Gute Hirten, oder: Wie sieht ein zeitgemäßes Priesterbild aus?

Der vierte Ostersonntag ist der sogenannte „Gute-Hirten-Sonntag“. Mit ihm ist das Gebet für die geistlichen Berufungen verbunden. Auch ohne Corona-Krise wäre dieses Anliegen in diesem Jahr wieder eher in den Hintergrund geraten. Man ist zögerlich geworden, für geistliche Berufe zu werben. Priester sprechen seit einigen Jahren eher schamhaft und etwas entschuldigend von ihrem Beruf. Es kommt nicht gut an. Man möchte sich nicht dem Verdacht aussetzen, das Priesterbild zu überhöhen, gerade angesichts der Missbrauchsdebatte. Zugleich spielt ein anderer Faktor eine Rolle: Längst hat man aufgehört, das Thema „Berufung“ auf Kleriker oder Ordensleute einzuengen. „Berufung“ ist ein zentrales Stichwort in der pastoraltheologischen Debatte geworden. Schließlich soll jede und jeder Gläubige ihre oder seine Berufung entdecken und fördern. Ich finde das richtig. Die Berufung ist im Kern ja die Wahl eines Lebensentwurfes, den ein Mensch in Reflexion auf Gottes Willen für sein Leben entdeckt und verwirklicht.[1] Ich möchte gerne in diesem Sinne von Berufung sprechen, aber zugleich auch die Berufung zum Priester oder zu einem anderen geistlichen Lebensstand verteidigen. Das wurde mir bewusst, als ich vor zwei Jahren gebeten wurde, für ein online-Magazin, das gerne eine „pro und contra“-Diskussion veröffentlichen wollte, ein glühendes Plädoyer für den Priesterberuf zu halten. Ich wurde damit aus der Deckung gelockt. Warum auch nicht? Jeder darf von seinem Beruf und von seinem Lebensentwurf überzeugt sein. Jeder darf dafür werben. Ich habe den Priesterberuf schließlich aus freien Stücken gewählt, mich acht Jahre darauf vorbereitet und bin bis heute davon überzeugt, dass diese Wahl für mich richtig war. Meine Erfahrung ist: Im Zeitalter einen allgemeinen Toleranz für jedwede Lebensentscheidung, wird eine solche Entscheidung, die heute mehr als vorher als krasser Gegenentwurf zur Normbiografie empfunden wird, durchaus anerkannt. Dabei bedeutet der krasse Gegenentwurf ja nicht zwangsläufig, dass mit der Entscheidung zum Priestertum das Abgleiten in eine sektiererische oder reaktionäre Sonderwelt vorgezeichnet ist. Es ist auch als Priester durchaus möglich, die heutige Zeit zu bewohnen, ohne an ihr zu verzweifeln.

Damit ist allerdings eine Schwierigkeit beschrieben, über die immerwährende Diskussionen geführt wurden und werden: Welcher Art sollte ein Priester heute sein? Es gibt unterschiedliche Selbstbilder und Außenwahrnehmungen von Priestern. Und es gibt bei Gemeindemitgliedern, aber auch bei Außenstehenden unterschiedliche Erwartungen. Die durch den „Gute-Hirten-Sonntag“ vorgeschlagene Identifikation des Priesters mit dem Leitungs- und Heiligungsdienst nach dem Vorbild Jesu als des guten Hirten ist zugleich wirkmächtig und verführerisch. Besonders stark hat Papst Franziskus dieses Bild in den Vordergrund gestellt. In seiner Zeit als Erzbischof von Buenos Aires veröffentlichte er einen Artikel mit dem Titel: „Hirten des Volkes, nicht Standeskleriker“.[2] In ihm ist bereits alles enthalten, was Franziskus als Papst in vielen kritischen Stellungnahmen Bischöfen, Priestern und Ordensleuten „hinter die Ohren geschrieben“ hat: Das Vorbild des guten Hirten soll ihnen dazu helfen, sich selbst als aufopferungsvolle Arbeiter für die Gläubigen zu begreifen. Der priesterliche Dienst darf nicht durch „Standesprivilegien“ wie ein hohes Ansehen, durch besondere Titel oder ein Aufgehen in Verwaltungstätigkeiten verunklart werden. Im Kern geht es um den Einsatz für die Menschen. Ein Priester hat keine Freizeit, sondern soll sein ganzes Sein und Tun auf seinen Dienst ausrichten, stets bereit zu helfen und zu unterstützen, wo es nötig ist. Er soll so handeln wie der gute Hirt, der im Zweifel bereit ist, sein Leben für die Schafe zu geben. Das ist ein hohes Ideal. Am Beispiel des guten Hirten richtet der Papst auch die Leitungsfunktion des Priesters aus: Der Hirtendienst ist an das Mit-Sein mit dem ganzen Volk gebunden. Die Hirten müssen manchmal dem Volk vorangehen, um es zu leiten, manchmal in der Mitte der Herde sein, um sie zu ermutigen und zu stärken. Manchmal muss der Hirt auch hinter der Herde gehen, um sie zusammenzuhalten und auch, um sie selbst den richtigen Weg finden zu lassen.[3] Beschrieben wird hier also ein „Hirt mit dem Geruch der Schafe“ (ebenfalls ein berühmtes Zitat von Franziskus), der ganz nah an den Bedürfnissen der Menschen ist, aber zugleich eine fürsorgliche, leitende Position übernimmt.

Ein solches Bild trifft vielleicht das Idealbild der Generation vom Priestern in den 70er und 80er Jahren. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil war man vom Bild des „Hochwürden“, der quasi im Alleingang die Geschicke einer Pfarrei leitete und Autoritäts- und Respektperson war in weiten Teilen der Priesterschaft abgerückt. Als Ideal galt tatsächlich der seelsorglich und theologisch begabte Gemeindepfarrer, der sich um eine gute Kultur der Gemeinschaft bemühte. In diesem Bemühen war er allerdings manchmal unerbittlicher und geistig enger als so mancher „Hochwürden“ vergangener Zeiten. Heute ist ein solches Priesterbild in die Kritik gekommen. Dies geschieht von zwei Seiten: Zum einen wird der Begriff der „Pastoralmacht“ bemüht, ein Begriff, der von Michel Foucault geprägt wurde. Gemeint ist eine Art der persönlichen Menschenführung, eine Machtausübung durch ein „Kümmern“, die zugleich die negative Auswirkung haben kann, Menschen in ihrer Freiheit zu beschneiden. Wäre es nicht wichtig, unter dem Vorzeichen der Freiheit die Selbstbestimmung der Gläubigen viel stärker zu betonen? Braucht es in der Kirche wirklich Menschen, die anderen vorgeben, wohin sie zu gehen haben? In der pastoraltheologischen Debatte ist längst eine offene Kritik an Strukturen an der Tagesordnung, die freiheitliche Entscheidungen in Fragen der Religion lenken und leiten möchten. Den Priester braucht es hier höchstens noch als Berater und Begleiter, vielleicht auch Ermöglicher und Inspirator, nicht aber als Führungsperson.

Auf der anderen Seite wird der Priester nach dem Vorbild des guten Hirten durch die realen Bedingungen des Berufes in der heutigen Zeit nicht selten unrealistisch. Die Autorin Petra Mosbach zeichnet in ihrem Roman „Gottesdiener“ ein häufig leider extrem realistisches Bild des priesterlichen Dienstes. Ihr „Held“ ist ein bayerischer Landpfarrer, der im besten Willen, ein guter Pfarrer zu sein, von den Erwartungen seiner Gemeinde, aber auch der bischöflichen Verwaltung so beansprucht wird, dass für eine priesterliche Existenz im Sinne einer Idealvorstellung kein Platz mehr bleibt. Er verrichtet treu seine Aufgaben, indem er serienweise Gottesdienste feiert, Gruppen und Einzelpersonen nach deren Erwartungen mit Vorträgen, Diskussionen und durch seine schiere Anwesenheit bei jedem Event „bedient“ und sich mit Verwaltungsfragen und mehr oder minder wichtigen Anliegen der Gremien und des Generalvikariats herumschlägt. Der Priester ist hier zum Funktionär eines eng getakteten Kirchenbetriebs geworden und hat seine geistliche Bestimmung (und auch seinen Glauben) dabei aus den Augen verloren. Der „Hirte des Volkes“ ist zu einem Dienstleister verkommen. Das kommt durchaus vor. Aufsehen erregte der Fall der Münsteraner Pfarrers Thomas Frings, der 2016 sein Pfarramt an den Nagel hängte, weil er mit dem ständigen Erwartungsdruck nicht mehr leben wollte, beständig als guter Dienstleister für schöne Taufen, prächtige Erstkommunionen und fröhliche Gemeindefeste in Anspruch genommen zu werden. Er vermisste die geistliche Dimension seines Dienstes und den tieferen Sinn in seinem Tun.

Schon diese kurzen Anmerkungen zeigen, wie schwer es ist, in der heutigen Zeit ein schlüssiges Konzept oder Leitbild für den priesterlichen Dienst zu zeichnen. Es gibt allerdings noch mehr Priesterbilder. Ebenfalls vorgeschlagen wird in den letzten Jahren immer wieder der Priester als geistlicher Inspirator. Das in Seelsorgekreisen gerne gelesene Buch von James Mallon „Wenn Gott sein Haus saniert“ gehört in die Reihe von Büchern, in denen sich der Priester als Geistlicher vorstellt, der auf der einen Seite auf die Selbstverantwortung der Gläubigen setzt, die Pfarreileitung auf verschiedene Schultern verteilt und sich selbst auf die Förderung der gemeindlichen Spiritualität fokussiert. In einer neuen Form der Gemeindebildung durch Glaubenskurse, geistliche Übungen und caritatives Engagement soll so eine neue Pfarrgemeinschaft entstehen, die im Kern eine geistliche Gemeinschaft mitten in der Welt darstellt. Sie legt gewissermaßen ihr liebgewonnenes, teilweise sehr weltliches Gewand ab. Der Priester sieht sich als Motor der geistlichen Erneuerung. Sein Dienst ist das des Begleiters, Motivators und Fachmanns in theologischen Fragen. Der Priester ist dabei der „Manager“ für die unterschiedlichen Begabungen und Charismen der Gläubigen und vor allem ein Mensch der Beziehung.

Der von mir sehr geschätzte Benediktinerpater Elmar Salmann wagt einen noch ungewöhnlicheren Vorschlag. Sein Vorbild sind Priester, aber auch andere Gläubige im Gewand des „christlichen Gentleman“. Ein Priester ist hier ein Mensch von Bildung und Kultur, der durch eine zurückhaltende Weisheit mit Freundlichkeit und Geschick auf die Bedürfnisse der Menschen eingehen kann. Er ist ein zurückhaltender Mensch, kein Eiferer des Glaubens, noch ein „Machertyp“. Salmann formuliert:

„In allem waltet ein Anflug von Eleganz, durchzogen von taktvollem Innehalten gegenüber dem Anderen (und gegenüber dem Anderen, das ich für mich selbst darstelle), von einer Freundlichkeit, welche den auratischen Schein (den ‚Hof‘), der jeden Menschen umhüllt, achtet. Wir finden darin eine Liebe, die allen Unterschieden großzügig entgegentritt, die Räume des Atmens schafft, um das unausdrückbar-überraschende Geheimnis jedes Menschen zu entbergen ebenso wie den wahren Abstand, die wahren Wahlverwandtschaften zwischen den Personen und den Phänomenen.“[4]

Es ist wahrscheinlich überflüssig zu erwähnen, dass Salmann selbst diesem Bild stark entspricht und damit eine echte Ausnahmeerscheinung ist. Als Mönch und Professor hat er allerdings dazu auch die nötige Freiheit.

Wenn Sie selbst in Gedanken die Priester, Revue passieren lassen, die Sie kennen und erlebt haben, werden sie die unterschiedlichen Typen sicher identifizieren können. Ob „Hochwürden“, „guter Hirte“, „seelsorglicher Begleiter“, „Funktionär“, „Inspirator“ oder „Gentleman“ – etwas davon werden sie (wahrscheinlich in Mischformen) bei allen finden können. Sie werden den einen oder anderen Typus als sympathischer oder für sie passender identifizieren. Es mag darüber hinaus noch mehr Spielarten priesterlicher Existenz geben, gelungene und gescheiterte. Ich glaube, hier liegt ein tiefer Grund, warum ich für den Priesterberuf weiter werben möchte: Er fordert einen eigenen Stil. Anders als vielleicht zu allen anderen Zeiten ist der Priester in seiner Rolle weniger normiert als heute. Die Ausübung des priesterlichen Dienstes muss und darf in unterschiedlichen Stilrichtungen ausgeprägt werden. Die pluralen Stile entsprechen einer pluralen Gesellschaft mit pluralen Bedürfnissen. Die Ausprägung einer priesterlichen Persönlichkeit fordert dabei allerdings die Bereitschaft zu einer geistlichen und persönlichen Reifung und ausreichend Freiräume, um sie zu ermöglichen. Dabei ist daran zu erinnern, dass im biblischen Bild nicht der Priester (oder sonst jemand) der Hirte ist, sondern allein Jesus selbst. Wie für alle Berufungen gilt, dass der Priester in erster Linie bereit sein soll, sich von ihm führen zu lassen.


[1] https://sensusfidei.blog/2018/10/21/berufung/

[2] Jorge Mario Bergoglio, Pastori del polpolo non chierici di stato, in CivCatt 164,4 (2013), 3-30 (original spanisch 2008).

[3] Papst Franziskus, Ansprache am 4. Oktober 2013.

[4] Elmar Salmann, Sacra morum elegantiae, in: Geistesgegenwart, St. Ottilien 2010, 33-36, 34.

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