5. Sexueller Missbrauch an Minderjährigen
Dem sexuellen Missbrauch widmen sich die moraltheologischen Handbücher der Vorkonzilszeit nicht ausdrücklich. Lediglich bei Tillmann findet sich der schon zitierte Passus, der die „Päderasterie“ zu den widernatürlichen Sexualpraktiken zählt. Das Schweigen über diesen Punkt könnte bedeuten, dass das Problem entweder nicht bekannt oder nicht artikuliert wurde. Die moralische Bewertung lässt sich nur aus den sexualmoralischen Grundsätzen ableiten. Im Gegensatz zur heutigen Diskussion liegt allerdings der Fokus hier nicht auf den Folgen sexuellen Missbrauchs für die Opfer, die diesen als Gewalttat ächten müsste, sondern auf der Unerlaubtheit und Sittenwidrigkeit des außerehelichen Geschlechtsverkehrs. Wie andere Formen der Sexualität sind sexuelle Praktiken mit Kindern aus diesem Grund inkriminiert.
Dass das Problem des sexuellen Missbrauchs durch Kleriker offenbar bekannt war, oder zumindest für möglich gehalten wurde, zeigt das kirchliche Strafrecht.[1] Der CIC von 1937 formuliert in can. 2359, §2:
„Hat sich ein solcher Kleriker mit Minderjährigen unter 16 Jahren schwer versündigt, oder sich des Ehebruchs, der Notzucht [Vergewaltigung], der Bestialität [Sexualverkehr mit Tieren], der Sodomie, der Kuppelei, der Blutschande mit Verwandten oder Verschwägerten im ersten Grade schuldig gemacht, dann soll er suspendiert, als infam erklärt, jedes Amtes, jedes Benefiziums, jeder Dignität und überhaupt jeder Anstellung enthoben und in schweren Fällen mit Deposition [Dienstenthebung] bestraft werden.“
Die hier aufgeführten Verstöße von Klerikern, bei denen der sexuelle Missbrauch an erster Stelle steht, werden also unter größtmögliche kirchliche Strafen gestellt. Die Suspendierung bedeutet das Verbot der Ausübung des priesterlichen Dienstes. Unter „infam“ versteht das Kirchenrecht die Strafe „infama iuris“, die einen Ausschluss von kirchlichen Ämtern (bei Laien und Klerikern mit niederen Weihen), einen Verlust der Ehrenrechte und der aktiven Teilnahme an gottesdienstlichen Handlungen bedeutet.[2] Diese Kirchenstrafe traf nach can. 2357 §1 auch Laien, die „Sittlichkeitsdelikte mit Minderjährigen unter 16 Jahren“ begingen und trat automatisch (also ohne formalen Schuldspruch) ein. Vereinfacht gesagt: „infama iuris“ bedeutete, dass eine Person nicht mehr öffentlich im kirchlichen Rahmen wirken durfte. Bei Priestern kam weiter die Amtsenthebung hinzu, der Verlust von Benefizien, also Einkünften aus Stiftungen oder Pfründen, über die sich viele Pfarrer finanzierten, der Verlust der Dignität (der Ehrentitel) und der Anstellung. Mit der Strafe des „Depositum“ ist die Amtsniederlegung gemeint.
Der sexuelle Missbrauch an Minderjährigen durch Kleriker ist also bereits 1917 mit den im Rahmen des Kirchenrechts strengstmöglichen Strafen belegt. Nach der Einschätzung des Kirchenrechtlers Wilhelm Rees sollte die Strafandrohung präventiven Charakter haben.[3] Allerdings bleibt die Frage, ob und in welchem Maße es in diesen Fällen zu kirchlichen Strafverfahren kommt. 1922 entwickelt die Glaubenskongregation für schwerwiegende Verstöße von Klerikern gegen die Sitten eine Prozessordnung, die zunächst nach Bedarf den Ortsbischöfen zugesandt wurde.[4] Die Instruktion „De modo procedendi“ befasste sich vordringlich mit dem Straftatbestand der sogenannten „Sollizitation“ (sexuelle Vergehen von Klerikern im Zusammenhang mit dem Bußsakrament), nannte aber in Artikel 73 auch andere schwere Verfehlungen, die nach dem gleichen Prozessvorgehen zu behandeln seien. Zu diesen „besonders schlimmen Verbrechen“ zählte die Instruktion den sexuellen Missbrauch an Minderjährigen, homosexuellen Geschlechtsverkehr und auch Geschlechtsverkehr mit Tieren. Diese Tatbestände sollten analog zur Sollizitation behandelt werden. Meldungen über Straftaten mussten an die Glaubenskongregation (damals noch „Sacrum officium“) weitergeleitet werden.[5] Die Verfahrensordnung wurde 1962 durch Papst Johannes XXIII. bestätigt. Ob die Instruktion allerdings allgemein bekannt war, ist fraglich, da auch der Neudruck von 1962 nur an die Bischöfe versandt wurde, die mit entsprechenden Fällen befasst waren.[6] Diese nicht-öffentlichen Normen blieben nach abermaliger Bestätigung durch Papst Paul VI. bis 2001 in Kraft, kamen aber, wie Wilhelm Rees feststellt, kaum zur Anwendung. Ihre Einhaltung wurde von Rom zudem nur in seltenen Fällen eingefordert.[7]
Im Zuge der Neufassung des kirchlichen Gesetzbuches CIC von 1983 ergaben sich einige Änderungen. Zum einen wurde der Straftatbestand des homosexuellen Geschlechtsverkehrs bei Klerikern gestrichen, sofern die Beziehung einvernehmlich war und kein öffentliches Ärgernis erregte.[8] Das kirchliche Strafrecht wurde insgesamt abgemildert, da man die Normen des alten CIC als zu hart empfand.[9] Die Glaubenskongregation beschreibt die Grundsätze der Strafrechtsreform wie folgt:
„Der Zeitraum von 1965 bis 1983 (dem Jahr, in dem der neue Codex des kanonischen Rechts für die Lateinische Kirche veröffentlicht wurde) war gekennzeichnet durch verschiedenste Strömungen innerhalb der Kanonistik bezüglich den Zielsetzungen des kirchlichen Strafrechts und der Notwendigkeit einer dezentralen Behandlung der Fälle, mit Betonung der Autorität und des Urteilvermögens der Bischöfe vor Ort. Gegenüber unangebrachten Verhaltensweisen wurde eine „pastorale Herangehensweise“ bevorzugt; von manchen wurden kanonische Prozesse als anachronistisch angesehen. Häufig herrschte beim Umgang mit unangebrachten Verhaltensweisen von Klerikern ein ‚therapeutisches Modell‘ vor. Man erwartete, dass der Bischof eher „heilen“ als „bestrafen“ sollte. Eine allzu optimistische Vorstellung in Bezug auf Erfolge psychologischer Therapien bestimmte viele Personalentscheidungen in den Diözesen und Ordensgemeinschaften, bisweilen wurde dabei die Möglichkeit eines Rückfalls nicht in entsprechender Weise bedacht.“[10]
Der neue CIC von 1983 bestimmte in can. 1395, dass grundsätzlich jeder Verstoß von Priestern gegen die sexuelle Enthaltsamkeit sanktioniert werden kann. Ein Tatbestand gegen das Sechste Gebot liegt vor, wenn neben der „äußeren Sünde“, also dem Vollzug sexueller Verfehlungen, ein Ärgernis besteht und der Priester in seiner Haltung verharrt. Es ist eine stufenweise Sanktionierung vorgesehen, die bis zur Suspendierung (also dem Verbot der Ausübung des priesterlichen Amtes) reichen kann. In besonders schweren Fällen, etwa bei sexuellem Missbrauch an Minderjährigen unter 16 Jahren kann auch eine Entlassung aus dem Klerikerstand erfolgen. Eine kirchenrechtliche Sanktionierung von Laien (also „Nichtklerikern“), die der CIC von 1917 mit Bezug auf schwere Verfehlungen gegen das Sechste Gebot enthalten hatte, entfällt im neuen CIC.[11] Im Zuge der öffentlichen Aufdeckung von Missbrauchsfällen kam es 2001 und noch einmal 2010 zu Verschärfungen des Strafrechts. 2001 wurde die Minderjährigkeit auf das Alter von bis zu 18 Jahren ausgedehnt. Die Verjährungsfrist verlängerte sich von 5 auf 10 Jahre. Zudem wurde die wieder die Glaubenskongregation als zuständige Behörde der Strafverfolgung benannt.[12] 2010 wurde unter dem Pontifikat von Benedikt XVI. der Tatbestand des Missbrauchs neben Minderjährigen auf weiter schutzbedürftige Personen ausgedehnt.[13] Als Straftatbestand gilt nun zusätzlich der Besitz und die Verbreitung von Kinderpornografie. Zur Bestrafung werden in erwiesenen Fällen die Absetzung und Entlassung aus dem Klerikerstand vorgesehen. Die Verjährungsfrist wurde auf 20 Jahre angehoben, wobei das zuständige Gericht auch im Einzelfall diese Frist ganz aussetzen kann. Für Bischöfe besteht die Pflicht, bei „mindestens wahrscheinlicher Nachricht“ über einen Missbrauchsfall die Glaubenskongregation zu benachrichtigen. Die Bischofkonferenzen werden verpflichtet, Leitlinien für den Umgang mit Missbrauchsfällen zu erstellen.
6. Moral und Missbrauch
Für die Beurteilung der strukturellen Faktoren im Hinblick auf sexuellen Missbrauch von Minderjährigen durch Geistliche kann für das geistlich-theologische Umfeld des Zeitraums vor dem II. Vatikanischen Konzil (bis 1965) festgehalten werden:
- Die Moraltheologie neuscholastischer Prägung, die als gängige Lehre an den theologischen Fakultäten und durch das päpstliche und bischöfliche Lehramt verbreitet wurde, kennt als „regulären“ Ort menschlicher Sexualbeziehungen nur die Ehe. Alle anderen Formen geschlechtlicher Praxis werden in unterschiedlichen Graden abgelehnt und inkriminiert.
- Dies betrifft in hohem Maß die Homosexualität, die naturrechtlich begründet als „widernatürlich“ eingestuft wird. Diese Beurteilung und ihre Begründung wird durch das Lehramt bis in die Gegenwart weiter geteilt.
- Die „Jungfräulichkeit“ gilt als hohes Ideal. Sie schließt die vollständige Enthaltung von jeder sexuellen Betätigung ein. Der priesterliche Zölibat wird unter diesen Maßstäben beurteilt.
- Auch durch die betont herausgestellte Bedeutung des Zölibats erfährt das gängige Priesterbild eine spezifische Prägung. Priester gelten in moralischer und sakramentaler Hinsicht als besonders hochstehend und als für das kirchliche Leben unverzichtbar.
- Die besondere Situation der DDR verstärkt die Bezogenheit auf den katholischen Binnenraum und die besondere Stellung des Priesters als Garant der kirchlichen Lehre im Widerstand gegen die staatlich propagierte sozialistisch-atheistische Weltanschauung.
- Sexueller Missbrauch an Minderjährigen wird nicht unter der Maßgabe des „Opferschutzes“ betrachtet, sondern als schwere Verfehlung von Priestern (und Laien) gegen die sittliche Ordnung. Er ist im kirchlichen Strafrecht mit schweren Sanktionen belegt. Die kirchlichen Strafverfahren in einem solchen Fall sind seit 1922 geregelt, wurden aber de facto selten durchgeführt. Eine grundsätzliche Neuordnung und Verschärfung erfolgt erst 2010.
Es ist davon auszugehen, dass die Grundsätze der kirchlichen Sexualethik den Priestern der damaligen Zeit bekannt waren und auch weitergegeben wurden. Das zeitgenössische Priesterbild dürfte auch unter den Gläubigen bis in die 1960er Jahre gängig gewesen sein. Während die Sexualmoral und das Kirchenrecht nach dem Konzil eine Revision erfahren, in ihren Kernaussagen aber weiter gültig bleiben, ändert sich vor allem das Priesterbild in einschneidender Weise. Der zunehmend familiär verstandenen Gemeinde entspricht eine zunehmend informellere Rolle des Priesters. Allerdings darf die Zäsur des II. Vatikanums nicht überbewertet werden. Es ist anzunehmen, dass es auch vor dem Konzil Geistliche gab, die in Fragen der Sexualmoral liberaler dachten und handelten. Auch pflegten längst nicht alle Pfarrer entsprechend dem Priesterbild der damaligen Zeit einen autoritären Führungsstil. Vorkonziliare Prägungen dauerten in den Gemeinde weiter fort. Priester, die vor dem II. Vatikanum ihre Ausbildung erhalten hatten, waren noch bis etwa 2010 im aktiven Dienst. Aber auch jüngere Geistliche fühlen sich bis heute einem „klassischen“ Priesterbild verbunden. Die Informalisierung des Priesteramtes brachte zudem mit Blick auf die Missbrauchsproblematik neue Risiken. Sie förderte etwa den vertraulich-freundschaftlichen Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Die gesellschaftliche „Schwelle“ im Umgang mit Priestern wurde deutlich herabgesetzt und mit ihr auch die „moralische Fallhöhe“ im Zusammenhang mit Amtsverstößen. Hinzu kommen weitere kirchensoziologische Entwicklungen. Ab den 50er Jahren wurden in der katholischen Diaspora, etwa in Mecklenburg, aufgrund der zunächst stark gestiegenen Katholikenzahl zahlreiche neue Pfarreien gegründet. Dieser Faktor, verbunden mit der insgesamt langsam, aber stetig abnehmenden Zahl der Priester führte dazu, dass Priester meist nur noch alleine wohnten. Das klassische Pfarrhaus vorkonziliarer Prägung, in dem neben dem Pfarrer häufig mehrere Kapläne und eine Haushälterin lebten, wurde zum Auslaufmodell. Was vielfach von Priestern zunächst als „Befreiung“ empfunden wurde, hatte aber zur Folge, dass die Erfahrung einer Gemeinschaft, wie auch die Gelegenheit zur gegenseitigen „correctio fraterna“ entfielen.
Diese letzten kurzen Hinweise wollen lediglich auf einige Entwicklungen zeigen, die heute ebenso wie die Bedingungen der 50er und 60er Jahre einer kritischen Untersuchung bedürfen. Weitere Faktoren ließen sich ergänzen. In der Aufarbeitung von Fällen sexuellen Missbrauchs scheint es nötig, spezifisch „gefährliche“ strukturelle Faktoren als solche anhand der Einzelfälle zu verifizieren.
7. Liberalisierung?
Es lassen sich also wie gesehen, spezifische Risikofaktoren ausmachen, die in Lehre und Praxis der Kirche für eine Beförderung des Missbrauchs in der katholischen Kirche verantwortlich gemacht werden können. Für die derzeitige Diskussion liegt ein Knackpunkt in der Frage nach der „Liberalisierung“ der Sexualmoral, wie sie sich gesellschaftlich in radikaler Weise um 1968 in der Bundesrepublik, in etwas schwächerer Form auch in der DDR vollzog. Die beiden eingangs des Textes vorgestellten Positionen hierzu besagten:
1. Die Kirche hat durch ihre strikte Sexualmoral dem Entstehen von Missbrauch Vorschub geleistet. Sie hätte die Liberalisierung der gesellschaftlichen Sexualnormen ab den 1960er Jahren mitgehen müssen und sollte heute eine weitgehende Angleichung an die westliche Entwicklung des Umgangs mit Sexualnormen vornehmen.
2. Der Skandal des Missbrauchs gerade deshalb so groß, weil sich die Kirche selbst nicht an ihren eigenen Grundlagen in Moraltheologie und Kirchenrecht gehalten, sondern sich in der Praxis allzu eilfertig moderne Liberalisierungstendenzen zu eigen gemacht hat.
Wie soll man am Schluss der vorgelegten Untersuchung in diesem Streit entscheiden? Zunächst ist sicher festzuhalten, dass die Katholische Kirche in ihrer Lehrverkündigung den sexuellen „Liberalisierungsschub“ der 60er/70er Jahre nicht mitvollzogen hat. Die kirchlichen Positionen der neuscholastischen Phase gehen weitgehend mit dem gesellschaftlichen Mainstream der Vor-68er-Zeit konform und haben diesen mitgeprägt. Der gesellschaftliche Ausbruch aus dem „alten“ Denken und die Etablierung eines neuen Mainstreams (vor allem in der BRD) stellte die Gläubigen vor einen moralischen Konflikt. Sollte man sich theologisch-ethisch aus der Gesellschaft verabschieden und an der klassischen Morallehre festhalten oder musste man nicht zumindest die als positiv empfundenen Errungenschaften des neuen Moraldiskurses übernehmen? Es entstand ein Theorie-Praxis-Problem größten Ausmaßes. Je gängiger und selbstverständlicher die Praxis etwa des vorehelichen Geschlechtsverkehrs, der Empfängnisverhütung oder die Normalisierung homosexueller Beziehungen auch in vielen kirchlichen Gemeinschaften und Gruppen Einzug hielt, desto mehr wurde der im Vergleich dazu hinterhinkende lehramtlich-theoretische Diskurs als Ärgernis empfunden. Die Kirche müsste also ihre Theorie ändern, um die Praxis zu rechtfertigen. Stattdessen riefen die Päpste eher dazu auf, die Praxis zu ändern und wieder an die Theorie anzunähern. Auch wenn die Morallehre in wissenschaftlichen aber auch lehramtlichen Veröffentlichungen mittlerweile einiges des „Neuen“ rezipiert und sich etwa in der Bewertung der Homosexualität zögernd aber stetig der gesellschaftlichen Hauptposition annähert, lässt das Betriebssystem „Naturrecht“ nur begrenzte Veränderungen zu.[14] Der Veränderung des „Betriebssystems“ haben Johannes Paul II., aber zuletzt auch Papst Franziskus eine eindeutige Absage erteilt und dies aus durchaus nachvollziehbaren Gründen.[15] Das Problem bleibt also bestehen.
Es steht außer Frage, dass es viele Argumente für den Wandel sexualethischer Positionen in der Kirche gibt. Ein Lehramt, das sich gegen den gesellschaftlichen Diskurs einfach abschotten würde und auch humanwissenschaftliche Erkenntnisse nicht rezipiert, ist wenig überzeugungsstark. Wer daher eine Liberalisierung der Sexualmoral fordert, wird eine Menge wichtiger Einwände gegen die bisherigen Texte finden. Die entscheidende Frage im Kontext der behandelten Materie des Missbrauchs ist allerdings, ob und wie weit eine solche Liberalisierung Missbrauchsfälle verhindert hätte. Hier nämlich setzt genau die Gegenposition an, die prominent von Josef Ratzinger / Papst Benedikt XVI. vertreten wurde. Mit Blick auf die Auswüchse der westdeutschen Pädophilie-Debatte, die auf eine Normalisierung und Entkriminalisierung sexueller Kontakte mit Kindern und Jugendlichen zielte, betont er, dass es gerade richtig gewesen sei, den gesellschaftlichen Tendenzen nicht einfach zu folgen. Im Gegenteil war (zugespitzt) jedes Entgegenkommen etwa in der Neufassung des kirchlichen Strafrechts eigentlich schon ein Schritt zu viel. Ratzinger kritisierte eine allzu duldsame, nachsichtige, „lasche“ Haltung der Bischöfe gegenüber beschuldigten und überführten Priestern. Hätten sie nach den strengen Maßstäben des CIC von 1917 gehandelt, wären weit mehr Priester bestraft und etwa aus dem Amt entfernt worden.[16] Für diese These scheint zu sprechen, dass sowohl der gesellschaftliche als auch der kirchliche Umgang mit sexuellem Missbrauch in den letzten Jahrzehnten wieder zu einer deutlichen Verschärfung der rechtlichen und moralischen Sanktionierung von Missbrauchstaten und -tätern zurückgekehrt ist.
Beiden Positionen zur Liberalisierung liegt mit Bezug auf die Missbrauchsproblematik (und hier nur auf diese und nicht andere Fragen der Sexualmoral bezogen) aus meiner Sicht ein Denkfehler zu Grunde. Beide Positionen messen der Theorie einen zu großen Einfluss zu. Spätestens die MHG-Studie hat deutlich belegt: Der Missbrauch durch Geistliche ist eine traurige Realität aller untersuchten Jahrzehnte. Auch zu der Zeit, als sexuelle Gewalt an Minderjährigen kirchlich unter unmissverständlicher Androhung der Entfernung aus dem Amt und staatlich bis hin zu Kastration und Todesstrafe sanktioniert wurde, hat es Missbrauch gegeben. Es gab ihn zu Zeiten gesellschaftlicher Liberalisierung in den 70er Jahren, genauso in der Zeit einer größeren Aufmerksamkeit und neuer Ansätze der Sexualtherapie ab den 90ern und es ist zu befürchten, dass es ihn auch in Zukunft geben wird. Ob die jetzt präventiv ergriffenen Maßnahmen in der Kirche und zunehmend auch in der Gesellschaft einen mäßigenden Effekt haben werden, wird sich erst in der Zukunft erweisen, zeigen doch die Studien, dass es den Betroffenen häufig erst nach Jahrzehnten möglich ist, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Ob der Missbrauch vor allem ein Problem der 50er, der 70er oder der 90er Jahre ist, lässt sich aufgrund der Dunkelziffer nur schwer sagen. Es ist sehr zu hoffen, dass der jetzige Forschungsstand und die Bemühungen der letzten Jahre Früchte bringen. Gleichzeitig zeigt sich im Umgang mit der Aufarbeitung des Missbrauchs oder zumindest in deren öffentlicher Wahrnehmung schnell das Verhaltensmuster, das sich in der Analyse des gesellschaftlichen Umgangs mit diesem Thema im ersten Teil dieses Textes offenbarte. Der Missbrauch ist hier immer „ein Problem der anderen“ gewesen. Man möchte gerne die Verantwortung für den Missbrauch aus dem eigenen Bereich ausschließen. Kirchlich wird dann der Missbrauch schnell zu einem „Thema vergangener Jahrzehnte“ oder „fehlgeleiteter, kranker, psychisch unterentwickelter Priester“, „Ausdruck eines Moralsystems, das von der Gesellschaft abgelehnt werden muss“ usw. Vielleicht ist dies auch ein Grund, warum gerade der Missbrauch in der katholischen Kirche, die in gewisser Weise gerne als Gegenbild zur demokratisch-liberalen Gesellschaft wahrgenommen wird, mit besonderer Aufmerksamkeit beobachtet wird, während der Missbrauch in der evangelischen Kirche eher selten thematisiert und nach dem Missbrauch etwa in Schulen kaum gefragt wird.
Das soll, um nicht missverstanden zu werden, nicht heißen, dass die katholische Kirche aus der Verantwortung genommen werden könnte, alles was sinnvoll und nötig erscheint zu tun, um präventiv und auch sanktionierend gegen Missbrauchstaten und -täter vorzugehen, vor allem aber für den Opferschutz und die Aufarbeitung einzustehen. Auch ist der sexuelle Missbrauch nicht einfach ein „allgemeines“ Phänomen, bei dem es keine spezifischen Tätergruppen oder gefährdete Milieus gibt. Die MHG-Studie benennt deutlich bestimmte Tätertypen, die sie in der Auswertung des Datenmaterials identifizieren kann.[17] Der katholische Klerus ist in Teilen offenbar tatsächlich eine „problematische Gruppe“. Eine genaue Beobachtung und Auswahl der Priesterkandidaten wird daher kirchenintern bereits breit diskutiert. Es kommt noch ein weiteres hinzu: Der feministische Diskurs hat nach Ansicht der zitierten Sexualforscher maßgeblich zur Entwicklung des heutigen Denkens über den Missbrauch aus der Opferperspektive beigetragen, die Extreme der Pädophiliedebatte der 70er Jahre beendet und offensiv die Frage der Macht als Schlüsselmoment des Missbrauchs gestellt. Auch die MHG-Studie hat bestätigt, dass sexueller Missbrauch vornehmlich unter dem Vorzeichen des „Machtmissbrauchs“ entsteht. Man kann sicher auch hier vorwerfen, der Feminismus falle in eine ähnliche Verdrängungsthematik, indem das Verbrechen „als Problem der anderen“, in diesem Falle der Männer klassifiziert. Zudem ist es auch in ganz egalitären Gruppen (in Basisgemeinschaften und Kommunen) zu Missbrauch gekommen. Im Unterschied zu anderen ideologiekritischen Missbrauchsanalysen lässt sich die feministische These allerdings empirisch eindrucksvoll stützen. Insofern könnte eine reale Veränderung von Machtkonstellationen gesellschaftlich aber auch kirchlich im Sinne der Missbrauchsprävention wirksamer sein als schlicht die Veränderung der Lehrmeinung. Der Kampf gegen den Missbrauch benötigt einen weiten Horizont und ein Bündel unterschiedlicher Maßnahmen, unter anderem auch die ideologiekritische Betrachtung moraltheologischer und gesellschaftlicher Positionen.
[1] Für eine Überblicksdarstellung: Baldus, Manfred, Gerechte Strafe nach kirchlichem Recht, in LTO (online) 2010, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/sexueller-missbrauch-durch-kleriker-gerechte-strafe-nach-kirchlichem-recht/.
[2] Can. 2294 §1 CIC 1917.
[3] Rees, Wilhelm, Zur Novellierung des kirchlichen Strafrechts im Blick auf sexuellen Missbrauch einer minderjährigen Person durch Kleriker und andere schwerwiegende Straftaten gegen die Sitten, AfkKR 180 (2011), 466-513, 473.
[4] S. auch für das Folgende: Kongregation für die Glaubenslehre, Die Normen des Motu Proprio „Sacramentorum sanctitatis tutela“ (2001), Geschichtliche Einführung, Text verfügbar auf http://www.vatican.va.
[5] Rees, 481.
[6] Glaubenskongregation, Die Normen.
[7] Rees, 481.
[8] Glaubenskongregation, Die Normen.
[9] Schmitz, Heribert, Sexueller Missbrauch durch Kleriker nach dem kanonischen Strafrecht, AfkKR 172 (2003), 380-391, 385.
[10] Glaubenskongregation, Die Normen.
[11] Aymans, Winfried / Müller, Ludger, Kanonisches Recht, Bd. IV, Paderborn 2013, 244f.
[12] Schmitz, 380.
[13] Kongregation für die Glaubenslehre, Normen über die der Kongregation für die Glaubenslehre vorbehaltenen Straftaten gegen den Glauben und schwerwiegende Straftaten, AfkKR 179 (2010), 169-179.
[14] S. hierzu Schockenhoff, 235, 239.
[15] S. Dazu „Veritatis Splendor“ 32 und „Amoris Laetitia“ 56.
[16] https://sensusfidei.blog/2019/04/14/der-papst-und-1968-benedikts-beitrag-zur-missbrauchsdebatte/
[17] MHG, 281f.
Die unteilbare Menschenwürde
gilt uns allen
dem Bösen und den Guten
dem überschreiten der Menschenwürde
sie mit Füssen zu treten
dazu gibt es keine Rechtfertigung
kein Gericht darf
mit seinem Urteil
den Menschen zum Ding
zu seiner Sache machen
was wir an Bösem getan
dieses Kreuz müssen wir selber ertragen
kein Mensch ist ohne Sünde ohne Schuld
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