Manchmal lohnt es sich, über scheinbar selbstverständliche Dinge des Glaubens nachzudenken. Das Beten gehört sicher dazu. Für unseren Pfarrbrief habe ich im vergangenen Jahr eine kleine Hinführung zum Gebet verfasst, die ich hier gerne noch einmal zur Verfügung stelle.
Was ist eigentlich „Beten“?
Wie kommt es eigentlich, dass Bäume im Frühjahr zum gleichen Zeitpunkt zu grünen beginnen? Die moderne Biologie hat dafür eine erstaunliche Antwort gefunden: Die Bäume sprechen sich ab. Natürlich sprechen sie nicht, wie wir Menschen sprechen. Die „Baumsprache“ besteht im Austausch von Botenstoffen, die über das Wurzelwerk weitergegeben werden. Unter der Erde liegt ein Netzwerk, über das eine Kommunikation von Pflanze zu Pflanze möglich ist. Es gibt also offensichtlich Formen des Austausches zwischen Lebewesen, die uns bis vor Kurzem unbekannt waren. Hätten wir eine solche geheimnisvolle, versteckte Kommunikation für möglich gehalten?
Das Beten ist im Grunde eine ebensolche Form der Kommunikation, des Austausches mit Gott. Auch diese Möglichkeit, dass Mensch in Kontakt mit Gott treten können, ist für viele Zeitgenossen ungewohnt. Wie soll das gehen? Das „Sprechen mit Gott“ scheint vielen unmöglich zu sein. Klar ist, dass Menschen schon immer gebetet haben. Die ersten Zeugnisse menschlicher Kultur stammen aus dem Totenkult. An der Schwelle des Lebens finden sich Bilder einer himmlischen Wirklichkeit, in der man nun den Verstorbenen vermutet. Eine Grabstelle ist kein bloßer Gedenkort, sondern der Platz, an dem die sichtbare und die unsichtbare Welt zusammentreffen. Einige der ersten Sprachäußerungen früher Menschen, werden Gebete gewesen sein.
Woran denken Sie zuerst, wenn Sie das Wort „Gebet“ hören? Ich vermute, die meisten denken an einen Text. Die bekanntesten Gebete wie das „Vater Unser“ sind Zusammenstellungen von Wörtern, die wir still oder laut ausgesprochen an Gott richten. Damit ist aber nur ein Teil dessen ausgesagt, was das Gebet meint. Die Sängerin Mahalia Jackson verwendet in einem ihrer Lieder einen Vergleich. Sie singt: „Ich habe ein Telefon in meinem Herzen und ich kann Gott zu jeder Zeit anrufen“. Das klingt vielleicht kindlich, sagt aber etwas Wichtiges. Zuerst muss ein „Telefon“ da sein, also eine Verbindung, ein Netzwerk. Gott und Mensch haben „einen Draht zueinander“. Mit zwei wichtigen Worten aus dem Johannesevangelium ist die Verbindung zu Gott „Liebe“ und „Geist“. In diesen Medien ist jederzeit ein Austausch mit Gott möglich. Dort, wo die Verbindung im Glauben erfahrbar wird, wo ich merke, dass Gott für mich da ist, dass zwischen uns eine Beziehung herrscht, dort ist der Ort des Gebetes. Der Austausch in Worten ist eine Folge der Beziehung. So wie bei Freunden die Freundschaft immer da ist, auch wenn sie gerade nicht miteinander sprechen. Die Pflege und Vertiefung der Freundschaft braucht dann aber das regelmäßige „Miteinander-Sprechen“. Aber die Kommunikation beginnt schon viel früher. Bei Freundschaften ist das gesprochene Wort genauso wichtig wie das „Sich-Sehen“ und das „Füreinander-da-Sein.“
Gebet kann also als „Kommunikation mit Gott verstanden werden“. Diese Kommunikation hat verschiedene Formen. Manchmal ist sie ein einfaches „Da-Sein“, ein Treffen mit Gott im Schweigen. Manchmal ist sie ein Austausch in Worten, in Bitten, im Lobpreis und Gedanken, der wiederum durch das Hören des „Gotteswortes“ beantwortet wird. Manchmal ist die Kommunikation auch ein Ritus, ein Gottesdienst, in dem die Ausdrucksformen der Begegnung mit dem Heiligen in festen Riten und Ritualen festgelegt sind. In all diesen Formen ist das Beten vor allem die Pflege einer Freundschaft mit Gott, die Vertiefung einer Beziehung. Das berühmte Bibelwort „Betet ohne Unterlass“ (1Thess 5,17) kann in dieser Weise verstanden werden. Es geht nicht darum, den ganzen Tag Texte aufzusagen. Es geht vielmehr darum, sich um eine gute, dauerhafte, beständige Verbindung und Beziehung mit Gott zu bemühen. Mit Jesus kann man auch sagen „Bleibt in meiner Liebe“ (Joh 15,10). Wenn ich eine solche Beziehung zu Gott habe, steht mein ganzes Leben „ohne Unterlass“ in Verbindung mit dieser Beziehung. Dann fällt auch das Beten nicht schwer. Es ist dann ein Ausdruck, ein Bestandteil der Gottesbeziehung. Die Verbindung zu Gott ist da und ich kann sie jederzeit aktivieren und vertiefen.
Die Biblische Tradition des Gebets
Die antike Welt war eine religiöse Welt. Das alltägliche und geistliche Leben wiesen zahlreiche Verbindungen auf. Überall fanden sich in der griechisch-römischen Welt kleine Haus- oder Straßenaltäre, zu denen Menschen ihre Opfergaben brachten und die Götter anriefen. Es gab große Heiligtümer, Wallfahrten und allerhand magische und abergläubische Praktiken.
Auch das Judentum kannte und kennt eine intensive Gebetstradition. Zur Zeit Jesu wird man wohl drei Hauptformen angetroffen haben. Zum einen gab es das liturgische (gottesdienstliche) Gebet im Tempel und in der Synagoge. Hier wurden feste Gebetstexte verwendet, die häufig aus der Heiligen Schrift stammten. Insbesondere die Psalmen, eine Sammlung von unterschiedlichen Gebeten zu verschiedenen Anlässen, spielten dabei eine große Rolle. Gebetstexte wurden gesungen und gesprochen. Liturgische Gebete wurden auch bei den Hausgottesdiensten im Familienkreis, etwa zum Schabbat oder zu den Festtagen verwendet. Das Hauptgebet der Juden ist das „Sch’ma Israel“. Es geht auf einen Text aus Dtn 26 zurück und beinhaltet im Wesentlichen das Bekenntnis: „Der Herr unser Gott ist ein einziger Gott“. Dieser Kernsatz des jüdischen Bekenntnisses wurde mehrfach am Tag wiederholt und in Gebetskapseln aufbewahrt, die an Riemen beim Gottesdienst um das Handgelenk und die Stirn gebunden werden und an den Hauseingängen zu finden sind. Eine zweite charakteristische Form des Betens war zudem das kontemplative (betrachtende) Beten. Wie z.B. Psalm 1 oder 119 deutlich machen, erging an gläubige Juden die Aufforderung, sich Gottes Wort, d.h. sein Gesetz einzuprägen. Man sollte „bei Tag und bei Nacht“ darüber nachsinnen (Ps 1,2). Dazu nahm man Verse der Heiligen Schrift und sprach sie immer wieder halblaut vor sich her. Das Gesetz Gottes sollte so verinnerlicht werden, der Kontakt zu Gott, der sich in seinem Wort geoffenbart hatte, nicht abreißen. Darüber hinaus gab es natürlich auch das persönliche Gebet, in dem die Gläubigen ihre täglichen Bitten und Anliegen in eigenen Worten vor Gott brachten.
Das Evangelium gibt einige Hinweise auf dieses Umfeld, etwa, wenn Jesus die Jünger ermahnt, sie sollten beim Gebet nicht „plappern wie die Heiden, denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen“ (Mt 6,7). Weil Gott immer schon weiß, was die Menschen brauchen, reicht es aus, das Gebet auf die notwendigen Worte zu beschränken. Im Anschluss an diese Ermahnung lehrt Jesus die Jünger dann das „Vater unser“, das gewissermaßen eine Kurzform längerer jüdischer Gebete darstellt. In diesem Gebet ist sowohl der Lobpreis Gottes als auch das Bittgebet enthalten. Das „Vater unser“ wurde in der Folge zum Grundgebet des Christentums.
Jesus tritt der eigenen Gebetstradition offenbar kritisch gegenüber. An einer Stelle tadelt er die Schriftgelehrten für ihre langen Gebete (Mk 12,40) und gibt an einer anderen Stelle im Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner ein Beispiel für das aufrichtige Gebet (Lk 18,9-14). Jesus macht deutlich: Beten ist kein Automatismus. Es kommt weniger auf die Form oder die Worte an, sondern darauf, dass das Gebet aufrichtig und ehrlich ist und meint, was in ihm ausgedrückt ist. Zudem müssen Gebet und Leben übereinstimmen. Worte und Taten gehören zusammen.
Offenbar ist für Jesus das Gebet vor allem ein Ausdruck der aufrichtigen Gottesbeziehung. Wer Gott als seinen „Vater“ weiß, steht in einem vertrauensvollen Verhältnis zu ihm. Jesus lehnt das Gebet nicht ab, im Gegenteil. Immer wieder wird berichtet, dass Jesus sich an einen einsamen Ort für das persönliche Gebet zurückzieht. Auch anlassbezogene Bittgebete sind von ihm überliefert, etwa wenn er am Kreuz für seine Feinde um die Vergebung Gottes bittet (Lk 23,34). Der Tempel soll nach seinem Wort „ein Haus des Gebetes“ sein (Mk 11,17). Das Gebet allerdings darf nicht heuchlerisch werden. Wo es nicht vom richtigen Gottesverhältnis getragen ist und keine Auswirkungen für das eigene praktische Leben hat, wird es unnütz.
In der frühen Christenheit entwickeln sich so eigene Gebetstraditionen. Sie vereinen die jüdischen Traditionen mit der Lesart und Lehre Jesu. Die Paulusbriefe ermuntern die Gemeinden zum ständigen Gebet (1 Thess 5,17). Im Kern bleiben die Gebetsformen gleich. Das liturgische, das kontemplative und das persönliche Gebet bestehen im Christentum auf neue Art weiter. Von diesen Formen wird der nächste Abschnitt über das Gebet handeln.
Persönlich beten
Über mehrere Jahre war ich Kurat, also geistlicher Begleiter beim Pfadfinderstamm in Hamburg-Hamm. Unter den Kindern waren Katholiken, Protestanten, aber auch Nichtchristen. Trotzdem war auf den Zeltlagern und Fahrten klar: Hier wird gebetet. In der Morgenrunde und beim Essen hatte immer eine Gruppe die Aufgabe, ein Gebet vorzubereiten. Dabei gab es eine Grundregel: Es werden keine Texte vorgelesen. Das Gebet sollte persönlich sein und die Anliegen und Wünsche für den Tag aufnehmen. Das war eine echte Herausforderung. Es ist einfach, feste Gebets- und Betrachtungstexte vorzulesen; es ist schwer, selbst die richtigen Worte zu finden.
In der katholischen Tradition haben aufgeschriebene Gebetstexte immer eine große Rolle gespielt. Man wollte schließlich „das Richtige“ beten. Als wir im letzten Jahr die Sakristei von St. Anna aufräumten, stießen wir auf große Stapel von Gebetsanregungen und Andachten. Man legte den Gemeindemitgliedern das Beten von Novenen oder anlassbezogenen Texten nahe. Das Stundengebet, welches nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil auch den Gemeinden verstärkt empfohlen wurde, besteht aus festgelegten Texten. Auch das Gotteslob enthält bis heute eine Sammlung von Gebeten aus den verschiedenen Jahrhunderten. Dass man Gott ganz persönlich anreden, vielleicht sogar mit ihm ins Gespräch kommen kann, trat manchmal in den Hintergrund.
Dabei ist das persönliche Beten ein wichtiger Bestandteil der Gottesbeziehung. Hier geht es schließlich um mich selbst, meine Gedanken, meine Wünsche, meine Bedürfnisse, meinen Dank und meine Bitten. In Gebetsform trage ich mein Leben vor Gott. Das kann sich in ganz unterschiedlichen Formen ausdrücken. Bekannt ist den meisten sicher das „Stoßgebet“. In einer schwierigen Situation sende ich gewissermaßen eine Nachricht an Gott, verschaffe meiner Sorge einen spontanen Ausdruck. Ich weiß Gott in diesem Moment an meiner Seite und hoffe in einem konkreten Anliegen auf Trost und Erhörung. Für viele gehört auch der Besuch in der Kirche zum persönlichen Beten. Über den Tag kommen immer wieder Menschen, die sich für einige Minuten Zeit zur Besinnung und zum Beten nehmen. Die Kerzen, die dabei entzündet werden, aber auch die Einträge in unserem ausliegenden Buch zeugen von den Anliegen und Nöten, die die Besucher beschäftigen. Sie werden in diesem Moment im Brennen der Kerze oder als niedergeschriebenes Gebet aufbewahrt.
Andere haben das persönliche Beten in ihren Tagesablauf integriert. Ich selbst verbinde zum Beispiel mit meinem Morgengebet gerne den Blick auf meinen Kalender und bitte um gutes Gelingen für die vor mir stehenden Aufgaben und um den Segen für die Menschen, die mir an diesem Tag begegnen. Im Abendgebet kann ich auf den Tag zurückschauen. Die katholische Tradition empfiehlt den persönlichen Tagesrückblick, der den Dank für das Gelungene enthält, die kritische Selbstreflexion und die Bitten für die Anliegen, die mir an diesem Tag gekommen sind. Jeder Tag erhält so vor Gott noch einmal seine besondere Bedeutung. Mein ganzes Leben steht in seiner Hand.
Eine andere Form des persönlichen Betens ist das kontemplative Gebet. Es kommt meist ganz ohne Text aus. Der Grundgedanke ist: Ich bin in der Stille vor Gott da. Er sieht mich, ich schaue auf ihn. Das Beten ist hier kein Austausch von Worten und Gedanken. Es ist ein einfaches „In-der-Gegenwart-Gottes-Sein“. Das kontemplative Beten erfordert eine gewisse Übung. Es kann zum Beispiel Bestandteil einer Gebetsstille bei einer Andacht sein. Aber auch die ständige Wiederholung eines Wortes oder Satzes kann mich in die kontemplative Haltung hineinbringen. Die geschieht zum Beispiel im sogenannten Jesus-Gebet, aber auch beim Rosenkranz, bei dem neben dem gesprochenen Wort wichtig ist, über die Zeit des Gebetes hinweg in eine Ruhe und Offenheit Gott gegenüber zu kommen. Eine Litanei hat eine ähnliche Funktion. Die Gemeinschaft von Taizé hat im 20. Jahrhundert eine neue Form des kontemplativen Betens geschaffen. Durch die kurzen, sich immer wiederholenden Gesänge, werden die Beter in die Ruhe des Herzens begleitet. In einer langen Zeit der Stille, die in jedem Taizé-Gebet vorgesehen ist, findet die Andacht ihren Höhepunkt. Jetzt kann ich in der Stille einfach vor Gott da sein.
Die eben genannten Beispiele zeigen: Persönliches Gebet und feste Gebetstexte schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich. Ich lege mein eigenes Leben in das allgemeine Gebet hinein. Selbst in der sonst so stark durchgestalteten Heiligen Messe sind Zeiten des persönlichen Gebets vorgesehen. Der Aufruf „Lasset uns beten“ ist eigentlich eine Aufforderung zum persönlichen Beten. Alle einzelnen Gebete werden dann vom Priester im Tagegebet, das lateinische „Kollekte“ heißt, zusammengefügt und vor Gott getragen. Die Fürbitten als „Allgemeines Gebet der Gläubigen“ sollen die aktuellen Anliegen der versammelten Gemeinde aufnehmen. In der Gabenbereitung stehen Brot und Wein für die Freuden und Mühen unseres eigenen Lebens, das immer wieder eine Wandlung erfahren soll. Während des Kommuniongangs sind in besonderer Weise alle zum stillen Beten eingeladen. In dieser füllt sich der Kirchenraum mit dem Alltag, den Bitten und dem Dank der Anwesenden.
Das persönliche Beten bleibt eine Herausforderung. Bei den Pfadfindern, von denen ich am Anfang erzählt habe, waren die Ergebnisse mehr oder weniger gut gelungen. Das spielte aber keine Rolle. Nicht die geschickte Wortwahl machte das Gebet aus, sondern das Wissen, dass dies „unser“ Gebet war.
Das Vater Unser
Ein schwieriger Punkt in der Erstkommunionvorbereitung ist die Erstbeichte. Sie dient dazu, dass die Kinder das Sakrament der Beichte kennenlernen. Mir war immer wichtig, dass diese „Aufgabe“ die Kinder nicht überfordert. So fiel mir als Kaplan relativ schnell auf, dass besonders das Element der „Buße“ für die Kinder schwer zu verstehen war. Für sie war das eher wie eine Hausaufgabe, die sie aus der Beichte mitnahmen. Der eigentliche Sinn blieb ihnen eher verschlossen. So ging ich dazu über, anstelle der Buße mit den Kindern zum Abschluss der Beichte das Vater Unser zu beten. Sie hatten das Gebet im Unterricht behandelt und kannten es. Während des Betens merkte ich allerdings, dass einigen auch das „Vater unser“ schwerfiel. Sie hatten es zwar irgendwann auswendig gelernt, den Text aber meist nur zusammen mit den anderen gebetet. Der eigentliche Sinn der Worte hatte sich ihnen nicht unbedingt erschlossen. So kam es manchmal zu recht eigenartigen, manchmal auch amüsanten Versionen. Es ist ja auch nicht so ganz einfach: Was sollen z.B. „Schuldiger“ sein, oder was bedeutet das Wort „geheiligt“? Warum heißt es „dem Bösen“ und nicht „den Bösen“ und was steht hinter der Bitte, nicht in Versuchung geführt zu werden? Ich glaube, die Verständnisschwierigkeiten gibt es nicht nur bei Kindern, denen einzelne Worte nichts sagen. Ich glaube, es gibt sie auch bei Erwachsenen. So sehr uns das „Vater unser“ vertraut ist – „spricht“ der Text zu mir und vor allem: Kann ich ihn mir als mein persönliches Gebet zu eigen machen?
Das Vater Unser ist das christliche Gebet. Es ist ein Gebet, das uns von Jesus selbst überliefert wurde. Das Lukasevangelium (Lk 11,2-4) erzählt, dass Jesus sich an einen Ort zurückgezogen hatte, um zu beten. Als er das Gebet beendete, baten ihn die Jünger: „Herr, lehre uns beten“. Offensichtlich wollten sie wie Jesus oder mit Jesus beten können. Als Antwort erhielten sie einen relativ kurzen Text, eben das „Vater unser“ (allerdings ohne den gängigen Gebetsabschluss „denn dein ist das Reich..“, der eine spätere Ergänzung ist). Möglicherweise fasste Jesus hier längere Gebete der jüdischen Tradition zu ganz kurzen Bitten zusammen. Schon früh wurden diese Worte, die in leicht veränderter Form auch im Matthäusevangelium zu finden sind (Mt 6,9-13) zum Grundgebet. Aus frühen christlichen Texten wissen wir, dass das Vater Unser mehrmals am Tag gesprochen wurde.
Was ist am Vater Unser aber neben seiner biblischen Herkunft wichtig? Vielleicht kann man sagen, dass es eine Kurzform dessen darstellt, worauf es nach christlichem Glauben ankommt. Joseph Ratzinger macht darauf aufmerksam, dass der Text eine Struktur hat, die sich mit dem Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe verbinden lässt. In den ersten Bitten geht es um Gott, der vertrauensvoll als „Vater“ angesprochen wird. Allein das ist nicht selbstverständlich. Gott erscheint hier nicht als ferner, unnahbarer Herrscher, sondern als vertraut und nah. Wir stehen mit ihm gewissermaßen in einem Familienverhältnis. Der zweite Teil des Vater Unsers befasst sich dann mit den menschlichen Bedürfnissen. Himmel und Erde, Gott und Mensch, das Große und Kleine gehören zusammen.
Doch von vorne. Nach der Anrede Gottes als „Vater im Himmel“ folgt die Bitte „Dein Name werde geheiligt“. Unter dem „Namen“ versteht die Bibel den Gottesnamen „JHWH“, was übersetzt werden kann mit „Ich bin der ‚ich bin da‘“. Es geht um die Anerkennung dieses Gottes in der Tradition des Volkes Israel. Das Bekenntnis lautet: An dich, diesen Gott glaube ich. Sein Reich soll kommen. Dieses Reich hat Jesus verkündet. Es geht um eine Wirklichkeit, in der Gott und Menschen zusammenkommen und in dem sich alles zum Guten wandelt. Wer Gott anerkennt, stellt sich unter seinen Segen und fragt nach seinem Willen. Himmel und Erde sollen in diesem Reich nur eine einzige Wirklichkeit werden.
Mit Blick auf die menschliche Realität sind wir von der alles zum Guten wendenden Kraft Gottes abhängig. Das machen die folgenden Bitten des Vater Unser deutlich. An erster Stelle steht die Bitte um das tägliche Brot. Es geht um unsere Existenz. Wir sind davon abhängig, das zu bekommen, was wir zum täglichen Leben brauchen. Dabei kann das Brot sicher auch für andere Dinge stehen, die uns „Nahrung“ geben, für Zuwendung, Freundschaft, Hoffnung, Inspiration, Freude und vieles mehr. Danach folgt die Bitte um die Versöhnung. „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir bereit sind, anderen Schuld zu vergeben“. Die Vergebung ist ein wesentliches Merkmal des Gottesreiches. Im Leben Jesu gibt es dafür viele Belege. Nur wo ein Mensch frei ist, kann er wirklich neu anfangen. Nur dort, wo Streit, Krieg und Hass keinen Einfluss mehr haben, kann eine friedliche Welt entstehen. So ist auch die Bitte um die „Erlösung von dem Bösen“ in dieser Richtung zu verstehen. Dort, wo das Böse keine Macht über uns hat, können wir den richtigen Weg für unser Leben und das Leben der anderen erkennen. Deshalb hoffen wir, nicht „in Versuchung geführt zu werden“, also auf falsche Wege zu geraten. In letzter Zeit hat Papst Franziskus eine Diskussion darüber angeregt, ob der Ausdruck „führe uns nicht in Versuchung“ eigentlich richtig ist, da Gott den Menschen doch nie zum Bösen führen möchte. Ratzinger spricht in seiner Auslegung daher eher von der „Prüfung“. Erst in der Auseinandersetzung mit dem Bösen erkennen wir das Gute. So erklärt sich der Beter im Vater Unser zwar auf der einen Seite bereit, Prüfungen zu ertragen, hofft aber auf der anderen, dass sie an ihm vorübergehen können.
Diese Hinweise können vielleicht eine Hilfe sein, das Vater Unser besser zu verstehen. Natürlich muss man noch ausführlicher darüber sprechen. Ich habe neulich in einem Gespräch mit einem Ehepaar über das Gebet gesprochen. Sie hatten sich ihre ganz eigenen Gedanken zu den Bitten des Vaters Unser gemacht und ihr Leben in das Gebet hineingeschrieben. So wurde der Text für sie zu einem persönlichen Gebet, erfüllt mit eigenen Erfahrungen. Es war „ihr“ Gebet geworden.
Beitragsbild: Am Strand von St. Peter – Ording