Biografien lesen und schreiben

„Gott – eine Biografie”. Das war der Titel eines Bestsellers von Jack Miles, einem amerikanischen Jesuiten. Jack Miles versuchte, das Alte Testament als eine Art Roman zu lesen und die Hauptfigur, eben Gott, zu charakterisieren. Wie ist Gott wirklich? Diese Frage scheint das Buch zu beantworten. Ein begeisterter Leser fasst in seiner Amazon-Kritik zusammen: „Zu unserer Überraschung stellt sich heraus, dass Gott eine sehr widersprüchliche Gestalt ist, direkt, unreflektiert, impulsiv, jähzornig, destruktiv, prahlerisch, in seinen Versprechungen unzuverlässig, und zudem obsessiv an Fruchtbarkeitsthemen haftet – und erst sehr spät in seiner Entwicklung, nach unzähligen mitleidslosen Genoziden, Grund für die heute noch populären Zuschreibungen von Unergründlichkeit oder gar Barmherzigkeit bietet.” Interessant also, was eine solche Biografie alles so offenbart.

Jetzt ist es aber mit Biografien so eine Sache: Lesen Sie einmal eine Biografie, beispielsweise über Dante Alighieri, jetzt im Jubiläumsjahr (700. Todestag), na klar, eine möglichst dünne zunächst. Sie stellen fest, dass Sie einen ganz guten Einblick gewonnen haben, aber haben den Eindruck, Dante eigentlich nur oberflächlich gestreift zu haben. Sie schauen sich auf dem Büchermarkt um und stellen fest, dass es noch weitere Biografien und Studien zu Dante gibt, allein jetzt rund um das Jubiläumsjahr sind einige neu erschienen. Alle diese Werke behaupten, Biografie, Lebensdarstellung Dantes zu sein. Sie geraten in eine Vielzahl von Meinungen und Perspektiven, von Gedanken, die Sie überzeugen und solchen, die Sie nicht überzeugen. Sie stellen fest, dass die Biografen ihrerseits von anderen abgeschrieben haben, ihr persönliches Bild aus anderen Bildern geprägt haben. Wenn Sie in diesen Prozess geraten, sind Sie über das bloße Interesse an einer Person schon weit hinaus. Sie sind zu einer Forscherin bzw. einem Forscher geworden, indem sie angefangen haben, sich mit ihrer Materie intensiver auseinanderzusetzen. Sie versuchen, zu sammeln, zu bündeln, neu und schlüssig zusammenzustellen, was er an Wissen erworben hat.

Genau über dieses Wort „forschen” bin ich in den Texten des Dreifaltigkeitssonntags gestolpert. Mit dem Aufruf „Forsche nach” beginnt der Abschnitt der Rede des Mose, die in der ersten Lesung wiedergegeben wurde:

Mose sprach zum Volk; er sagte: Forsche doch einmal in früheren Zeiten nach, die vor dir gewesen sind, seit dem Tag, als Gott den Menschen auf der Erde schuf; forsche nach vom einen Ende des Himmels bis zum andern Ende: Hat sich je etwas so Großes ereignet wie dieses, und hat man je solche Worte gehört? Hat je ein Volk einen Gott mitten aus dem Feuer im Donner sprechen hören, wie du ihn gehört hast, und ist am Leben geblieben? Oder hat je ein Gott es ebenso versucht, zu einer Nation zu kommen und sie mitten aus einer anderen herauszuholen unter Prüfungen, unter Zeichen, Wundern und Krieg, mit starker Hand und hoch erhobenem Arm und unter großen Schrecken, wie es der Herr, euer Gott, in Ägypten mit euch getan hat, vor deinen Augen? Heute sollst du erkennen und dir zu Herzen nehmen: Jahwe ist der Gott im Himmel droben und auf der Erde unten, keiner sonst. Daher sollst du auf seine Gesetze und seine Gebote, auf die ich dich heute verpflichte, achten, damit es dir und später deinen Nachkommen gut geht und du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt für alle Zeit. (Dtn 4,32-34, 39-40)

Das vierte Kapitel des Deuteronomiums, aus dem der Abschnitt stammt ist fast zur Gänze eine überbordende Einleitung zur anschließenden Verkündigung der Rechtsvorschriften des Gesetzes durch Mose. In dieser Eingangsrede lässt Mose die gesamte Geschichte des Zuges durch die Wüste vor den Augen des Volkes noch einmal vorüberziehen. Und dann richtet er seinen Appell an die Israeliten, an jeden einzelnen von ihnen: „Forsche einmal in früheren Zeiten nach, die vor dir gewesen sind, seit dem Tag, als Gott den Menschen auf der Erde schuf; forsche nach vom einen Ende des Himmels bis zum anderen”. Vollziehe selber nach, so Mose, aus dem was du gehört und erfahren hast, wer Gott ist. Mose erinnert dann an die Großtaten Gottes, er sammelt zusammen, was aus der Gottesgeschichte bekannt ist, er gibt den Forschungsauftrag, indem er Bekanntes wiederholt, verdeutlicht und neu zusammenstellt.

Wenn Sie etwas über Gott aussagen wollen, dann werden sie Biografien studieren müssen, keine dicken Bücher, sondern lebendige Biografien, die Glaubenszeugnisse vieler Menschen, die ihr Leben von Gott prägen ließen. Die Bibel ist bereits voll mit solchen Biografien, mit den großen und kleinen Gestalten des Glaubens, den Starken und Schwachen, den jubelnden und den zögerlichen, den Überzeugten und Streitenden. Paulus bezeichnet die Gläubigen nicht umsonst an einer Stelle als „Brief Christi” (2Kor 3,3). Durch ihr Leben und ihren Glauben erst wird Gott anschaulich und in der Welt erfahrbar. Und diese Biografien bilden sich im Leben jedes Menschen bis heute ab. Aber allein dieses Studium wird nicht ausreichen.

Erinnern Sie sich daran, wie sie in unserem Denkversuch viele Biografien gelesen hatten. Schließlich kommen Sie zu dem Schluss, dass die für Sie überzeugendste Dante-Biografie eigentlich erst noch schreiben müssen. Die Kunst eines guten Biografen besteht ja darin, sein Material nicht nur besonders gut zu kennen, sondern es so zu präsentieren, dass es neues Interesse weckt. Der Biograf gewichtet neu. Er bringt seine eigene Faszination und seine eigenen Ideen und Erfahrungen in die Biografie ein. Bezogen auf Gott werden sie eben nicht das Buch „Gott – eine Biografie” schreiben können, denn Gottes Wesen ist unausschöpflich, aber sie werden das Buch „Gott – meine Biografie” schreiben. Wie trat und tritt Gott selbst in mein Leben ein? Wie hat er sich mir gezeigt? Als fernes Geheimnis (Gott Vater), als lebendiges Wort, dass sich an mich richtet (Gott Sohn), als inspirierender Geist, der mich in Bewegung setzt (Gott Heiliger Geist)? Das Ende meiner Forschungsarbeit ist vorgegeben: Mose fasst es zusammen: „Der Herr unser Gott ist der einzige Gott im Himmel droben und auf der Erde unten, keiner sonst.“ Wer Gott im Lichte seiner Biografien betrachtet, dem bleiben am Ende der Dank und das Bekenntnis. Aber der Weg dorthin, zu diesem Schluss Ihres Werkes, so vermute ich, wird bei Ihnen oder Ihrem Nachbarn, oder bei mir ganz unterschiedlich aussehen, unterschiedlich aber wahrscheinlich immer wieder faszinierend. „Forsche nach”, „Erkenne meine Spur in deinem Leben” – das ist ein Lebensprojekt, eines das sich lohnt, weil es uns in tiefer Dankbarkeit und wirklichem Erkenntnisgewinn zurücklässt.

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