In diesem Jahr fehlt ein Element der Gründonnerstagsfeier. Die Fußwaschung fällt aus. Die Distanzlosigkeit dieses Ritus erzwingt den Ausfall. Es ist ein Kennzeichen des letzten Jahres, dass ausgerechnet die Gesten des täglichen Lebens entfallen, die die Distanz zwischen Menschen überwinden können: Der Händedruck, die Umarmung, der Kuss. Zuneigung kann auch mit Worten bekundet werden. Aber das ist nicht dasselbe. Die Geste spricht eine viel deutlichere Sprache. Sie braucht eigentlich keine Worte. Die Fußwaschung gehört zu den wenigen Zeichen, in denen die Zuwendung auch im Gottesdienst ausgedrückt wird. Sie ist in jeder Hinsicht ungewöhnlich. Das Evangelium wird hier szenisch umgesetzt. Nachdem der Text von der Fußwaschung gelesen wurde, wird der Text zu einem lebendigen Bild. Zwölf Personen nehmen um den Altar Platz. Der Raum wird zum Abendmahlsaal. Der Priester legt das Messgewand ab, so wie Jesus das Gewand ablegt. Er umgürtet sich mit einem Leinentuch, so wie es Jesus getan hat. Dann gießt er Wasser in eine Schüssel und beginnt, die Füße zu waschen. Bis ins Detail wird also hier eine biblische Begebenheit dargestellt, nachgeahmt. Man könnte von einer ikonischen Übersetzung sprechen. Theologisch sprechen wir von einer sakramentalen Struktur. Ein biblisches Zeichen wird wiederholt. Es soll zu einem wirksamen, sprechenden, wirksamen Symbol werden. Was damals geschah, soll auch heute geschehen. Das Zeichen enthält, was es verspricht. Der Priester repräsentiert Christus (er ist es nicht selbst), die Gemeinde, repräsentiert durch zwölf Gesandte, die Gruppe der Jünger. „Wenn ich euch die Füße wasche, so müsst auch ihr einander die Füße waschen“. Jesus nimmt die Jünger in den Dienst. Sie sollen fortsetzen, was er an ihnen tut. Die Begegnung mit Jesus macht sie zu seinen Repräsentanten. Ihr sollt für andere „Jesus“ sein, also seine heilende, rettende, liebende Gegenwart anderen vermitteln.
„Ich übernehme nicht die Rolle des Christus, sondern die Rolle des Menschen, der diese Kraft hat“.[1] Diesen Satz sagte Joseph Beuys über die Fußwaschung. Der Künstler hatte 1971 zu einer Aktion mit dem etwas rätselhaften Namen „Celtic+~~~“ nach Basel geladen. Vor der eigentlichen Performance wusch er sieben Besuchern die Füße und ließ sich anschließend selbst mit Wasser übergießen. Beuys imitierte damit als Künstler das Geschehen aus dem Abendmahlssaal. Er orientierte sich an Petrus, der von Jesus fordert, nicht bloß die Füße, sondern auch die Hände und das Haupt gewaschen zu bekommen. Die Reinigung sollte vollständig sein. Als Joseph Beuys gefragt wurde, was für ihn dieser Ritus bedeuten würde, sagte er, dass es ihm um eine grundlegende Reinigung gehe. Das Waschen sei nur Ausdruck für das, was die Welt aus seiner Sicht nötig habe. Beuys wörtlich:; „Es ist die Unreinheit, die gereinigt werden muss. Denn so wie die Welt ist, darf sie nicht sein.“ Nicht bloß der einzelne Mensch, sondern das ganze soziale und politische Leben bedürfe der Reinigung. Abwaschen, was schlecht ist. Jeder Mensch hat in sich die Kraft zum Guten. Jeder Mensch hat die Kraft, zur Heilung der Welt beizutragen. Daher sprach Beuys von einem Christusimpuls, den jeder aktivieren könne. Jeder Mensch kann dem anderen „christusähnlich“ gegenübertreten, der reinigt, heilt und rettet.
Joseph Beuys ist mit dieser Aussage katholischer, als er selbst vielleicht meint. Man kann sich in seiner Aussage etwa an Leonardo Boff erinnert fühlen, der beständig auf das „Sakrament des Nächsten“ hinwies, also auf die praktische Nächstenliebe, die Christi Wirken in der Welt umsetzt. Das zweite Vatikanische Konzil sprach von der sakramentalen (also wirksam-symbolhaft vermittelnden) Bedeutung der Kirche.[2] Diese ist „Leib Christi“, so dass an der Lebensweise, aber vor allem an den Taten ihrer „Glieder“ das Wirken Christi in seinem Geist in der Welt sichtbar gemacht werden soll. Jede Tätigkeit des „mystischen Leibes“ heißt „Apostolat“, also Fortsetzung des Dienstes der Apostel. In der Taufe werden die Menschen in diesen großen Organismus eingegliedert und erhalten so ihre Würde und ihren Auftrag. Die Taufe ist als Reinigung zugleich Beauftragung und steht damit der Fußwaschung erstaunlich nahe.
Einen erstaunlichen Weg wählte Papst Franziskus, als er von der bisherigen Gewohnheit abwich, bei der Gründonnerstagsmesse im Petersdom 12 Priestern die Füße zu waschen. Stattdessen gliederte er das Zeichen der Fußwaschung aus und geht seitdem an einen Ort am Rand der Gesellschaft. Er wäscht dort Menschen die Füße, die an diesem Rand stehen, Flüchtlingen, Gefangenen, Kindern, Armen oder Menschen, die einer anderen Religion angehören. Es geht dabei nicht bloß darum, die Kirche auf ihren Dienst an den Armen hinzuweisen. Das Zeichen sagt, wie gesehen, mehr. Es kann verstanden werden als Symbol, dass die Reinigung der Welt einfordert, den Kampf gegen die Gewalt, die Ausgrenzung, die Schuld. Zugleich zeigt es: Auch diese Menschen haben die Berufung und den Auftrag, dieses Zeichen weiterzutragen zur Heilung, Umkehr und Umgestaltung der Welt. Der Christusimpuls soll fortwirken.
Es ist eine Gefahr unserer Zeit, mit den ausfallenden Riten der Nähe, sich selbst in der Distanzierung einzurichten. Wir brauchen die Zeichen. Wir brauchen die körperliche, tätige Zuwendung zum anderen. Der christliche Auftrag ist nie abstrakt, nie nur eine Frage der Worte. Er verkörpert sich in Haltungen und Taten. Der Gründonnerstag ohne Fußwaschung muss eine Ausnahme bleiben.
[1] Eindrücke der Aktion vermittelt der Dokumentarfilm „Beuys – ein Portrait“: https://www.youtube.com/watch?v=t7xopR0xixM (ab Minute 22). Die Zitate stammen aus Interviews mit Beuys, die im entsprechenden Wikipedia-Eintrag vermerkt sind. Als Quelle ist die Studie von Nicole Fritz zu Beuys angegeben (S. 113, 121): https://d-nb.info/971580715/34
[2] S. für das Folgende, II. Vatikanum, Dekret über das Apostolat der Laien „Apostolicam actuositatem“, Nr. 1-3.
Ein Kommentar zu „Reinigung und Auftrag [zum Gründonnerstag]“