1925 wartete die Literaturwelt mit einer kleinen Sensation auf. Der amerikanische Schriftsteller John Dos Passos, Sohn portugiesischer Einwanderer, veröffentlichte den Roman „Manhattan Transfer“. Das Buch brach mit gängigen Traditionen. Es erzählte nicht mehr eine Geschichte, sondern viele, die nebeneinander herlaufen. Statt einer Hauptfigur gab es verschiedenste Figuren, die den Roman bevölkern. Dos Passos erzählt gleichzeitig die Geschichten eines arbeitslosen Hafenarbeiters, eines gerissenen Anwalts, einer Gruppe Schauspieler, die Geschichte von Gewerkschaftern im Arbeitskampf, genauso, wie von den Partys in den Häusern der Hochfinanz. Alle diese Erzählstränge werden ineinander verwoben, spinnen sich fort. Einige Geschichten werden auserzählt, andere verschwinden genauso plötzlich, wie sie gekommen sind. „Manhattan Transfer“ hat nur einen Hauptdarsteller: die Stadt New York. Der Roman wirkt wie ein willkürlicher Blick in die verschiedenen Quartiere, Häuser und Straßen der großen Metropole. Die dortigen Geschichten sind keine besonderen, sondern spiegeln nur das wieder, was dort täglich geschieht. Diese Form des Großstadtromans passt in die aufkeimende Moderne. Die große Stadt wird zum Symbol einer vielstimmigen, unübersichtlichen, teilweise auch bedrohlichen neuen Wirklichkeit. Es ist leicht, sich in ihr zu verirren. Alfred Döblin wird, wahrscheinlich angeregt von Dos Passos, einige Jahre später unter dem Titel „Berlin Alexanderplatz“ einen ganz ähnlichen Roman schreiben. Charlie Chaplin lieferte mit „City Lights“ Anfang der 30er Jahre eine filmische Version des Großstadtromans.
Die Stadt als Metapher des sprudelnden, ungeordneten Lebens, des Zusammenpralls der Gegensätze, Ideen und Lebensformen ihrer Bewohner – die Stadt als Risiko. Wer sich in ihr verliert, wird eingesogen, Teil eines nie abreißenden Stroms der Geschichten und Meinungen, der unterschiedlichsten Schicksale und Lebensphilosophien. Die Stadt ist ein Ort der Auseinandersetzung, an dem sich das Leben verdichtet. Nun kann man das alte Jerusalem sicher nicht mit einer Millionenmetropole der heutigen Zeit vergleichen. Dennoch ist es nicht unbedeutend, wenn berichtet wird, dass Jesus in die Stadt zieht. Er setzt sich damit genau dieser Realität der Stadt aus, ihrer Vielstimmigkeit, ihrer Gegensätze. Die Stadt ist unvorhersehbar und unkontrollierbar. Man darf sich vom Bericht der Evangelien nicht täuschen lassen. Die jubelnde Menge, die Jesus als Messias empfängt ist nur ein Ausschnitt eines größeren Panoramas. Die Bibelforscher vermuten, dass es sich bei dieser Menge in Wirklichkeit nur um eine kleinere Zahl von Personen gehandelt haben dürfte. Es waren wohl nur wenige im Vergleich zur Gesamtbevölkerung, die Jesus kennengelernt hatten, auch nur eine Minderheit, die überhaupt die baldige Ankunft des Messias erwartete. Würden wir zur gleichen Zeit, in der Jesus in Jerusalem auf dem Esel einreitet, ähnlich wie im Großstadtroman in die verschiedenen Viertel und Straßen Jerusalems zoomen, würden wir viele Bewohner sehen, die ganz normal in ihrem Alltag leben, auf den Märkten einkauften oder in den Handwerksstuben ihrer Arbeit nachgehen. Wir würden die Bettler und Tagelöhner sehen in ihrem Kampf um das tägliche Überleben. Wir schauten auf die Pilger im Tempel, die mit ihren Opfergaben kommen, würden einen Blick in die Gasthäuser werfen, die sich auf den großen Ansturm zum Paschafest vorbereiten, könnten die römischen Beamten verfolgen, die gerade über die Sicherstellung der öffentlichen Ordnung nachdenken. Wir landeten schließlich auch bei einer kleinen Gruppe aus der jüdischen Oberschicht, die angesichts der Ereignisse am Stadttor in Alarmbereitschaft versetzt ist und überlegt, wie sie das „Jesus-Phänomen“ beenden können. Die Meinungen und Ideen über das, was beim Einzug geschieht, werden vielfältig gewesen sein. Von großer Hoffnung und Freude, bis zu entschiedener Ablehnung und Gegnerschaft. Die meisten aber, so kann man vermuten, werden dieses Ereignis gar nicht zur Kenntnis genommen haben, oder gleichgültig die Achseln zucken: Wieder eine Aufregung mehr – davon gibt es doch jeden Tag eine.
Sie sehen, wir sind heute nicht weit von der damaligen Situation entfernt. Auch wenn die Medien und die Digitalisierung mittlerweile fast jeden zum Bürger einer universalen Stadtgesellschaft gemacht haben, in der jede Neuigkeit sofort zirkuliert, jede Meinung geäußert, jeder Diskurs verfolgt wird. Auch heute feiert eine kleine Minderheit den Einzug Jesu in Jerusalem und erinnert an sein Leiden und Sterben in der Stadt. Wie damals, ist dies manchen ein Dorn im Auge, die meisten aber schauen gleichgültig darüber hinweg.
Die Stadt übersieht etwas. Sie übersieht, dass hier etwas geschieht, was für alle ihre Bürger von Bedeutung sein wird. Der jubelnd begrüßte Reiter auf dem Esel bringt etwas mit, was die Stadt schon längst verloren glaubte. Er bringt die Botschaft des Friedens, der Versöhnung und Heilung. Es wäre möglich, aus dem Gewirr der Zeit herauszukommen, aus der Stadt wieder eine Gemeinschaft zu formen, wieder eine gemeinsame Hoffnung zu haben. Deshalb erinnern wir heute immer noch daran. Die kleine, marginale Geschichte im langen Leben Jerusalems wird zu ihrer entscheidenden. Hier wird Gottes Geschichte in die Weltgeschichte geschrieben. Gottes Sohn in der Stadt. Am Schluss ist eben doch nicht die Stadt, sondern der einzelne Mensch, dessen Leben für andere bedeutsam und wertvoll ist.