Gefühlt haben wir in der vergangenen Woche jeden Tag einen Rücktritt erlebt. In dieser Häufung ist das selten, sicher ein Zufall. Zugleich habe ich aber doch den Eindruck: Es ist zur Zeit besonders schwer, ein öffentliches Amt auszuüben. Es sind meiner Meinung nach zwei Faktoren, die dafür wichtig sind.
Zum einen gibt es viel Druck von außen. In Zeiten, in denen jeder seinen Unmut, seine häufig unreflektierte Meinung, Beleidigungen und Drohungen mal eben öffentlich sichtbar im Internet ausstellen kann, gibt es mehr Außendruck. Menschen in öffentlichen Ämtern haben den Eindruck, sie würden permanent von Schlammlawinen überrollt. In der politischen, gesellschaftlichen, auch kirchlichen Auseinandersetzung braucht es immer Geduld, ein Verständnis für Recht und Gesetz, Kompromissbereitschaft und Anstand, also Eigenschaften, die immer weniger Menschen etwas zu sagen scheinen.
Zum zweiten verkleinert sich der Spielraum für die politisch oder gesellschaftlichen Handelnden. Unsere Gesellschaft ist vielleicht auch angesichts populistischer Bedrohungen derzeit zunehmend bemüht, Schutzzonen auszuweiten. Die Grenzen dessen, was man noch tun oder sagen darf, werden in bestimmten Politikfeldern immer weiter verschoben.
Ich möchte ein Beispiel geben: Anfang des Jahres sprachen alle über das Wort „Umweltsau“. Es ist kein schönes Wort, wahrscheinlich sollte man etwas altertümlich von „Umweltverschmutzer“ reden. Es geht um einen Menschen, dem der der Umweltschutz egal ist. Vor 30 Jahren hätte man dabei an Menschen gedacht, die z.B. ihr Altöl ins Erdreich ablassen oder Firmen, die ihre Abgase ungefiltert in die Luft leiten. Mit der Zeit stiegen die Ansprüche. Ein Umweltverschmutzer war schon jemand, der seinen Müll nicht sortierte, Getränkedosen kaufte oder ein Auto ohne Katalysator fuhr. Heute fallen unter diese Kategorie Fleischesser, Flugreisende und Kohlestromverbraucher. Man kann sich leicht über eine solche Entwicklung ärgern oder lustig machen, aber die Sache hat natürlich einen wahren Kern. Mit der Zeit hat sich die Sensibilität für das Thema der Ökologie enorm vergrößert. Die Aufmerksamkeit, aber auch die Empfindlichkeiten sind gestiegen.
Der Umweltschutz ist nur ein Beispiel. Eine ähnlich Entwicklung gibt es ja bei vielen anderen Themen, beim Verbraucherschutz, bei der Gleichberechtigung, beim Schutz von Minderheiten, beim Umgang mit Großunternehmen und -banken, in der Außenpolitik, im Demokratieverständnis und vielem mehr. Überall sind die Sensibilitäten und die Vorsichtsmaßnahmen gestiegen. Was ursprünglich gut gemeint ist, engt die politisch und gesellschaftlich Handelnden allerdings immer stärker ein. Es gibt immer mehr Fettnäpfchen, in die man treten kann. Eine falsche Geste, ein falsches Wort und schon gibt es einen Grund, den Rücktritt zu fordern.
Ich erzähle das so wie ich es empfinde und vor dem Hintergrund des heutigen Evangeliums. Es gibt einen Ausschnitt aus der Bergpredigt wieder. Jesus interpretiert darin das Gesetz, also die Gebote, die von Gott gegeben, durch Mose dem Volk überliefert wurden:
„In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist.
Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.
Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein; und wer zu seinem Bruder sagt: Du Dummkopf!, soll dem Spruch des Hohen Rates verfallen sein; wer aber zu ihm sagt: Du gottloser Narr!, soll dem Feuer der Hölle verfallen sein.
Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe. Schließ ohne Zögern Frieden mit deinem Gegner, solange du mit ihm noch auf dem Weg zum Gericht bist. Sonst wird dich dein Gegner vor den Richter bringen, und der Richter wird dich dem Gerichtsdiener übergeben, und du wirst ins Gefängnis geworfen. Amen, das sage ich dir: Du kommst von dort nicht heraus, bis du den letzten Pfennig bezahlt hast.
Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.
Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus und wirf es weg! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verlorengeht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird.
Und wenn dich deine rechte Hand zum Bösen verführt, dann hau sie ab und wirf sie weg! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verlorengeht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle kommt.
Ferner ist gesagt worden: Wer seine Frau aus der Ehe entlässt, muss ihr eine Scheidungsurkunde geben. Ich aber sage euch: Wer seine Frau entlässt, obwohl kein Fall von Unzucht vorliegt, liefert sie dem Ehebruch aus; und wer eine Frau heiratet, die aus der Ehe entlassen worden ist, begeht Ehebruch.
Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst keinen Meineid schwören, und: Du sollst halten, was du dem Herrn geschworen hast. Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht, weder beim Himmel, denn er ist Gottes Thron, noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel für seine Füße, noch bei Jerusalem, denn es ist die Stadt des großen Königs. Auch bei deinem Haupt sollst du nicht schwören; denn du kannst kein einziges Haar weiß oder schwarz machen.
Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere stammt vom Bösen.“ (Mt 5, 17-37).
An diesem Gesetz gibt es kein Jota zu ändern – warum auch, es stammt schließlich von Gott. Aber, so meint es Jesus, man muss das Gesetz richtig lesen und verstehen. Es geht um mehr als die geschrieben Buchstaben. Man könnte sagen: Das Gesetz soll nicht nur formal, sondern „intentional“ in die Tat umgesetzt werden, das bedeutet, von seinem Geist, von seiner Absicht her. Die Gerechtigkeit der Jünger, also ihre Weise das Gesetz zu erfüllen, soll größer sein, als die der Schriftgelehrten, deren Auftrag es schließlich ist, das Gesetz auszulegen. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würde das gleiche geschehen, was ich vorhin mit der Ausweitung der Schutzzone beschrieben habe, mit einer gestiegenen Sensibilität für bestimmte Fragen. Wenn im Gesetz steht: „Du sollst nicht töten“ dann ist damit in der Auslegung Jesus mehr gemeint, als der Buchstabe aussagt. Man könnte interpretieren: Hinter dem Tötungsverbot steht die Verpflichtung zur Bewahrung des Lebens. Darum ist jeder Schritt, der einen anderen in seinem Lebensrecht beschneidet, bereits ein Verstoß des Gesetzes. Bei Jesus heißt es: „Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gesetz verfallen sein“. In ähnlicher Weise interpretiert Jesus auch viele andere Gebote. So ist nicht nur der Ehebruch als Tat verboten, sondern bereits der Ehebruch in Gedanken.
Die Bergpredigt steigert also die ethischen Maßstäbe, so könnte man es interpretieren. Und ich vermute, wenn Sie den Text gehört oder gelesen haben, werden Sie sich gefragt haben, ob es nicht unrealistisch ist, so leben zu wollen. Wenn schon das kleinste Vergehen in Gedanken dazu führen kann, dass ich vor dem Gesetz, also vor Gott versage, wer kann dann noch gerettet werden? Es ist das gleiche Dilemma wie das, was ich vorhin für die Politiker beschrieben habe. Der Handlungsspielraum wird immer mehr eingeschränkt. Tatsächlich – wenn man die Bergpredigt wörtlich nimmt, könnte ein heutiger moralischer Richter wahrscheinlich jedem von uns Hunderte von Vergehen nachweisen. Paulus und in seinem Gefolge Augustinus, Luther und viele andere haben diesen Gedanken herausgearbeitet: Vor dem Gesetz sind wir alle Sünder und niemand könnte vor Gott bestehen.
Es braucht also eine Befreiung aus dieser Situation. Die ist im Ausschnitt des Evangeliums des Sonntags nicht direkt zu finden, wohl aber, wenn man das Gesamt der Bergpredigt ansieht. Man findet in der Bergpredigt einen beständigen polemischen Unterton. Jesus ermahnt seine Jünger (er spricht übrigens zu ihnen und nicht zur Volksmenge, vgl. Mt 5,1), anders zu sein als die anderen. „Macht es nicht wie…“ -Dieser Satz fällt sinngemäß in der Bergpredigt häufiger: „Eure Gerechtigkeit soll die der Schriftgelehrten und Pharisäer übertreffen“ (Mt 5,20), die Jünger sollen es anders machen als die Zöllner (Mt 5,46) und Heiden (Mt 5,47; 6,7; 6,32) und als die Heuchler (Mt 6,2; 6,5; 6,16). Wahrscheinlich ist bei den Heuchlern in Mt 6 auch an die Pharisäer gedacht. Was machen die genannten Gruppen falsch?
Die Heiden kennen das Gesetz nicht und sind nicht daran gebunden. Ihr Verhalten ist in Teilen vielleicht gut, allerdings ohne Verständnis des tieferen Sinns. Die Pharisäer und Schriftgelehrten kennen das Gesetz gut und versuchen, es so genau wie möglich zu befolgen. Beide Wege sind offenbar nicht zielführend. Dass der Weg ohne Gesetz für Jesus nicht richtig sein kann, ist klar, wenn Jesus betont, dass von ihm nicht das kleinste Gebot aufgehoben werden darf (Mt 5,18). Aber offensichtlich kann auch der Weg mit dem Gesetz falsch sein, zumindest so, wie ihn die Pharisäer gehen. Sie versuchen ja, das Gesetz bis ins Kleinste zu verstehen und in ihr Handeln zu übertragen. Da Jesus diese Form der Gerechtigkeit kritisiert, kann es ihm bei der Auslegung des Gesetzes nicht um eine immer weitere Verschärfung gehen, in einem Sinn, dass zu jedem Gesetzessatz Hunderte von Zusatz- und Ausführungsbestimmungen erlassen werden. Das Gesetz zu leben und somit „gerecht“ zu sein ist also nicht ein außengeleitetes Handeln, in dem durch die Buchstaben des Gesetzes vorgegeben wird, wie man sich genau in dieser oder jener Situation zu verhalten hat. Es scheint Jesus um eine andere Weise zu gehen, das Gesetz in das eigene Leben umzusetzen. Es gibt eine Lebensweise, die man vielleicht beschreiben könnte als Lebensweise aus einem „verinnerlichten“ Verständnis des Gesetzes.
Dazu passt, dass die Bergpredigt mit den Seligpreisungen eröffnet. „Selig ist…“ – das ist der Anfang von Psalm 1: „Selig [griechisch: μακαριος] der Mann, der nicht nach dem Rat der Frevler geht, nicht auf dem Weg der Sünder steht, nicht im Kreis der Spötter sitzt, sondern sein Gefallen hat an der Weisung des HERRN, bei Tag und bei Nacht über seine Weisung nachsinnt“. In Mt 5,3 heißt es analog: „Selig [griechisch: μακαριοι] die Armen…“. Im Psalm ist „selig“ derjenige, der Tag und Nacht über die Weisung des Herrn, also über das Gesetz nachdenkt. In den Seligpreisungen werden allerdings Menschen genannt, die nicht den ganzen Tag mit dem Schriftstudium ausfüllen, sondern die bestimmte Eigenschaften mitbringen, Haltungen und Tugenden verinnerlicht haben, oder aufgrund der Gerechtigkeit verfolgt werden. Das Nachdenken über die Weisung des Herrn ist zu einem intuitiven oder Leben aus der verinnerlichten Weisung des Herrn geworden.
Auch dieses Verständnis des Gesetzes hat übrigens eine Tradition. Jesus weist darauf hin, dass sein Gesetzesverständnis an das der Propheten anknüpft (Mt 5,12). Diese hatten an verschiedenen Stellen auf die Notwendigkeit und das endzeitliche Kommen eines verinnerlichten Gesetzes hingewiesen (z.B. Jes 29; Ez 36). Es ist dieses Neue, das Paulus später als ein „Leben aus dem Geist“ beschreiben wird. Damit ist so etwas wie eine verinnerlichte Kenntnis Gottes und seines Willen gemeint.
Jesus ebnet in der Bergpredigt den Weg zu einem solchen neuen Verständnis des Gesetzes. Auf der einen Seite verpflichtet er die Jünger auf dieses geschrieben Gesetz, auf der anderen Seite lehrt er sie aber, dass das Halten des Gesetzes nicht zunächst in der Einhaltung möglichst vieler Vorschriften besteht, sondern in einem Leben aus dem tiefen Verständnis des göttlichen Willens heraus. Die „Ausführungsbestimmungen“ der Bergpredigt sind eben keine Verschärfung des Gesetzes im formalen Sinn, sondern eine Anleitung zur Gewissens- und Herzensbildung.
Zu Beginn hatte ich von den schwierigen Bedingungen der politisch und gesellschaftlich Handelnden gesprochen und auch von den Problemen, die durch eine ständige Ausweitung der Sensibilitäten, der „Schutzzonen“ entstehen. Ich will dieses Thema zum Schluss kurz wieder aufnehmen, weil ich glaube, dass auch auf diesem Gebiet ein Verständnis, wie es die Bergpredigt aufzeigt, hilfreich ist. Die Ausweitung der „Schutzräume“ (nochmals – sie ist von ihrem Gedanken her in vielen Fällen lobenswert) wird im heutigen Diskurs meist als eine Gesetzesausweitung verstanden. Das hat fatale Folgen. Die Gesellschaft oder politisch Handelnden, aber zuweilen auch der einfache Bürger haben den Eindruck, „bald nichts mehr tun oder sagen zu dürfen“, weil sie sich sofort an den Pranger gestellt fühlen. Dies passiert deswegen, weil das Gesetz und seine Schutzräume formal ausgelegt werden (also so, wie es die Schriftgelehrten tun). Nicht jeder, der einmal einen zotigen Witz macht, ist deswegen gleich ein Sexist. Das wird aber allzu schnell behauptet. Aus der formalen Äußerung wird sofort auf die innere Haltung geschlossen, unabhängig davon, ob diese im „Gesamtbild“ in das Handeln einer Person passt. Die Frage ist doch, welche innere Überzeugung eine bestimmte Person trägt. Nicht jeder Ausrutscher, nicht jedes ins Unreine gesprochene Wort, nicht jede ungeschickte Äußerung oder Tat darf doch gleich den ganzen Menschen verunglimpfen. Wir entfernen uns doch von einem natürlichen Umgang untereinander, wenn wir nicht mehr auf das Gesamtbild eines Menschen schauen, sondern ihm gegenüber ständig zu Gericht sitzen, als ob wir selbst die Gerechtigkeit gepachtet hätten. Ein solches Verhalten ist eben gnadenlos und wir selbst würden doch für uns hoffen, dass wir so nicht angesehen werden. Die Beurteilung eines Menschen ist die Frage seines Seins und nicht nur seines Scheinens. In dieser Weise kann die Bergpredigt eine Aufforderung zu einem freundlichen, barmherzigen, geduldigen und aufrechten Verhalten dem anderen gegenüber sein. Damit wäre, wohl auch im Sinne des vertieften Verständnisses Gottes schon einiges gewonnen.