefan Oster in einem in Vorfeld erschienenen Artikel zu verstehen gab. Nicht jeder von ihnen wird sich öffentlich im Vorfeld zu seinem Abstimmungsverhalten geäußert haben. Gerade der Grundlagentext zur Sexualmoral wurde im Vorfeld zum zentralen Test für die Reformfähigkeit der Kirche stilisiert. Das das Papier überhaupt die Zustimmung einer Mehrheit der Bischöfe erhielt ist erstaunlich genug, bedeutet es doch in weiten Teilen eine deutliche Richtungsänderung von der seit Jahrzehnten verfolgten offiziellen lehramtlichen Verkündigung. Ich möchte weder in das Triumphgeheul über die Ablehnung des Textes einstimmen, wie es aus einigen Kreisen zu vernehmen war, noch möchte ich annehmen, dass die Bischöfe, die gegen das Papier stimmten, aus niederen Motiven „die Menschenrechte mit Füßen treten“ wollten oder die Kirche „in den Abgrund führen“. Ich möchte eher einmal anhand des Textes zeigen, wo die Beweggründe für seine Nicht-Annahme gelegen haben können.
Der in Frankfurt vorgelegte Text trägt den Titel „ „Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft“.[1] In ihm geht es um eine Neubestimmung des kirchlichen Standpunktes in sexualmoralischen Fragen. Zunächst einmal wird man allgemein sagen dürfen, dass der Text gut gemacht ist, d.h. er argumentiert stringent, stellt an einigen Stellen abweichende Meinungen aneinander gegenüber und schafft es trotzdem, eine Grundlinie erkennen zu lassen. Er ist nicht polemisch gegen das Lehramt gerichtet, auch wenn er seine Infragestellung und teils Ablehnung gegen geltende sexualmoralische Grundaussagen deutlich macht und versucht, die eigenen Positionen argumentativ und biblisch fundiert zu begründen. Einem Leser, der mit den theologischen Diskussionen rund um das Thema „Sexualmoral“ nicht tiefer vertraut ist, wird Vieles im vorgelegten Papier als schlüssig, teils auch als selbstverständlich erscheinen. Die hohe Zustimmung bei der Gesamtzahl der Delegierten überrascht nicht. Für einige von ihnen dürfte der Text eher einen Minimalkonses abbilden, auf den sich (wenigstens) alle Katholiken verständigen können müssten.
Im Kern geht es um eine Anerkennung heute gesellschaftlich, zumindest akademisch gängiger Grundsätze in der Beurteilung sexualethischer Fragen. Der Text nimmt dazu geradezu eine Umkehrung der Beweisführung vor. Die päpstlichen Verlautbarungen zum Thema argumentieren bis hin zum Apostolischen Schreiben „Amoris Laetitia“ Papst Franziskus’ aus dem Jahr 2016[2] deduktiv. Dies bedeutet: Sie stellen die biblischen Grundlagen und die lehramtliche Tradition als Grundlage vor, leiten daraus die im kirchlichen Sinn voll anerkannten Formen der (sakramentalen) Ehe und der Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen (Zölibat) ab und behandeln dann unter dem Leitmotiv des „Ideals“ die verschiedenen Problemfelder, die sich in der jeweils aktuellen Situation darstellen (z.B. Wiederverheiratet Geschiedene, homosexuelle Partnerschaften, Verhütung, vorehelicher Geschlechtsverkehr).
Der im Synodalen Weg erarbeitete Text geht einen anderen Weg. Er arbeitet „induktiv“, beginnt also mit den vielfältigen gesellschaftlichen Phänomenen, in denen sich der Themenkomplex „Sexualität und Partnerschaft“ heute bewegt und versucht, diese vor den Instanzen der Heiligen Schrift und der katholischen Tradition neu zu bewerten und in weiten Teilen zu rechtfertigen. Was dies genau bedeutet, soll gleich noch gezeigt werden. Als Ausgangspunkt der synodalen Versammlung dürfte die Frage gelten, wie sich die Kirche gegenüber den bislang von ihr eher kritisch oder ablehnend betrachteten Formen sexueller und partnerschaftlicher Ausrichtung verhalten sollte. Darf man Menschen, die nicht im kirchlichen Ideal der ehelichen Gemeinschaft oder als Zölibatäre leben moralisch negativ beurteilen? Der Argumentationsweg ist der Folgende: Da jeder Mensch als Gottes Geschöpf mit eigener Würde und mit eigener Freiheit begnadet ist, ist grundsätzlich jeder verantwortlich gegangene Lebensweg ein legitimer Ausdruck der Verwirklichung individueller Freiheit. Dies gilt mit der (klassischen) Einschränkung, dass der Weg nicht auf das Böse oder Schädliche für andere Menschen zielt. Die sexuelle Selbstbestimmung ist ein wichtiger Bestandteil der Verwirklichung der individuellen Würde und Freiheit, sofern mit ihr keine Schädigung oder Unterdrückung anderer einhergeht. Da zudem die menschliche Sexualität nie nur das Ergebnis einer freien Wahl ist, sondern auch von psychischen, genetischen und gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst wird, kann sie in moralischer Hinsicht nicht in „gut“ und „schlecht“ eingeteilt werden. Dem Synodalen Weg geht es in seinem Papier also darum, jede (gewaltfreie) Form sexueller Veranlagung und ihre Ausübung als Ausdruck der natürlichen Vielfalt zu betrachten, die im Schöpfungswerk Gottes angelegt ist. Ein Mensch kann somit nicht moralisch dafür verurteilt werden, dass er homo-, bi-, trans-, inter- oder asexuell veranlagt ist und diese Veranlagung in Freiheit auch lebt. Was hier geschieht ist philosophisch gesehen nichts anderes als eine Dekonstruktion (also ein „Auseinandernehmen“) der bisherigen moralischen Grundordnung der Kirche, die bevorzugte und defizitäre Formen von Sexualität kennt.[3] Die Folge ist klar: Hat sich die bisherige Grundordnung als nicht mehr tragbar erwiesen, muss sich die Kirche eingestehen, dass sie durch diese Ordnung gegenüber Menschen, die diese nicht als „gleich“ anerkannte, schuldig geworden ist. So ist der einleitende Teil des Frankfurter Textes auch ein großes „Mea Culpa“, ein Schuldbekenntnis gegenüber Wiederverheiratet Geschiedenen, Homosexuellen, Transpersonen und anderen. Das im Text gegebene Versprechen lautet: Wir ändern das jetzt, indem wir unsere Sicht auf diese Personen radikal verändern, Ihnen volle Anerkennung geben und diese in unserem kirchlichen Leben, Reden und Handeln auch sichtbar machen.
Diese Grundargumentation ist sicherlich politisch mehrheitlich in ähnlicher Weise zu finden und bildet wahrscheinlich einen gerade in der jüngeren Generation vorhandenen Grundkonsens ab. Die Position des Frankfurter Papiers ist damit weitgehend zeitgemäß und dürfte auf viel Sympathie treffen. Jetzt aber wird es kompliziert. Der angenommene gesellschaftliche Grundkonsens ist nicht so einfach in das kirchliche Denken zu integrieren. Der Text spielt auf verschiedene große Themenkomplexe an, die kritisch und umstritten sind. Man macht es sich zu einfach, würde man einfach behaupten, wer den Text ablehne, wolle „Menschen diskriminieren“. Ich möchte im Folgenden nur ein paar problematische Aspekte nennen, ohne sie im Einzelnen immer umfassend darstellen zu können.
Ein erste „heiße Eisen“ des Textes ist das zugrundeliegende Freiheitsverständnis. Ist die individuelle Freiheit tatsächlich das Maß zur Beurteilung ethischer Fragen? Die Diskussion wird im theologischen Fachdiskurs seit langem geführt. Hier treffen unterschiedliche Freiheitsvorstellungen aufeinander. Im christlichen Sinn ist die Freiheit ja zumeist als eine gegenüber Gott zu verantwortende Freiheit gedacht worden, die zudem eingebettet in einen gesellschaftlichen Kontext, Grenzen der Selbstentfaltung kennt. Das Frankfurter Papier zitiert an einer Stelle „Gaudium et spes“ 17 (II. Vatikanisches Konzil), in dem die Bedeutung der menschlichen Freiheit herausgestellt wird. Allerdings bricht das Zitat an der Stelle ab, wo es um die Verantwortung der individuellen Freiheit vor dem göttlichen Anspruch geht. Wieviel Normierung muss oder darf es also geben? Ein anderer zitierter Text ist Gal 5,1. Das Pauluswort „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ wird zwar in seinem Kontext dargelegt (es geht hier um die Freiheit der Heidenchristen vom jüdischen Gesetz). Allerdings legt Paulus ja kein moralisch regelloses Christentum vor. Kaum ein christlicher Autor ist (auch in sexuellen Fragen) so moralisch wie Paulus. Um dem grundliegenden Anliegen gerecht zu werden, moralische Beurteilungen menschlicher Sexualität im Sinne einer größeren Offenheit auch biblisch zu begründen, muss der Synodentext neue Anwege der Bibelauslegung finden. Ob das immer überzeugend gelingt, liegt im Auge der Betrachter. So wird die Schöpfung zum Grundpfeiler der biblischen Argumentation, allerdings so, dass unter dem Stichwort „Vielfalt“ auch die männlich/weibliche Grundordnung menschlicher Existenz offen auf nicht-binäre sexuelle Identitäten bleibt. Papst Franziskus hatte in „Amoris Laetitia“ noch ganz klassisch von „Mann und Frau“ als Grundlage des menschlichen Zusammenlebens und der Ehe gesprochen. Zudem wird im Frankfurter Papier aus dem Gedanken der möglichst gleichwertigen Anerkennung diverser partnerschaftlicher Konstellationen die Ehe als „rein gesellschaftliche“ Notwendigkeit einer antiken Gesellschaft dargestellt. Sexualnormen aus dem Alten und Neuen Testament seien häufig im Hinblick auf den Schutz der Ehe als notwendige Versorgungsgemeinschaft getroffen worden. So würden nicht die Handlungen als solche, sondern nur ihre schädlichen Auswirkungen auf das eheliche Leben verurteilt. Hier bekommt das Papier allerdings Schwierigkeiten mit dem kirchlichen Lehrsatz von der Erhebung der Ehe zu einem Sakrament, in dem diese mit Berufung auf das Evangelium als Lebensform eben über die alttestamentliche „weltliche“ Institution erhöht wird. Der Frankfurter Text vermeidet es, von einer Vorordnung der Ehe zu sprechen.
Ein weiterer kritischer Punkt ist das Verhältnis von Wissenschaft und Ethik. Dies wird besonders deutlich, wenn der Text die „Gender-Thematik“ behandelt. Die Idee der vom biologischen Geschlecht abweichen könnenden sexuellen Identität ist eine zunächst philosophische These. Die Autoren des Synodenpapiers wissen um die Gefahr, sich bei der Begründung der Übernahme des Gendergedankens auf seine philosophischen Urheberinnen zu beziehen, da der dekonstruktivistische Ansatz auch auf andere moralische Bereiche schädlich wirken kann. Stattdessen werden Erkenntnisse der Medizin und anderer Humanwissenschaften als Beleg zu Rate gezogen, die die Glaubwürdigkeit der Genderannahme untermauern. Dieses Verfahren ist ein zweischneidiges Schwert. Zum einen beklagen ja gerade Kritiker der katholischen Morallehre, dass diese sich häufig im Umfeld damals anerkannter und heute irriger naturwissenschaftlichen Annahmen herausgebildet hat, weswegen beispielsweise gerne angeführt wird, dass die Selbstbefriedigung auch auf deshalb als schwere Sünde angesehen wurde, weil man vermutete, durch sie einem im männlichen Samen vorgebildeten Menschen das Leben zu nehmen. Man muss, denke ich vorsichtig sein, eine Ethik auf dem derzeitigen Stand der naturwissenschaftlichen Forschung aufzubauen. Auch wenn der Weg der „natürlichen“ Erkenntnis, also des verstandesmäßigen Erkennens der Welt in der katholischen Tradition anerkannt ist, kann diese nur ein Baustein in einer ethischen Begründung sein. Es steht wie bei aller Forschung zu befürchten, dass künftige Generationen unser heute gewonnenes Wissen schnell wieder „kassieren“ könnten. Die Corona-Krise hat uns im Übrigen deutlich die Vielstimmigkeit der naturwissenschaftlichen Forschung vor Augen gestellt und über die Frage der geistesgeschichtlichen Unabhängigkeit der Forschung wird ebenfalls gestritten. Das heißt nicht, dass die im Papier zitierten naturwissenschaftlichen Ergebnisse falsch sind, aber doch, dass man mit ihnen vorsichtig umgehen muss.
Ein dritter Komplex befasst sich mit den fast schon klassischen sexualmoralischen Streitthemen. In der Logik des Frankfurter Textes liegt es, sich für einen liberaleren Umgang mit Wiederverheiratet Geschiedenen einzusetzen und auch kirchlich eine zweite Hochzeit anzuerkennen. Bei der Verhütung plädiert der Text für einen individuell zu verantwortende Entscheidungsspielraum der Partner. Zudem erhebt er erneut die Forderung nach Segensfeiern für homosexuelle und andere Paare, vor allem aus Gründen der „Wertschätzung“, also ihrer Anerkennung innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft. Zur Abtreibung findet sich im Papier nur ein Satz, der die Abtreibung als Instrument der Familienplanung verurteilt.
Die eben genannten Punkte sind nur ein Ausschnitt des gesamten Papiers. Es ging mir nur darum, deutlich zu machen, warum der Text bei vielen Bischöfen, aber auch unter den Kirchenmitgliedern Widerspruch herausfordert. Je nach persönlicher Gewichtung enthält er Forderungen und Positionen, die längst nicht alle mitgehen können. Der angeregte Sprung über die bisherige Tradition hinaus erfordert wohl weitere Überlegungen. Die Richtung scheint klar, der endgültige Ausgang allerdings noch offen.
Beitragsbild: Fenster in Weimar
[1] Der Text ist hier in Gänze nachzulesen: *SV-IV_Synodalforum-IV-Grundtext-Lesung2.pdf (synodalerweg.de) . Für die folgenden Erläuterungen habe ich mich entschieden, die Belegstellen nicht immer einzeln nachzuweisen. Wo dies gewünscht wird, kann ich das gerne nachholen.
[2] Der Text ist hier nachzulesen: Amoris laetitia: Nachsynodales Apostolisches Schreiben über die Liebe in der Familie (19. März 2016) | Franziskus (vatican.va)
[3] Zum Themenkomplex der Sexualmoral: Missbrauch und Sexualmoral – Teil 2: Katholische Moraltheologie – Sensus fidei
Ach Gott, möge dieser synodale Weg dem Heiligen Geist einen Landeplatz ermöglichen. Die Menschen gehören ermutigt, den Weg der Liebe zu beschreiten. Sie sind nicht so blöd, dass sie Zügel brauchen. Ermutigung, Vertrauen in Gottes Liebe, dies ist das schönste Zeugnis unseres Glaubens an Gottes Liebe. Einen sonntäglichen Gruß vom gruenen Daumen!
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