Der „Fall Ratzinger“: Wie weit ist der Missbrauch ein „katholisches Problem“?

Es war einmal wieder Kardinal Gerhard Ludwig Müller, der in besonderer Weise am Freitag für Empörung sorgte. In einem Interview in einer italienischen Tageszeitung kommentierte er die Ergebnisse der am Tag zuvor vorgestellten Missbrauchsstudie im Erzbistum München und Freising.[1] Ein besonders pikantes Detail dieser Studie: Auch dem ehemalige Münchener Erzbischof Joseph Ratzinger, später Papst Benedikt XVI. können nach Erkenntnis der Gutachter Verfehlungen im Umgang mit Missbrauchstätern nachgewiesen werden. Konkret konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf den Fall eines Priesters aus dem Bistum Essen, der wegen sexuellen Kindesmissbrauchs verurteilt worden war, nach Haftstrafe und Therapie allerdings im Erzbistum München eingesetzt wurde.[2] Aus der dortigen Tätigkeit in einer Gemeinde wurden wiederum Missbrauchshandlungen bekannt. Benedikt XVI. hatte bei einem ersten Münchner Gutachten von 2010 abgestritten, von diesem Fall gewusst zu haben. Die nun recherchierte Aktenlage weist allerdings nach, dass der Fall mindestens einmal im Beisein des damaligen Erzbischofs besprochen wurde. Kardinal Müller nahm in seinem Interview Ratzinger in Schutz und bestritt, dass dieser vorsätzlich etwas Falsches getan habe. Vielmehr, so Müller, habe über lange Jahrzehnte bei den Bischöfen eine große Unsicherheit im Umgang mit den Missbrauchsfällen geherrscht. In Kirche und Gesellschaft sei man davon ausgegangen, durch eine therapeutische Behandlung der Täter eine Änderung ihres Verhaltens herbeizuführen. Zudem müsse man Ratzinger zu Gute halten, dass er auf den Erkenntnisfortschritt im Umgang mit dem Kindesmissbrauch reagiert und als Papst später wichtige weltkirchliche Veränderungen zur Verbesserung der Prävention und Bestrafung der Täter geleistet habe.

Damit greift Müller eine Argumentationslinie auf, die auch von Ratzinger selber ins Feld geführt wurde. Im Jahr 2001 resümierte die damals von Ratzinger geleitete Glaubenskongregation:

Der Zeitraum von 1965 bis 1983 (dem Jahr, in dem der neue Codex des kanonischen Rechts für die Lateinische Kirche veröffentlicht wurde) war gekennzeichnet durch verschiedenste Strömungen innerhalb der Kanonistik bezüglich den Zielsetzungen des kirchlichen Strafrechts und der Notwendigkeit einer dezentralen Behandlung der Fälle, mit Betonung der Autorität und des Urteilvermögens der Bischöfe vor Ort. Gegenüber unangebrachten Verhaltensweisen wurde eine „pastorale Herangehensweise“ bevorzugt; von manchen wurden kanonische Prozesse als anachronistisch angesehen. Häufig herrschte beim Umgang mit unangebrachten Verhaltensweisen von Klerikern ein „therapeutisches Modell“ vor. Man erwartete, dass der Bischof eher „heilen“ als „bestrafen“ sollte. Eine allzu optimistische Vorstellung in Bezug auf Erfolge psychologischer Therapien bestimmte viele Personalentscheidungen in den Diözesen und Ordensgemeinschaften, bisweilen wurde dabei die Möglichkeit eines Rückfalls nicht in entsprechender Weise bedacht.“[3]

In einem Artikel zum Missbrauchsskandal wiederholte Benedikt XVI. aus seinem Ruhestand im Jahr 2019 dieses Argument noch einmal.[4] Es ist wahrscheinlich, dass in diese Betrachtungsweise auch Ratzingers eigene Erfahrungen als Erzbischof in den Jahren 1977-1982 eingegangen sind. Ratzinger hätte also im nun verhandelten Münchner Fall genau die fatale Milde walten lassen, die er später als schädlich bewertete. Unzweifelhaft dürfte sein, dass sich die gesellschaftliche Diskussion und auch die psychologischen Erkenntnisse Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre deutlich von der heutigen Bewertung des Missbrauchs unterschieden. Es darf daran erinnert werden, dass noch bis in die 1980er Jahre öffentliche Diskussionen über die Abschaffung des strafrechtlichen Verbots von Pädophilie geführt wurden. Der SPIEGEL berichtet 1980 kritisch über die vielen gesellschaftlichen Bewegungen zur Enttabuisierung der Pädophilie und gibt einen aus heutiger Sicht erstaunlichen Einblick in die Diskussion in psychologischen Fachkreisen[5]. Über heute als eindeutig als missbräuchliches Verhalten gekennzeichnete sexuelle Handlungen mit Kindern heißt es dort:

Nicht nur unter den Propagandisten der Pädophilie, sondern auch unter eher konservativen Kinder-Kennern wird demgegenüber die Meinung vertreten, dass — falls nicht Gewalt im Spiel war — die sogenannten Sekundärfolgen für ein betroffenes Kind sich oft schädlicher auswirken als die Tat selbst. Die atemlose Aufregung von Eltern über einen Vorgang, welchen das Kind nicht für verboten gehalten hatte, das Strafverfahren mit seinem Wiederkäuen von Details und Vernehmungen, die amtliche Schwärzung des Zärtlichkeitsspenders und die dabei erwachenden Schuldgefühle — als das besorgt, wie zahlreiche Kinderpsychologen meinen, oft erst im Nachhinein den befürchteten Kinderschreck.

Heute wird in der Fachwelt eindeutig klargestellt, dass keine Form missbräuchlichen Verhaltens gerechtfertigt oder harmlos sein kann. Die intensive Auseinandersetzung mit Opfern sexueller Gewalt hat diese Annahme mittlerweile widerlegt.

Ratzinger oder auch Müller vertreten hier gewissermaßen eine „Infektionsthese“, nach der die Kirche in einer gewissen geschichtlichen Phase durch eine zu freundlich gemeinte Adaption gesellschaftlicher Deutungsmuster gewissermaßen in die Falle der „Verweltlichung“ gegangen ist. Taugt diese These zur Erklärung des Missbrauchs? Dies dürfte deutlich zu verneinen sein. Zum einen ist der Missbrauch durch die vorliegenden Studien ein Problem aller untersuchten Zeitabschnitte gewesen, also kein spezifisches Problem der 60er- bis 90er Jahre. Es ist davon auszugehen, dass auch heute, unter den nunmehr deutlich fortgeschrittenen wissenschaftlichen Erkenntnissen, der gesellschaftlichen Debatte und der verschärften Sicherheitsmaßnahmen durch Präventions- und Interventionsmaßnahmen, sowie Verschärfungen im weltlichen und kirchlichen Strafrecht Missbrauch in Reihen der Kirche stattfindet. Auch wenn die Gesellschaft und die Wissenschaft mit dem Missbrauch als Gesamtphänomen damals deutlich anders umgegangen sind, hätte die Kirche aus ihren eigenen Quellen heraus immer ein hartes Missbrauchs-Regime führen müssen, zu dem auch die konsequente Bestrafung und Außerdienstnahme von Tätern gehört hätte.

Allerdings zeigt der „Fall Ratzinger“ deutlich, wie komplex eine angemessene Aufarbeitung, vor allem aber eine angemessene Reaktion auf die Missbrauchsskandale in den Reihen der katholischen Kirche ist. Zuweilen entsteht öffentlich der Eindruck, dass „Missbrauch“ ein spezifisch katholisches Thema sei. Es ist zu begrüßen, dass die Aufarbeitung mittlerweile in eine zweite Phase getreten ist. Die sogenannte „MHG“-Studie von 2018, die im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz entstand, dokumentierte anhand der Personalakten aller deutschen Bistümer die bekannt und aktenkundig gewordenen Fälle von Missbrauch und offenbarte dabei erschreckend hohe Zahlen. Zudem wird zunehmend das Leid der Opfer und das Versagen der Kirchenleitungen und Verantwortlichen angesichts des Skandals dokumentiert. Die nunmehr in den Bistümern in Auftrag gegebenen Gutachten, wie etwa der jüngst veröffentlichte Münchner Report, analysieren die rechtliche Dimension und gehen den einzelnen Fällen nach. Verantwortliche können nun ausgemacht und benannt werden, auch wenn die „Bestrafung“ an vielen Stellen als mangelhaft angesehen wird. Weitere Gutachten werden folgen, die nun auch historische und medizinische Aspekte stärker in den Fokus nehmen.

Bei der Aufarbeitung sind die spezifischen „katholischen“ Faktoren in den Blickpunkt geraten, die zu dem beschämenden Ausmaß an Missbrauchstaten unter dem Dach der Kirche beigetragen haben. Identifiziert werden die strammen kirchlichen Hierarchien und innerkirchlichen Schutzmechanismen gegenüber Täterm (etwa, weil man den öffentlichen Skandal scheute oder freundschaftlich mit den Tätern verbunden war). Zudem wird der strengen katholischen Morallehre, insbesondere der priesterlichen Lebensform und der Inkriminierung von Homosexualität eine verstärkende Wirkung zugeschrieben. Auch das Nicht-Vorhandensein von Frauen in den Führungsebenen darf als großes Manko angesehen werden. Die im „Fall Ratzinger“ geschilderten gesellschaftlichen Einflüsse der aus heutiger Sicht grundfalschen Bewertung hinsichtlich der Schwere, Strafbarkeit und therapeutischen Bearbeitung von Missbrauchstaten ist nur einer von vielen Faktoren. Es reicht also aus Sicht der inner- und außerkirchlichen Kritiker nicht, lediglich auf diesen Bereich zu schauen und Verfahrensordnungen, Prävention und Intervention, Fürsorge und Entschädigung für die Betroffenen zu verbessern. Deutlich wird, dass auch eine (von Ratzinger übrigens immer abgelehnte) grundlegende Anpassung von Leitungsstrukturen und ein Umschwenken in der kirchlichen Lehrverkündung zu den kirchlichen Aufgaben im Zuge des Missbrauchs gehört. In diesem Sinn hat sich der von der Bischofskonferenz angestoßene „Synodale Weg“ genau die Veränderung der als kritisch identfizierten „katholischen“ Merkmale zum Ziel gesetzt. Der Ausgang ist allerdings noch ungewiss.

Ist der Kindesmissbrauch nun aber ein spezifisch „katholisches“ Problem? In dieser allgemeinen Form ist die Frage natürlich zu vereinen, gehen die Experten der Präventionsstellen ja davon aus, dass der Missbrauch gesellschaftlich betrachtet vor allem ein familiäres Phänomen ist. Das statistische Bundesamt registrierte für 2020 bei Jugendämtern und Beratungsstellen rund 195 000 eingeleitete Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung in der Familie, von denen bei 30 000 Fällen ein solcher Tatbestand festgestellt wurde. Davon bezogen sich über 17 000 Fälle auf körperliche und seelische Gewalt, 1300 explizit auf sexuelle Gewalt.[6] Die MHG-Studie notierte für den Zeitraum von 1946 bis 2014 die Zahl von rund 3800 identifizierten Betroffenen für die unterschiedlichen angezeigten Missbrauchsdelikte. Die Zahlen sind schwer miteinander zu vergleichen. Es wird aber deutlich, dass statistisch der Anteil der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche nur einen kleinen Teil der gesamten Missbrauchsfälle ausmacht. Angesichts des Leidens der Betroffenen ist ein solche statistische Argumentation nicht angebracht. Sie macht aber deutlich, dass die systematische Untersuchung und Analyse von Missbrauchstaten, verbunden mit den entsprechenden Konsequenzen. auch für andere gesellschaftliche Bereiche sinnvoll ist. In der evangelischen Kirche etwa steht eine mit der MHG-Studie vergleichbare Untersuchung noch aus. Die Unabhängige Beauftragte des Bundes für die Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, Christine Bergmann, verdeutlichte 2018, dass die an ihrer zentralen Anlaufstelle eingegangenen Hinweise auf Missbrauchstaten im kirchlichen Bereich zu rund 2/3 die katholische, zu 1/3 die evangelische Kirche beträfen.[7] Auch die angestoßenen Diskussionen und Forschungen im Bereich der Sportverbände machen die nötige Weiterarbeit in besonderer Weise deutlich. Leider hat man sich in Deutschland bislang nicht auf eine gemeinsame Aufarbeitung aller institutionellen Träger verständigen können.

Einen solchen Weg ist Australien gegangen. Hier erstellte eine staatlich eingesetzte Kommission einen Missbrauchsreport, der alle relevanten Institutionen einschloss.[8] Rund 4000 Einrichtungen wurden einbezogen. Die Zahlen sind wiederum nicht ganz eindeutig zu lesen. Bei den Betroffenen stellte die Kommission fest, dass über 41% von ihnen Missbrauch in „out-of-home-care“-Einrichtungen erfahren haben. Damit sind z.B. Kinder- und Jugendheime gemeint, aber offenbar auch eine Anzahl von Einrichtungen, bei denen die Versorgung der anvertrauten Kinder und Jugendlichen zumindest teilweise auch zu Hause erfolgte. Missbrauch im Kontext der Schule wurde mit einem Prozentsatz von 31,8% erfasst. An dritter Stelle folgen dann „religious activities“ mit 14,5%. Ich bin mit den Zahlen vorsichtig. Mir ist nicht ersichtlich, inwieweit Überschneidungen erfolgt sind. Sind z.B. kirchliche Jugendheime unter „Religion“ oder unter „Betreuungseinrichtungen“ gefasst? Wie lassen sich einzelne Fälle in Kategorien einordnen? Auffällig ist allerdings, dass unter der Kategorie „Religiöse Aktivitäten“ über 60% der Fälle im Rahmen der katholischen Kirche registriert wurden. Woran liegt dies? Zwar ist die katholische Kirche die größte christliche Religionsgemeinschaft in Australien, aber die überproportionale Erfassung von Missbrauchsfällen in diesem Sektor wirft doch deutliche Fragen auf. Auch wenn andere Faktoren eine Rolle gespielt haben sollten, wie etwa, dass die gesellschaftliche Diskussion um den Missbrauch auch in Australien den Fokus vor allem auf die katholische Kirche gelegt hat, so dass hier die Sensibilität besonders hoch war: Man darf, zumindest nach solchen ersten Studien davon sprechen, dass die katholische Kirche ein besonderes Problem mit der Thematik des Kindesmissbrauchs hat. Für Deutschland und Europa wäre dies noch zu verifizieren.

Unabhängig von aller Statistik, darf die angestoßene wissenschaftliche Auswertung nicht dazu führen, nach Entschuldigungen für Missbrauchstaten zu suchen. Auch wenn in historischer und struktureller Perspektive Zusammenhänge verständlicher oder erklärbarer erscheinen, bleibt die persönliche Verantwortung der Missbrauchstäter und der jeweiligen Verantwortlichen, zum Teil auch des Täterumfelds bestehen. Die Diskussion um den „Fall Ratzinger“ hat vor allem gezeigt, wie leicht eine erhoffte Missbrauchsaufarbeitung schnell auf inhaltliche Nebenfelder führen kann. Bei allem bleiben Ehrlichkeit und Konsequenz auch in der nachgängigen Aufarbeitung, die immer die Aufarbeitung, nie aber die Kompensation eines großen Unrechts ist, von persönlichen Schädigungen und dauerhaftem seelischen und körperlichen Leid, entscheidend. Die Münchner Studie ist wieder nur ein Schritt auf einem langen Weg.


[1] https://www.katholisch.de/artikel/32815-nach-muenchner-gutachten-kardinal-mueller-nimmt-benedikt-xvi-in-schutz

[2] https://www.vaticannews.va/de/kirche/news/2022-01/deutschland-muenchen-gutachten-benedikt-ratzinger-marx-pk-wsw.html

[3] Kongregation für die Glaubenslehre, Die Normen des Motu Proprio „Sacramentorum sanctitatis tutela“ (2001), Geschichtliche Einführung, Text verfügbar auf http://www.vatican.va.

[4] Zu diesem Zusammenhang: https://sensusfidei.blog/2019/04/14/der-papst-und-1968-benedikts-beitrag-zur-missbrauchsdebatte/.

[5] https://www.spiegel.de/kultur/maechtiges-tabu-a-abd8e262-0002-0001-0000-000014316199?context=issue.

[6] file:///C:/Users/georg/Downloads/gefaehrdungseinschaetzungen-5225123207004%20(1).pdf.

[7] https://www.deutschlandfunk.de/sexueller-missbrauch-aufklaerung-auf-evangelisch-100.html.

[8] https://www.childabuseroyalcommission.gov.au/sites/default/files/final_report_-_preface_and_executive_summary.pdf

2 Kommentare zu „Der „Fall Ratzinger“: Wie weit ist der Missbrauch ein „katholisches Problem“?

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