Das Corona-Virus hat Erstaunliches bewirkt. Neben dem öffentlichen Leben kommt auch das kirchliche Leben zum Erliegen. Im Erzbistum Hamburg, wie auch in anderen Bistümern entfallen die Gottesdienste. Zu früheren Zeiten hätte das Auftreten einer Epidemie eine gegenläufige Tendenz in Gang gebracht. Gerade in Zeiten der Krise wäre die Zahl der Gottesdienste, der Messen, Buß- und Bittandachten gestiegen. Es entsprach dem religiösen Empfinden, gerade jetzt Gott verstärkt um seinen Beistand und um Heilung der Kranken anzurufen. Die lokale Kirchengeschichte ist voll von Gelübden, Prozessionen und Traditionen, die etwa während der Pestzeit entstanden sind. Die moderne Medizin scheint eine solch intensive Zuwendung zu Gott mit der Bitte um Hilfe und Schutz überflüssig gemacht zu haben. Die staatlichen Autoritäten sind im Sinne der Prävention schützend tätig geworden. Ärzte und Krankenhäuser liefern die sichere Alternative zur Hoffnung auf Gebetserhörung. Niemand wünscht sich diesbezüglich die alten Zeiten zurück. Wir können dankbar sein, in einem Land zu leben, dass über die nötigen Strukturen und Ressourcen verfügt, um weite Teile der Bevölkerung zu schützen. Die Religion hat sicher im Hinblick auf die konkrete Heilung und Bewahrung der Menschen an Funktion verloren. Hat sie aber in dieser Situation noch etwas zu sagen? Bei der Absage von Gottesdiensten geht es ja um mehr als um die Einstellung eines gewohnten Services. Es wird in den Berichten über die kirchliche Situation unter Seuchenbedingungen wenig über die geistliche Dimension des Geschehens gesprochen. Ist nicht das Bedürfnis nach geistlicher Zuwendung und nach Glaubensgemeinschaft gerade in ernsten Zeiten lebendig? Die Corona-Krise wird diesbezüglich ein Testfall sein. Wenn es keine öffentlichen Gottesdienste gibt, wäre es eigentlich ein tiefer Wunsch, dass die häufig vergessene Ressource der häuslichen Andacht und des persönlichen Gebets gestärkt werden könnte. Die Zeit wird zeigen, ob die möglicherweise mehrwöchige Unterbrechung der kirchlichen Routine nach deren Ende ein Aufatmen hervorbringen wird. Es steht zu befürchten, dass gerade die Unterbrechung allerdings im Gegenteil bewirken wird, dass es wieder viele sein werden, die die Routine nicht in gewohnter Weise wieder aufnehmen werden. Die Zahl der regelmäßigen Kirchgänger könnte sich weiter verringern. Woran liegt das?
Das Evangelium des dritten Fastensonntags schildert die Begegnung Jesu mit einer samaritischen Frau am Jakobsbrunnen (Joh 4, 5-42). Der Ort ist symbolträchtig. Der Jakobsbrunnen ist der Entstehungsort des Volkes Israel. Jakob war damals vor seinem Bruder Esau geflüchtet und gelangte auf der Suche nach einem sicheren Exil bei seinem Onkel Laban an den Brunnen (Gen 29). Dort traf er Rahel, die Tochter Labens. Rahel führt die Schafe mit sich. Jakob öffnet ihr den Brunnen, indem er einen Stein, der ihn verschlossen hat, zur Seite wälzt. Nun ist es möglich, Wasser zu schöpfen und die Herde zu tränken. Das Öffnen des Brunnens ist der Anfang einer Beziehung. Jakob verliebt sich in Rahel und wird um sie bei Laban freien. Während der langen Jahre des Dienstes werden die Söhne Jakobs geboren. Der Brunnen für das Leben des Gottesvolkes wird geöffnet.
Im Evangelium zeigt sich eine Parallele. Jesus trifft eine Frau. Und wieder geht es darum, den Brunnen zu öffnen und zu trinken. Diesmal ist es Jesus, der die Frau um Wasser bittet. Aber dieses Wasser ist noch nicht das eigentliche. Jesus bietet der Frau an, ihr den Brunnen des lebendigen Wassers zu öffnen. Damit ist die Zuwendung des Geistes, die Gottesnähe und Erkenntnis gemeint, die das ewige, bleibende Leben bei Gott bedeutet. Aus dem Eröffnen dieses Brunnens wird eine neue Beziehung entstehen. Die Frau tritt in diese Beziehung mit Jesus ein, indem sie ihn als Messias erkennt. Das Gottesvolk tritt aus den engen Bahn der jüdischen Gemeinschaft hinaus und erweitert sich in die Gemeinschaft der Völker hinein. Gottes Heilswille steht allen Menschen offen.
Im Grunde ist dafür eine innere Regung der Frau ausschlaggebend. Sie bittet Jesus: „Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe“. In diesem Wort liegt eine tiefe Sehnsucht. Es ist eine Sehnsucht nach Heilung, Trost, nach Weisheit, Tiefe und Fülle des Lebens, die aus der lebendigen Beziehung zu Gott hervorgeht. Die geistliche Sehnsucht nach der Gottnähe ist der Nährboden des geistlichen Lebens. Das Bedürfnis nach der Eucharistie, der Vergebung, der Tröstung und Seelsorge speist sich aus der Sehnsucht. Erst wo diese geweckt wird, bekommen die Vollzüge des Glaubens und der kirchlichen Gemeinschaft ihren tieferen existentiellen Sinn. Das Gottesvolk wird aus den geistlichen Gaben, aus dem göttlichen Trost, aus Glaube, Hoffnung und Liebe gespeist und erneuert. Ist die Sehnsucht verschüttet, erschließt sich ihr Sinn auf Dauer nicht mehr.
Ignatius von Loyola ist einer der großen Heiligen der Sehnsucht. Er empfiehlt in den geistlichen Übungen, bei jeder Betrachtung der Heiligen Schrift nach ihr zu fragen. Nachdem der Beter sich das Evangelium bildhaft vor Augen geführt hat stellt Ignatius die folgende Aufgabe: „Erbitten von Gott unserem Herrn, was ich begehre und ersehne“.[1] Welche ist die innere Regung die ich verspüre? Wonach streckt sich meine Seele zu Gott hin aus? Dabei geht es nicht in erster Linie darum, sich von Gott eine Bitte erfüllen zu lassen. Vielmehr ist die Sehnsucht ein Mittel, sich Gott im Spiegel der Heiligen Schrift anzunähern um Trost, Erkenntnis und Sicherheit für das eigene Leben zu erfahren.
Wie ist es also mit der Sehnsucht? Vielleicht ist gerade die erzwungene gottesdienstlose Zeit der richtige Augenblick, nach dieser Sehnsucht zu fragen. Was fehlt mir denn, wenn ich beispielsweise die Eucharistie nicht empfangen kann? Was fehlt mir, wenn ich nicht in der gottesdienstlichen Gemeinschaft beten und singen kann? Dabei geht es nicht um die äußeren Dinge, sondern einfach um das, was sich innerlich, vielleicht häufig unbewusst mit der gottesdienstlichen Feier verbindet. Das liturgische Fasten könnte dazu dienen, dieser Frage auf den Grund zu gehen. Zugleich kann ich nach Formen der Gottesgemeinschaft suchen, die zumindest für eine Zeit dabei helfen, den geistlichen Weg weiterzugehen. Die Schriftbetrachtung ist dazu sehr geeignet, ebenso das persönliche Gebet mit eigenen Worten. Es kann aber auch das betrachtende Dasein in der Stille der leeren Kirche sein. Die Zeit der Krise darf keine gottlose Zeit sein. Der Brunnen des lebendigen Wassers ist nicht verschlossen. Es werden Zeiten kommen, wo er wieder zu seiner Fülle verfügbar sein wird. Ich hoffe, es ist eine Zeit, in der wir uns über diese Fülle wieder freuen werden und sie neu zu schätzen lernen.
[1] Ignatius, Exerzitienbuch Nr. 48.
Lieber Propst Bergner,
Vielen Dank für Ihre Worte zum Sonntag und für diese Zeit der Entbehrung.
Es tut mir gut, Anregungen zu bekommen. Ihre Predigten geben mir immer sehr viel.
Deshalb möchte ich mich auf diesem Wege bedanken.
Herzliche Grüße
Christiane Storrer
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