Am 24. Februar dieses Jahres veröffentlichte ein vom Erzbistum Hamburg beauftragtes Forschungsteam aus Ulm unter der Leitung der Psychiaterin Manuela Dudeck eine Studie zum Missbrauch an Kindern und Jugendlichen durch Geistliche im ehemaligen Osnabrücker und heutigen Hamburger Bistumsteil Mecklenburg. Untersucht wurden die Jahre der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR (1945-1989). Den Anlass hierzu hatte die 2018 veröffentlichte MHG-Studie gegeben, die im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz einen ersten Überblick über den Missbrauch durch Geistliche in den deutschen Bistümern gegeben hatte.[1] Mit Blick auf die Zahlen der Fälle im Erzbistum Hamburg war auffällig, dass im Bistumsteil Mecklenburg deutlich mehr Fälle registriert worden waren als in den Bistumsteilen Hamburg und Schleswig-Holstein. Zudem war der besonders schwere Fall des 1979 verstorbenen Neubrandenburger Pfarrer Josef Timmerbeil bekannt geworden, der auch medial breite Aufmerksamkeit erhielt.[2] Erzbischof Stefan Heße kündigte für die Aufarbeitung des Neubrandenburger Falls eine eigene wissenschaftliche Aufarbeitung an. Dies war der Anlass zur jetzt vorgelegten Studie. Man entschied sich, nicht Neubrandenburg als Einzelfall aufzuarbeiten, sondern den Fokus auf die anderen Gemeinden in Mecklenburg zu weiten. Dabei ging es um die Aufarbeitung von Missbrauchstaten, aber auch um die Personalpolitik und das Handeln der zuständigen Verantwortlichen. Auch die besondere Situation der Mecklenburger Gemeinden spielte eine Rolle. Mecklenburg war spätestens seit 1961 mit dem Bau der Mauer vom Rest des Bistums Osnabrück zu einem guten Teil getrennt worden. Zur Aufrechterhaltung des kirchlichen Lebens entstand eine in Teilen eigenständige Verwaltungsstruktur, beginnend mit dem 1959 zum Weihbischof ernannten Schweriner Pfarrer Prälat Bernhard Schräder. Auf ihn folgte als bischöflicher Administrator Heinrich Theissing (Bischof in Schwerin von 1971-1987). Dieser wurde von Theodor Hubrich abgelöst (1987-1992), bevor der vormalige Weihbischof Norbert Werbs bis zur Gründung des Erzbistums Hamburg 1995 das Amt als bischöflicher Administrator übernahm. Mecklenburg war, grob gesprochen so etwas wie ein „Bistum im Bistum“, das sich unter den besonderen Gegebenheiten der DDR weitgehend selbst verwaltete.
Die Mecklenburger Studie ist auf der Homepage des Erzbistums Hamburg zum Nachlesen veröffentlicht.[3] In diesem Text geht es lediglich darum, einen Überblick über die Ergebnisse der Studie zu geben. Er kann als ein Wegweiser durch die Studie gelesen werden. Die folgenden Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf den Text der Studie und wollen dazu ermutigen, zumindest bestimmte Passagen im Original zu lesen. Die Studie enthält einen Eingangsteil, der die Einordnung in den geschichtlichen und kirchlichen Kontext vornimmt. Er ist eine Kurzfassung über relevante Faktoren, die zum Thema „Missbrauch in der katholischen Kirche“ wissenswert und wichtig sind [5-44].[4]
Die MHG-Studie von 2018 hatte anhand der Erfassung der Aktenbestände versucht, einen Überblick über das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs in den katholischen Bistümern Deutschlands von 1946-2014 zu geben. Für das Erzbistum Hamburg ermittelte man dabei 103 Personen, die von sexuellem Missbrauch betroffen waren, sowie 33 Beschuldigte[5]. Rund die Hälfte der Betroffenen und Beschuldigten stammte aus Mecklenburg [46f.]. Bei all diesen Zahlen ist zu beachten, dass hier nur Personen eingeschlossen werden, die in irgendeiner Form aktenkundig geworden sind, oder die sich auf Betroffenenseite an das Erzbistum gewandt haben. So gab es auch im Nachgang zur MHG-Studie weitere Meldungen von Betroffenen.
Die Mecklenburger Studie besteht aus zwei Teilprojekten. Im ersten Teil geht es um die Aufarbeitung des geschehenen Unrechts und Leids, im zweiten Teil um den kirchlichen und gesellschaftlichen Kontext, in dem die Missbrauchstaten stattgefunden haben.
Für den ersten Teil interviewten die Wissenschaftlerinnen 13 Missbrauchsbetroffene in systematischen und ausführlichen Gesprächen. Die Dokumentation des geschehenen Unrechts ist sicher mit der wichtigste Teil der Studie, weil er dem Leid der Betroffenen Raum gibt und ihre Erfahrungen dokumentiert [50f.]. Besonders die ausführlichen Zitate aus den Interviews geben einen häufig erschreckenden Einblick in das Erleben des Missbrauchs und seine Folgen für das weitere Leben. Alle Gesprächspartner (9 Männer) und Gesprächspartnerinnen (4 Frauen) gaben Auskunft über Missbrauchstaten, die Umstände, die Täter und die persönlichen Folgen der Missbrauchstaten. Die Interviewpartner waren im Schnitt über 70 Jahre alt und berichteten von Missbrauchstaten aus ihrer Kindheit (im Alter von 5-14 Jahren). Auffällig ist dabei, dass der Zeitraum des Missbrauchs im Durchschnitt 5,5 Jahre betrug [53]. Die Betroffenen waren der sexuellen, körperlichen und psychischen Gewalt meistens wiederholt und über Jahre ausgesetzt [75f.]. Das hohe Alter der interviewten Betroffenen zeigt, dass der Missbrauch, der bei ihnen in der Nachkriegszeit bis in die 60er Jahre stattgefunden hat auch nach Jahrzehnten noch nachwirkt und traumatisiert.
Die Betroffenen berichteten von ihrer damaligen Lebenssituation. Sie war besonders in der Nachkriegszeit von Armut und Entbehrung gekennzeichnet, zudem von den kleinen geschlossenen Milieus der katholischen Gemeinden, von einem sozialen Umfeld, in dem Eltern Schwierigkeiten mit der Erziehung der Kinder hatten, von hohen Werten der Religion und der religiösen Praxis. Zudem spielte auch die Absetzung der katholischen Gemeinden vom atheistischen Staat der DDR eine besondere Rolle [60-66, 97ff.]. Die Rolle der Priester war in diesem Kontext eine besondere. Die Verfasserinnen der Studie geben zu bedenken, dass beschuldigte Priester eigentlich positiv bewertete Hilfeleistungen, wie das Verschenken von Kleidung oder Lebensmitteln, auch als Mittel genutzt haben können, um eine Kontaktaufnahme zu potentiellen Opfern zu erleichtern (sog. „grooming“) [98, sowie Ausführungen von Prof. Dudeck bei der Vorstellung der Studie].
Die Betroffenen berichten von unterschiedlichen Formen des Missbrauchs. In den Interviews geht es um vier beschuldigte Priester, darunter einen, dem Missbrauchstaten an 10 Kindern zugeordnet werden können [66, 74f.]. Hier ging es um Taten, die eine Vermischung von körperlicher und sexueller Gewalt mit sich brachten: Züchtigung mit dem Rohrstock, Festbinden und andere Strafmaßnahmen bei gleichzeitiger sexueller Konnotation, etwa, dass der betreffende Pfarrer bei seinen Taten selbst sexuell erregt war, sich nackt auszog und seinerseits von den Kindern schlagen ließ. Die Taten wurden teils mit religiösen Motiven der Sühne oder der stellvertretenden Leidens gerechtfertigt [66f.]. In anderen Fällen des Missbrauchs ging es um Berührungen oder Stimulation der Genitalien, um gemeinsames Schlafen in einem Bett, um den Zwang, sich vor dem Beschuldigten ausziehen zu müssen, aber auch um übergriffiges Verhalten im Kontext der Beichte [67ff.]. Die Studie beinhaltet auf Seite 71 eine systematische Übersicht über die geschilderten Taten. Eine besondere Form des Missbrauchs stellt die psychische Gewalt dar, die sich in verschiedenen Formen, häufig aber in Verbindung mit religiösen Motiven äußerte (z.B. Drohen mit der Gefährdung des Seelenheils oder Verrichtung von „Strafarbeiten“) [72f.].
Die Täterpersönlichkeiten der beschuldigten Priester ähneln sich. Sie werden von den Betroffenen als dominante, charismatische Personen beschrieben, die meist ein hohes Ansehen in der Gemeinde hatten, zugleich aber auch gefürchtet waren. Sie missbrauchten ihre starke Stellung und ihre Macht gegenüber Schwächeren [78ff.]. In einem Fall wird geschildert, dass der Pfarrer auch die Rolle des Erziehungsberechtigten annahm [84, 98]. Nach den Taten wurden die betroffenen Kinder und Jugendlichen zum Schweigen aufgefordert, teils wieder mit religiösen Begründungen. Auch „Belohnungen“ (Geschenke) der Opfer sind dokumentiert [80ff.]. Betroffene, die anderen ihre Erlebnissen erzählten, ernteten in der Regel Unverständnis und Ablehnung. Dies betraf sowohl die eigenen Eltern, als auch das kirchliche Umfeld. In den Gemeinden waren die Praktiken, vor allem der körperlichen Gewalt, häufig bekannt, ohne, dass dies Auswirkungen für den Täter hatte [84ff.]. Auch Hilfegesuche an die kirchlich zuständigen Autoritäten in Schwerin hatten keine konkreten Folgen [87f.].
Die Erlebnisse des Missbrauchs haben im Leben der Betroffenen Schaden verursacht. Die Studie dokumentiert verschiedene Formen psychischer Erkrankungen oder Traumata, Verhaltensstörungen, Depressionen oder Alkoholabhängigkeit. Darüber hinaus sind auch Störungen im Sozialleben, Vertrauensverlust gegenüber der Kirche und Glaubenszweifel dokumentiert. Einige Betroffene leiden bis heute darunter, dass ihren Geschichten in der betreffenden Gemeinde nicht geglaubt werden und der beschuldigte Pfarrer von Teilen der Gläubigen weiterhin in Schutz genommen wird [88-93]. Am Aufarbeitungswillen der Kirche bestehen bei Betroffenen Zweifel [100f.]
Zum Abschluss der ersten Teils der Studie geben die Forscherinnen eine Zusammenfassung der Auswertung der Interviews mit den Betroffenen. Sie identifizieren dabei Risikofaktoren, die den Missbrauch begünstigt haben. Neben zeitspezifischen Faktoren der Lebensumstände und Erziehung warnen sie vor dem Machtgefälle, das durch eine Überhöhung der Person des Geistlichen begünstigt wird und diesem eine klerikale Machtposition innerhalb der Gemeinde zuweist [101-107].
Der zweite Hauptteil der Studie widmet sich den gesellschaftlichen und kirchlichen Rahmenbedingungen, unter denen der Missbrauch in der katholischen Kirche in Mecklenburg stattgefunden hat. Hierzu hat das Forschungskonsortium über 1500 Akten aus kirchlichen Beständen und der Stasi-Unterlagenbehörde ausgewertet. Zudem wurden Interviews mit kirchlichen Verantwortlichen geführt und externe Sachverständige hinzugezogen [108-113].
Im kirchlichen Umfeld waren die Beschuldigten und mindestens Teile ihrer Taten nicht selten bekannt. Der Umgang mit den Tätern, die häufig als „problematische“ Persönlichkeiten auffällig geworden waren, blieb nach Aktenlage uneinheitlich. Durchgängig ist wohl, dass Kirchenverantwortliche bestrebt waren, die an sie übermittelten Vorwürfe nicht öffentlich zu machen, sondern nach internen Lösungen zu suchen. Auch die Akten oder Protokolle geben meist keine eindeutige Beschreibung dessen, was einem beschuldigten Geistlichen konkret zur Last gelegt wurde. Bei Sanktionierungen, etwa der vorzeitigen Versetzung in den Ruhestand, wurden die wahren Gründe häufig nicht genannt. Ein Problem stellt die Fürsorgepflicht des Bischofs für die Geistlichen dar, nach der eine Entlassung aus dem Klerikerstand als schwierig galt, weil sie die Beschuldigten der Aufsicht entzog und von ihrer materiellen Versorgung abgeschnitten hätte. Aus „Fürsorge“ konnte so leicht „Schutz“ oder auch „Vertuschung“ werden. Oft wurde bei Interventionen den Beschuldigten gegenüber ein „therapeutisches“ Verhalten an den Tag gelegt, das auf eine Ermahnung und Besserung vertraute [140]. Die Studie dokumentiert unterschiedliche Vorgänge, bei denen ein weites Feld des Handelns der Kirchenoberen deutlich wird. Es reicht von der Nichtbeachtung eingegangener Beschwerden oder deren expliziter Zurückweisung über Ermahnungen, Versetzungen, Therapien, Ruhestandsversetzungen bis zur Entlassung aus dem Klerikerstand. Insgesamt herrschte die Tendenz vor, auch angesichts der Position der Kirche gegenüber dem Staat, möglichst wenig nach außen hin sichtbar zu machen. Zudem wurden Kontrollfunktionen, etwa Visitationen oder Personalgespräche nicht konsequent genutzt. Auch die Anwendung des Kirchenrechts machte wegen ungeklärter Verfahren oder langsamer Bearbeitung Probleme [115-129]. Die Studie dokumentiert Aussagen der befragten Kirchenverantwortlichen zu in der MHG-Studie identifizierten katholischen „Risikofaktoren“ wie Klerikalismus, Zölibat, Sexualmoral, Priesterausbildung und Beichtgeheimnis [130-138].
Für das Umfeld der DDR, das in der Studie nur kurz behandelt wird [z.B. 138], führte Prof. Dudeck bei der Vorstellung der Studie aus, dass die DDR aufgrund der Staatsdoktrin das Verbrechen des Kindesmissbrauchs auf der einen Seite gut dokumentierte und erforschte (der Wissensstand war teilweise höher als in der BRD, die Sexualmoral liberaler), auf der anderen Seite aber auch verschwieg, weil es nicht in die Vorstellung von einer gelingenden sozialistischen Gesellschaft passte. Die Stasi verhielt sich bei Kenntnisnahme von sexuellen Vergehen von Priestern offenbar nicht einheitlich. Es gab Fälle, in denen Täter unter Druck gesetzt wurden, um sie für eine Mitarbeit zu gewinnen, genauso aber auch Fälle, in denen zwischen Staat und Kirche ein Schweigen über bestimmte Vorgänge vereinbart wurde [142].
In ihrem Fazit zum zweiten Hauptteil stellen die Wissenschaftlerinnen fest: „Das Augenmerk kirchlicher Entscheidungen lag nicht auf dem Schutz der Betroffenen, sondern auf dem Schutz der Institution und ihrer geistlichen Mitarbeitern“ [139]. Bei der Präsentation der Studie legte Prof. Dudeck dabei den Fokus auf die Präventionsarbeit, die nach ihrer Meinung noch immer unzureichend erfolge. Der Wechsel zu einer Betroffenenperspektive, konsequente Ahndung von Vergehen und eine gelebte Prävention werden zu wichtigen Bausteinen zur Verbesserung der kirchlichen Institutionen, zusätzlich gilt es, die ideologischen, kirchenrechtlichen und organisatorischen Grundlagen (z.B. Gewaltenteilung) kritisch zu hinterfragen [146] und im Sinne des Schutzes und der Prävention zu verbessern.
[1] Die MHG-Studie ist hier abrufbar: MHG-Studie-gesamt.pdf (dbk.de)
[2] S. z.B. Pfarrer missbrauchten auch in Waren und Neustrelitz (nordkurier.de)
[3] Abschlussbericht_Final.pdf (erzbistum-hamburg.de)
[4] Hier möchte ich auch auf andere Texte zum Thema Missbrauch in diesem Blog verweisen: Missbrauch und Sexualmoral – Teil 1: Gesellschaft – Sensus fidei; Der „Fall Ratzinger“: Wie weit ist der Missbrauch ein „katholisches Problem“? – Sensus fidei; Missbrauch – Sensus fidei
[5] Das Wort „Beschuldigte“ wird in der Studie immer für potentielle Täter verwendet, also solche Priester und andere Mitarbeiter, bei denen es Hinweise auf sexuellen Missbrauch gegeben hat. Da nur in wenigen Fällen auch gerichtlich eine Schuld festgestellt wurde, wird nicht von „Tätern“ gesprochen, also von Menschen, deren Schuld erwiesen ist.
Herr Dr. Bergner hat hier eine sehr gute Erläuterung sowie eine reale Zusammenfassung der Studie wiedergegeben. Viele von ihm erläuternde Zusammenhänge habe ich aus der Vorstellung der Studie, welche ich am 24.02. online verfolgt habe, nicht so erfassen können. Vielen Dank für die Zusatzerklärungen.
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