Einsame Messen

Stille in der Kirche. Die letzten verglimmenden Opferkerzen vor der Marienstatue geben Zeugnis von einzelnen Besuchern, die sich während des Tage im großen Raum des Gotteshauses aufgehalten haben. Im ausliegenden Fürbittbuch finden sich vereinzelte Einträge, eine Bitte, ein Dank, ein Gruß an die Gemeinde. Ich trete vor den Altar, mache ein Kniebeuge. In der Hand halte ich den Kelch. Ich gehe die Stufen hinunter zur Krypta, verneige mich, mache den Altarkuss. „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Der Herr sei mit euch!“ – Keine Antwort. Ich blicke auf die leeren Stuhlreihen. Niemand da. Ich feiere die Heilige Messe alleine. „Geht das überhaupt?“, denke ich? Kann ich die Messe feiern, ohne dass jemand singt, mitbetet, antwortet? Ich weiß: Es ist ein wichtiges Zeichen, auch in den Zeiten der Isolation die Tradition der Messfeier nicht abbrechen zu lassen. Seit über 200 Jahren wird hier die Messe gefeiert. Eine solche Kontinuität darf nicht einfach aufhören. Gemeindemitglieder haben mich darauf hingewiesen, dass es für sie gut ist zu wissen, dass es trotz allem weitergeht. Ein Zeichen von Normalität in unnormalen Zeiten. Aber trotzdem: Was ist die einsame Messe für ein Zeichen?

Im Gegensatz zu anderen Gottesdiensten, zum Stundengebet, zum Rosenkranz, zur Kreuzwegandacht oder zur Schriftbetrachtung ist die Heilige Messe keine private Frömmigkeitsübung. Sie ist immer eine Feier der ganzen Gemeinde. Wenigstens ein paar ihrer Repräsentanten sollten da sein. Selbst in den Zeiten, in denen viele Privatmessen gefeiert wurden, meist an den Seitenaltären alter Kirchen, war dieser Grundsatz klar. Der Priester musste mindestens von einem Ministranten begleitet werden, der mitbetete und bei der Bereitung der Gaben half. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde die Bedeutung der Gemeinschaft für die Feier der Liturgie besonders herausgestellt. „Die liturgischen Handlungen sind nicht privater Natur, sondern Feiern der Kirche, die das ‚Sakrament der Einheit‘ ist; sie ist nämlich das Heilige Volk, geeint und geordnet unter den Bischöfen“ – so bestimmte es die Konstitution über die Liturgie.[1] Deswegen sollten alle öffentlichen Riten auf Beteiligung ausgelegt sein. Die Gläubigen sollten in „tätiger Teilnahme“, durch gemeinsames Beten, Singen und liturgische Aufgaben in das Geschehen eingebunden sein. Sie sollen sich „durch das Wort Gottes formen lassen, am Tisch des Herrenleibs Stärkung finden. Sie sollen Gott danksagen und die unbefleckte Opfergabe darbringen nicht nur durch die Hände des Priesters, sondern auch gemeinsam mit ihm und dadurch sich selber darbringen lernen.“[2] Was hier in etwas ungewohnter Sprache dargestellt wird heißt übersetzt: „Ihr seid in der Eucharistie immer mitgemeint“. „Es sind eure Gaben, die verwandelt werden.“ „Es ist euer Leben, das sich mit Gott in der Messe verbindet“. Deswegen ist die physische Anwesenheit der Gläubigen keine Nebensache. Sie ist, wie der Liturgiewissenschaftler Michael Kunzler schreibt, nie nur eine rein geistige Anwesenheit. Weil das Christusgeschehen nicht nur eine mystische Dimension, sondern immer auch eine historische Dimension hat, ist auch die Liturgie in Zeit Raum und verankert, kein „ewiges“ oder „geistiges“ Geschehen, sondern ein ganz konkretes Werk echter Menschen. Deshalb meint Kunzler: „Nur wenn Christen zusammenkommen, um die Eucharistie zu feiern, kann diese stattfinden […].“[3] Johannes Paul II. greift diesen Zusammenhang in seiner Enzyklika „Ecclesia de Eucharistia“ auf. Dort heißt es in Nummer 35: „Die enge Beziehung, die zwischen den unsichtbaren und den sichtbaren Elementen der kirchlichen Gemeinschaft besteht, ist ein konstitutives Merkmal der Kirche als Sakrament des Heiles. Nur in diesem Zusammenhang ist die Feier der Eucharistie rechtmäßig und die Teilnahme an ihr wahrhaftig. Deshalb ist es eine Anforderung, die sich aus dem Wesen der Eucharistie ergibt, dass sie in der Gemeinschaft gefeiert wird […].“ Die Allgemeine Einführung ins Messbuch verstärkt dies noch einmal: „In der Messfeier […] ist Christus wirklich gegenwärtig in der Gemeinde, die sich in seinem Namen versammelt, in der Person des Amtsträgers, in seinem Wort, sowie wesenhaft und fortdauernd unter den eucharistischen Gestalten.“[4]

Um die Eucharistie vollständig zu feiern braucht es also den Priester, das Wort Gottes, das Altarsakrament und die Gemeinde. Was soll ich nun denken, wenn eines dieser konstitutiven Elemente fehlt? Ist die Messe dann noch vollständig? Ich könnte sie auch nicht ohne Priester feiern, oder ohne die Verkündigung des Wortes, erst recht nicht ohne die Gaben von Brot und Wein, von Leib und Blut Christi. Eigentlich geht das nicht. Eine Messe ohne Gemeinde ist keine.  Mir kommt das Schriftwort in den Sinn: „Können denn die Hochzeitsgäste trauern, solange der Bräutigam bei ihnen ist? Es werden aber Tage kommen, da wird ihnen der Bräutigam weggenommen sein; dann werden sie fasten“ (Mt 9,15). Insofern ist eine Eucharistiefeier ohne Gemeinde eine Feier, in der Christus, der Bräutigam da ist aber auch nicht ganz da ist. Es ist eine Zeit des Mangels und des Fastens. In diesen Tagen versuchen Gemeinden und Priester mit diesem Mangel kreativ umzugehen. Auf facebook fand ich die Bilder einer Kirche, in der in den Bänken Fotos der Gemeindemitglieder aufgestellt waren. Der Priester wollte zeigen: Auch, wenn ihr gerade nicht hier sein könnt, so seid ihr doch wenigstens auf diese Weise da. Verbreiteter ist es, die Messfeier per livestream zu übertragen und so die gottesdienstliche Gemeinschaft wenigstens über das Internet sicherzustellen. Dies sind Notbehelfe, aber sicher besser als eine Feier ganz ohne Gemeinde.

Das Kirchenrecht ist in dieser Hinsicht nicht ganz konsequent. In Kanon 904 wird die Bedeutung der häufigen Messfeier betont. Den Priestern wird die tägliche Zelebration empfohlen „auch wenn eine Teilnahme von Gläubigen nicht möglich ist“. Auch eine solche Messe ist eine „Handlung Christi und der Kirche“. Dahinter steht die Überzeugung, dass auch die Eucharistiefeier immer ein stellvertretendes Handeln ist. Romano Guardini, einer der bedeutenden Theologen des Anfangs des 20. Jahrhunderts hat in seinem Buch „Vom Geist der Liturgie“ den Grundstein für ein erneuertes Verständnis des katholischen Gottesdienstes gelegt. Zur Gemeinschaft der Feiernden sagt er:

„Die Liturgie wird nicht vom einzelnen, sondern von der Gesamtheit der Gläubigen getragen: Diese Gesamtheit nun setzt sich nicht nur aus den Menschen zusammen, die gerade in der Kirche sind; sie ist nicht nur die versammelte Gemeinde. Sie dehnt sich vielmehr über die Schranken des betreffenden Raumes hin aus und umfasst alle Gläubigen auf der ganzen Erde. Über die Schranke der Zeit greift sie ebenfalls hinweg, insofern sich die auf Erden betende Gemeinschaft auch mit den Heimgegangenen eins weiß, die in der Ewigkeit stehen. Allein die Bestimmung des Allumfassens erschöpft den liturgischen Gemeinschaftsbegriff noch nicht. Das Ich, welches die liturgische Gebetshandlung trägt, ist nicht die einfache Zusammenzählung aller gleichgläubigen Einzelnen. Es ist deren Gesamtheit, aber sofern die Einheit als solche etwas ist, abgesehen von der Menge derer, die sie bilden: die Kirche.“[5]

Kurz gefasst könnte man sagen: In der Messe betet immer die ganze Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, als Gemeinschaft der Lebenden und der Toten mit. Alle an der Liturgie Beteiligten nehmen gleichzeitig für die Abwesenden teil. Die Liturgie meint immer die ganze Kirche. Nur so kann auch die provisorische Form der Einzelzelebration gerechtfertigt werden, als Werk der ganzen Kirche.

Mich selbst kann das nur wenig trösten. Ich schaue auf die leeren Plätze vor mir. In Gedanken lasse ich die Mitglieder unserer Gemeinde auf diesen Plätzen teilnehmen. Ich erinnere mich an sie und an ihr derzeitiges Leben, an Freuden, Sorgen und Ängste, um die ich weiß. Ich nehme die Anliegen aus dem Fürbittbuch mit in das Gebet hinein und auch die, die beim Anzünden der Kerzen in der Kirche bedacht wurden. Diese einsame Liturgie ist für sie, die Abwesenden. Ich hoffe, dass die Zeit des Fastens bald vorbei ist. Wir können uns erst wieder freuen, wenn der Bräutigam wieder ganz da ist, die Zeit, in der die Plätze wieder gefüllt werden und die Stille in der Kirche eine Stille ist, in der die Gebete der versammelten Gemeinde den Raum füllen.


[1] II. Vatikanisches Konzil, Sacrosanctum concilium (SC), Nr. 26.

[2] SC 48.

[3] Kunzler, Michael, Die Liturgie der Kirche, Paderborn 1995, 270.

[4] Allgemeine Einführung ins Messbuch, Nr. 7.

[5] Guardini, Romano, Vom Geist der Liturgie, Paderborn 2013 (1918), 32.

3 Kommentare zu „Einsame Messen

  1. Danke für die Worte und bitte auch an mich denken. Das Gebet für die Gebetskette habe ich von Sr. Katharina und hier weiter gegeben. .Alles Gute

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  2. Die Franziskaner des Ordo saecularis in der Region Ost kommen morgen um 11.00Uhr unter dem Kreuz von Sandiamo zu einem Kapitel zusammen- jeder für sich zwar, aber im Bewusstsein unsrer Gemeinschaft. Das Kreuz von Sandiamo ist für uns ein wichtiges Heilszeichen. Jesus schaut uns mit offenen Augen an. Wir schauen zurück und lassen den Blick auf uns wirken. Wir denken an all die Gaben, die wir empfangen durften und an Gottes wunderbare Schöpfung. Wir sind dankbar über unsere Gemeinschaft,die sich von Dresden, Halle, Berlin bis an die Müritz zieht und über unsere Jahrhunderte alte Tadition. Als Zeichen der Verbundenheit wird jeder für sich und alle zusammen eine Kerze anzünden, das Vaterunser beten und die vorbereiteten Fürbitten sprechen. Wir werden alle Gläubigen in unsere Gebete und Herzen einbeziehen. pace e bene Thomas

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