Das zufällige Fest

Unter den Besuchern klassischer Konzerte gibt es meiner Beobachtung nach zwei ganz besondere „Typen“. Es sind diejenigen, die nach dem ganz besonderen Konzert- oder Opernerlebnis suchen. Die einen studieren dazu die Theaterkritiken und nehmen teilweise einen großen Aufwand in Kauf um genau die Orchester, Solisten oder Sänger zu hören, die zur Zeit als die besten gelten. Das besondere Ereignis besteht in der Auswahl des Besten. Brahms erstes Klavierkonzert von diesem oder jenem Solisten, der „Freischütz“ in der ganz besonderen Inszenierung in X oder Y, ein Konzert von Cecilia Bartoli, unabhängig von den gebotenen Repertoire – das alles verspricht den ganz besonderen Kunstgenuss, das Ereignis schlechthin, die heute unübertroffene Interpretation. Es gibt Leute, die sich eine Oper wie „Norma“ nirgendwo mehr anschauen können, weil keine Solistin an Maria Callas in dieser Rolle heranreicht.  Der andere „Typ“ sucht das Besondere Ereignis als Zufallsfund. Es sind Konzertbesucher, die sich bewusst abseits der ausgetretenen Pfade des Kulturbetriebs bewegen und in Konzerte unbekannter Ensembles gehen. Sie wollen Entdeckungen machen. Für kann ein Gambenkonzert in einer alten Dorfkirche, die Neuinszenierung einer wenig gespielten Oper an einem kleinen Opernhaus in der Provinz oder das Klavierkonzert, das der örtliche Kulturverein kuratiert hat zum musikalischen Höhepunkt des Jahres werden. Man könnte die Herangehensweise als „pessimistischen“ und „optimistischen“ Ansatz beschreiben. Wer vor allem die Highlights sucht, erwartet ein Großereignis und kann schnell enttäuscht werden. Eine kleine Unsicherheit im Orchester, ein zu schnell gewähltes Tempo, ein gesanglicher Wackler in einer Arie können solchen Besuchern manchmal schon genügen, um ihnen den Abend zu verderben. Die Optimisten nehmen in Kauf, enttäuscht zu werden. Sie wissen, dass nicht jede Aufführung die sie besuchen ein musikalisches Hochgefühl erzeugen wird. Wenn es nicht gelingt, sind sie trotzdem zufrieden, weil zumindest ihr Erwartungshorizont nicht unterschritten wurde. Wenn sie allerdings etwas Besonderes finden, sind sie umso glücklicher.

Ich erinnere mich selbst an solche Glückstreffer. Bei einer Fahrt mit Jugendlichen sahen wir die Ankündigung einer „Tosca“-Aufführung in einem kleinen toskanischen Dorf. Die Bühne befand sich in der Ruine einer romanischen Klosterkirche. Musik und Inszenierung waren wahrscheinlich eher zweitklassig und zudem summte hinter mir ein italienischer Signore die ganze Oper lang die Melodien mit. Und trotzdem war es das Zusammenspiel aus Urlaub, Atmosphäre, Musik und dem aufgehenden Mond über der toskanischen Landschaft, das den Abend zu einem besonderen Ereignis machte. Der glückliche Moment war ein besonderer Zufallstreffer.

Wer hätte den glückenden Moment noch erwartet? Als die Jünger, wie im Johannesevangelium berichtet wieder daran gehen, ihr Handwerk als Fischer aufzunehmen, haben sie am Morgen wahrscheinlich nicht damit gerechnet, dass dieser Tag für sie ein ganz besonderer werden würde. Zunächst sind sie auf dem See und fangen nichts. Als sie einigermaßen enttäuscht zurückkehren hält das Ufer für die eine Überraschung bereit. Der Auferstandene erwartet sie. Er gibt ihnen die Anweisung, noch einmal die Netze auszuwerfen. Nun kommt Bewegung in die Szene. Petrus schwimmt voller Begeisterung zu Jesus an Ufer, um so schnell wie möglich bei ihm zu sein. Die anderen werfen das Netz noch einmal aus. Am Ufer ist schon ein Feuer bereit, dazu eine Mahlzeit. Am Ende kommt alles zusammen: Die Freude des Wiedersehens und der reiche Fischfang. Der enttäuschende Tag mündet in ein unerwartetes Fest. Auf symbolischer Ebene ist der Fischfang ein Ausdruck für die Fülle des Lebens, die in der Begegnung mit Jesus liegt. Die Zahl der Fische deutet wohl auf die Zahl der bekannten Völker, zu denen die Apostel mit der guten Nachricht gesandt werden. Die Fülle des Lebens und die Freude der Begegnung mit Jesus soll allen geschenkt werden.

Zu den positiven Erfahrungen der vergangenen Wochen gehört, dass ich immer wieder von solchen geglückten Glaubenserfahrungen höre. Obwohl der „Normalbetrieb“ des kirchlichen Lebens unterbrochen ist, ist scheinbar die Freude des Glaubens trotzdem möglich. Es sind nicht die derzeit ausgesetzten verbürgten und feierlichen Formen der Gottesbegegnung, sondern eher die kleinen Formen, manchmal auch Zufallsbegegnungen. So berichten mir Kirchenbesucher, wie schön es für sie war, während der Ostertage in der Kirche unserer Kirchenmusikerin beim Orgelüben zuzuhören, oder sie erzählen von den Andachten, die sie über skype mit Nachbarfamilien gefeiert haben. Ein Freund erzählte mir von alternativen Andachten über die Kartage, die eine Studentengemeinde über das Internet organisiert hatten, ein älteres Ehepaar davon, dass sie jeden Tag eine Heilige Messe, die im Netz übertragen wird andächtig zu Hause mitfeiern. Ich habe von Menschen gehört, dass ihnen das stille Gebet in der Kirche zur Zeit viel bedeutet und von solchen, die neu erfinderisch geworden sind um mit Freunden den Sonntag an schönen Orten in der Natur auch geistlich zu feiern. Es gehört vielleicht zu den Besonderheiten der Krise, auf das Phänomen des geistlichen Glücksmoments (theologisch würden wir von einer Erfahrung der Gnade sprechen) auch außerhalb der bewährten Pfade aufmerksam zu werden. Ich vermute, dass am Ende des Jahres sich gerade solche Erfahrungen während der Krise als prägende religiöse Momente eingeprägt haben. Tatsächlich muss ich die Alltagsfähigkeit des Glaubens zur Zeit mehr bewähren als zuvor. Die Festerfahrung wird auch wieder folgen. Gerade darin liegt doch der Osterglaube:  Der Herr ist da. Der Auferstandene erwartet uns immer wieder. Seine Zeichen sind Trost, Freude, Ergriffenheit, Hingabe und Nachfolge. Und manchmal steht er völlig unverhofft an einem Ort, an dem wir ihn nicht erwartet hätten.

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