Mit der Geschichte des kleinen Samuel war es so (1 Sam 3,3-10): Seine Mutter Hanna wünschte sich ein Kind, dachte aber, dass sie keines mehr bekommen könne. Jedes Jahr ging sie in das Heiligtum in Schilo und betete verzweifelt, dass Gott ihr doch schenken möge, Mutter zu werden. In einem Jahr machte sie ein Gelübde: Gott, wenn du mich erhörst und ich einen Sohn bekomme, dann soll dieser Sohn ganz dir geweiht sein. Das hörte der Priester Eli, der dort in Schilo war. Er prophezeit Hanna, dass sie nicht traurig zu sein braucht, weil Gott ihre Gebete erhören wird. Und tatsächlich. Hanna bekommt ein Kind, Samuel. Nach einiger Zeit erfüllt sie ihr Gelübde, geht wieder nach Schilo und übergibt den Knaben dem Priester Eli. Fortan wohnt er bei Eli im Tempel. So kommt es zur Begebenheit, die das erste Buch Samuel erzählt. Der junge Samuel schläft im Heiligtum, als er die Stimme Gottes vernimmt. Da er nicht weiß, was dort geschieht, geht er zu Eli. Der sagt, er habe ihn nicht gerufen. Das Ganze wiederholt sich noch zweimal. Da begreift Eli, dass Gott zu Samuel sprechen will. Gott hat eine Botschaft und Samuel ist der Auserwählte, der sie hören und weitergeben soll. So wird Samuel zum Propheten, einem Mann, der Gottes Wort hört und verkündet.
Die Szene ist bekannt als eine der großen Berufungsszenen des Alten Testaments. Diese Szenen sind immer ähnlich: Gott sucht sich Menschen aus, die für seinen Plan mit Israel eine besondere Rolle spielen sollen. Nur sie können direkt mit Gott sprechen. Zu den Berufenen gehören Noach, Abraham, Mose, später David, Salomo, Elija, Jesaja oder Ezechiel, also die Stammväter, Könige und Propheten. Wenn wir heute von Berufung sprechen, dann klingen diese Geschichten mit. Die Berufung ist etwas Besonderes, Ungewöhnliches. Menschen werden zu einem ganz besonderen Dienst für Gott gerufen. Daher spricht man von Berufungen bei Priestern und Ordensleuten, Menschen, die zu einem besonderen Gottesdienst ausgesondert und bestimmt werden. Die Berufung der Jünger im neuen Testament scheinen das zu bestätigen. Aber da ist noch mehr. Jesus kennt nicht nur die speziell an eine Person gerichteten Berufungsworte, sondern er richtet die Berufung an ganz Israel: „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“, „das Reich Gottes ist euch nahe“, „wer meinen Willen tut, der ist für mich Bruder, Mutter und Schwester“. Die Berufung ist an viele gerichtet. Ist also die Berufung etwas ganz Spezielles, oder etwas ganz Allgemeines?
In bin vor Kurzem über eine ganz besondere Berufungsgeschichte gestolpert. Im Fernsehen lief eine Dokumentation über das Restaurant „noma“ in Kopenhagen. Das ist nicht irgendein Restaurant, sondern das beste der Welt. Zumindest ist es dreimal als solches ausgezeichnet worden. Der Küchenchef des „noma“ heißt René Redzepi. Er ist also der beste Koch der Welt. Wie ist er das geworden, wurde er gefragt. Wie ist er auf die Idee für die Kochkunst des „noma“ gekommen? René berichtete, dass sein Restaurant erstmal gar nicht gut lief. Im Gegenteil, er stellte sich schon die Frage, ob man es wieder schließen müsse. „Dann“, sagte er, „hatte ich ein großes Glück. Ich wurde eingeladen zu einem Urlaub in Grönland. Wir wanderten durch die unberührte Natur, durch Schnee, der noch nie von einem Menschen betreten wurde. Das beeindruckte mich tief und ich dachte mir: Ja, darum geht es – wir müssen zurück zum Großen und Ganzen, wieder sehen, was um uns an Ursprünglichen ist. Die Welt um uns ist so phantastisch, dass sie unsere großen Einfälle eigentlich gar nicht braucht. Wir stehen hier, an einem bestimmten Ort, in einer bestimmten Zeit. Wenn wir es schaffen könnten, dieses Bewusstsein durch unser Essen im Restaurant zu wecken, dann wird daraus etwas Großes.“ Diese Erfahrung hat für den Küchenchef alles verändert. Er ging auf die Suche nach dem Geschmack, durchstreifte die dänischen Wälder und Landschaften, fand Aromen, die zuvor niemand beachtet hatte. Das Essen bekam einen Ort. Alle Zutaten kommen aus der Umgebung. Es gibt nur das, was sich zu dieser Jahreszeit finden lässt. Die Gerichte des „noma“ wollen den Menschen neu verwurzeln, ihm Ort und Zeit und damit ein Gespür für das Große um ihn herum geben.
Wenn ich versuche, diese Erfahrung christlich zu deuten würde ich meinen, sie trägt alle Züge einer Berufung. Die Berufung hat nämlich den folgenden Grundgedanken: Gott ruft mich, am Großen und Ganzen, also an seinem Werk mit dem Menschen teilzuhaben. Ich bin Teil seines Heilsplans, mit meinen Möglichkeiten und Grenzen. Das zweite: Meine Berufung hat einen Ort und eine Zeit. Sie berührt mein ganz konkretes Leben, sie fordert mich heraus, meine Antwort auf die Herausforderungen meiner Zeit zu geben. Sie kennt keine guten und schlechten Bedingungen, sondern nur das Leben, wie es ist. Drittens: Die Berufung verändert mich und mein Leben. Gottes Prinzip ist, mich zu einem Leben in Fülle zu führen, zu einem Leben, das Tiefe und Qualität gewinnt. Die Berufung ist damit nicht die Wahl eines bestimmten Berufes, sie ist nicht die Pflege einer bestimmten Begabung, sie ist nicht an ein bestimmtes Projekt gebunden. Die Berufung ist die Wahl eines Lebensstils und eines Lebensentwurfes. Sie verändert sich nicht ständig, sondern will in der Treue und im Bleiben an Tiefe gewinnen. Der Ruf Gottes zeigt sich in einer tiefen Einsicht: Wenn ich das Gefühl habe, dass mein Herz bei einer bestimmten Art und Weise, mein Leben zu gestalten zur Ruhe kommt. Dort wo Frieden und Trost sind, da kann ich die Bestimmung meines Lebens finden. Es ist der Moment, an dem ich in Gottes Plan einwillige. Daher ist die Berufung sowohl etwas Allgemeines, weil sie an alle Menschen ergeht und sie ist etwas Spezielles, weil meine Antwort eine ganz eigene Form und Ausprägung annimmt.
Der Text ist eine überarbeitete Predigt, die ich am 2. Sonntag im Jahreskreis 2018 in Quickborn gehalten habe.
Ein Kommentar zu „Berufung“