Wo ist der Ort? [zu Fronleichnam]

Wo gehöre ich hin? Wir sind es gewohnt, unser Leben mit bestimmten Orten zu verknüpfen. Ich erlebe das immer wieder bei Beerdigungen. Fragt man nach der Biografie der Verstorbenen, erzählen die Angehörigen meist von deren Heimat. Dabei kann die Heimat der Ort sein, an dem ein Mensch geboren ist, genauso auch ein Ort, an dem er die längste Zeit seines Lebens verbracht hat.

Es gibt so etwas wie eine Sehnsucht nach dem Ort, an den ich gehöre. „Hier, in diesem Haus, in diesem Dorf, in dieser Stadt, in diesem Land bin ich zu Hause. Hier gehöre ich hin.“ Früher war es normal, einen solchen Ort zu haben. Heute ist das nicht mehr selbstverständlich. Wir sind beweglicher geworden. Viele Menschen ziehen heute in ihrem Leben von Ort zu Ort. Was werden sie auf die Frage nach ihrer Heimat sagen? Häufig nennen sie den Ort, an dem sie aufgewachsen sind, aber sie würden auch sagen: „Meine Heimat ist dort, wo meine Familie ist, oder dort, wo meine Freunde sind. Meine Heimat ist dort, wo ich freundlich aufgenommen werde oder auch dort, wo ich besonders gern (etwa im Urlaub) hinfahre.“

Soziologen beobachten, dass sich unsere Wahrnehmung von Orten und Räumen verändert. Wir konstruieren unseren Lebensraum nicht mehr geographisch. Vielmehr setzt sich unser Lebensraum aus ganz unterschiedlichen Orten zusammen: Meine Wohnung, mein Schrebergarten, meine Arbeitsstelle, die Häuser meiner Eltern und Geschwister, Orte, an denen ich meine Freunde treffe, mein Supermarkt, mein Vereinsheim, mein Segelrevier, mein Supermarkt, mein Stammkino. Alle diese Orte müssen nicht geographisch in der Nähe sein. Sie können sich weit über das Land verteilen.

Dazu kommt noch der digitale Raum. Wir schalten uns zu Videotreffs zusammen, an einem Ort den physisch gar nicht gibt. Unsere Ordensschwestern in Schwerin haben mir von einer solchen Erfahrung erzählt. Als während der letzten Monate immer im Kloster zusammenwaren und nicht in öffentlichen Gottesdienste gingen, haben sie manchmal einen Gottesdienst im Fernsehen verfolgt. Sie warfen das Bild mit einem Beamer an die Wand setzten sich davor und beteten und sangen mit der Gemeinde. „Manchmal“, so sagten sie, „hatten wir nicht das Gefühl, an einem ganz anderen Ort zu sein. Vielmehr schien es uns, als ob wir mitten in der feiernden Gemeinde sitzen würden.“ Die Wahrnehmung des Ortes hatte sich verändert.

Wo ist der Ort? Mit dieser Frage beginnt das heutige Evangelium:

Am ersten Tag des Festes der Ungesäuerten Brote, an dem man das Paschalamm schlachtete, sagten die Jünger zu Jesus: Wo sollen wir das Paschamahl für dich vorbereiten? Da schickte er zwei seiner Jünger voraus und sagte zu ihnen: Geht in die Stadt; dort wird euch ein Mann begegnen, der einen Wasserkrug trägt. Folgt ihm, bis er in ein Haus hineingeht; dann sagt zu dem Herrn des Hauses: Der Meister lässt dich fragen: Wo ist der Raum, in dem ich mit meinen Jüngern das Paschalamm essen kann? Und der Hausherr wird euch einen großen Raum im Obergeschoss zeigen, der schon für das Festmahl hergerichtet und mit Polstern ausgestattet ist. Dort bereitet alles für uns vor! Die Jünger machten sich auf den Weg und kamen in die Stadt. Sie fanden alles so, wie er es ihnen gesagt hatte, und bereiteten das Paschamahl vor. Während des Mahls nahm er das Brot und sprach den Lobpreis; dann brach er das Brot, reichte es ihnen und sagte: Nehmt, das ist mein Leib. Dann nahm er den Kelch, sprach das Dankgebet, reichte ihn den Jüngern, und sie tranken alle daraus. Und er sagte zu ihnen: Das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird. Amen, ich sage euch: Ich werde nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken bis zu dem Tag, an dem ich von neuem davon trinke im Reich Gottes. Nach dem Lobgesang gingen sie zum Ölberg hinaus. (Mk 14,12-16,22-26)

Jedes Jahr zum Paschafest kamen viele Gäste und Pilger nach Jerusalem. Hier stand der Tempel. Man ließ die Paschalämmer dort schlachten und musste sich für die Feier im Familienkreis dann in der Stadt einen Ort suchen. Die Einwohner von Jerusalem stellten Gasträume für das Fest zur Verfügung. Es waren improvisierte Festsäle auf Zeit. Offenbar war Folgendes dabei wichtig: Es musste Wasser geben (für die Reinigung), einen Tisch zum Essen und Polster als Sitzgelegenheiten. Dazu wurde der Raum noch festlich geschmückt.

Die frühen Christen kannten diesen Zustand gut. Wenn sie am Sonntag zur Eucharistiefeier zusammenkamen, mussten sie nach einem Raum suchen. Mitglieder der Gemeinden stellten ihre Häuser zur Verfügung. Der Raum wurde durch die Feier zum Festsaal. Der Heimatort der Christen war nicht ein bestimmtes Gebäude. Der Heimatort wurde dadurch zu einem solchen, indem man hier die Eucharistie feierte. Der Raum entstand durch die Präsenz Christi. „Dort wo er ist, da ist unsere Heimat.“ Im Laufe der Jahrhunderte hat sich dieses Verständnis verändert. Man begann, Räume zu bauen, Kirchen, die nur noch eine Funktion hatten: Festsaal für die Feier des Gottesdienstes zu sein. Aus den mitgebrachten Wasserkrügen wurde ein fester Taufbrunnen. Aus dem Tisch ein unverrückbarer Altar, aus den provisorischen Polstern später feste Bänke und Sitze, aus dem anlassbezogenen Schmuck ein installierter in prächtigen Bildern, Zierwerk und bunten Fenstern.

Wir haben uns an diese Räume gewöhnt. Merkwürdig ist aber doch, dass gerade das Fronleichnamsfest an vielen Orten mit dieser Gewohnheit bricht. Wir verlassen die Kirchen und gehen in Freie. Eigentlich merkwürdig. Gerade an diesem festlichen Tag, an dem das Altarsakrament besonders gefeiert wird, also die Gegenwart Christi in der Gestalt von Brot und Wein, an diesem Tag gehen wir aus den gewohnten Festsälen heraus? Vielleicht ist das unbewusst eine Erinnerung an das Geschehen des Gründonnerstags. Wir müssen uns einen Raum erst suchen. Wir müssen einen Raum erst herrichten. Wir müssen die Feier erst mühsam vorbereiten. Der Ort der christlichen Gemeinschaft kann also überall entstehen. Er entsteht nicht durch einen Bau, sondern durch die Versammlung um Jesus Christus. Von dieser Mitte her bildet sich der Raum neu aus. In der Prozession wird das noch einmal deutlich. Die um Christus versammelte Gemeinde setzt sich in Bewegung. Die Kirche ist da wo die Gemeinschaft mit Gott, die Eucharistiefeier und die Gemeinde ist.

Ich glaube, es ist wichtig, diesen Gedanken des Gründonnerstags und des Fronleichnamsfestes zu verstehen. Wir sind in einer Zeit, in der der kirchliche Raum neu vermessen wird. Der feste Ort stirbt. Die feste Kirche in meinem Wohnort wird es immer seltener geben. Ob damit auch die eucharistische Gemeinschaft stirbt, wird sich zeigen. Sie wird wieder Orte suchen müssen, die auf Zeit als Festsaal der christlichen Familie, der Schwestern und Brüder im Glauben eingerichtet wird. Zu unserer persönlichen Heimatkunde wird es, wie bei vielen anderen Dingen auch, gehören, die kirchliche Heimat weniger an feste Gebäude, als an die Beziehungen zu knüpfen. Meine kirchliche Heimat ist dort, wo Christus ist. Meine kirchliche Heimat ist dort, wo die christliche Gemeinschaft ist. Dieser Ort muss immer neu geschaffen werden.

Ein Kommentar zu „Wo ist der Ort? [zu Fronleichnam]

  1. In unserer Umgebung gibt es viele Orte, die verwunschen, friedlich, ruhig sind oder uns an ein besonders positives Erlebnis erinnern. Wichtig ist aber, dass wir auch in der Lage sind, diese Orte zu erkennen und zu genießen, denn manchmal halten uns die Lebensumstände davon ab. Ich glaube wenn man mit Gott in einer positiven Beziehung steht, sich von Jesus anschauen und in seinen Bann ziehen lässt- so wie er uns im Kreuz von San Damiano entgegen tritt- dann kommt es auf den weltlichen Ort nicht mehr so an. Der Ort ist nämlich die ganze Welt, in der wir Christen positiv wirken sollen. Das Evangelium soll unsere Richtschnur sein.

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