Zu meinen frühen Leseerlebnissen gehörte die Lektüre von Michael Endes „Momo“, ein Buch, dass ich in einem Familienurlaub in einem Rutsch verschlang. Der Roman, 1973 erschienen, erzählt die Geschichte einer kleinen italienischen Außenseitergesellschaft, die sich rund um ein altes Amphitheater versammelt. Ihr Mittelpunkt ist das Mädchen Momo. Sie hat keine Herkunft, passt in kein gängiges gesellschaftliches Raster und zeichnet sich durch eine herausragende Eigenschaft aus: das Zuhören. Doch Momo hat Gegenspieler. Die fröhliche Welt des Amphitheaters ist bedroht. Eines Tages bekommt Momo Besuch von einem Grauen Herrn. Er ist Vertreter einer Firma, die anderen Menschen ihre Zeit abkauft und (wie sich später herausstellt), von den eingesammelten Zeitreserven lebt. Die Grauen Herren haben den Auftrag, die Gesellschaft auf Effektivität zu trimmen. Für wichtige menschliche Bedürfnisse, die Muße, die Erholung, die Langsamkeit, die Sorge füreinander bleibt kein Raum mehr. Im Willen, Zeit zu sparen, verlieren sich die Menschen in einer kalten Leistungsgesellschaft und damit ihr eigentliches Menschsein aus dem Blick. Sie verlieren sich selbst. Unschwer ist in „Momo“ eine Generalkritik an Kapitalismus und Konsumgesellschaft zu erkennen. In einer Welt, in der alles effektiv gestaltet wird, ist der Service gut, aber das Leben ohne Farbe. Das Grau der Herren von der Zeitsparkasse ist kein Zufall. Michael Ende verarbeitet das in einem poetischen Bild. Die Zeit wird bei ihm als kostbare, bunte Blume vorgestellt, die unter der Hand der Zeitsparer getrocknet und zu grauen Zigarrenblättern der ewig rauchenden Herren verarbeitet wird.
Dass ich damals „Momo“ gelesen habe, gibt bereits Aufschluss über die Zeit, in der ich großgeworden bin. In den 70er Jahren gab es die große pädagogische Wende. Die freie Entwicklung des Kindes stand hoch im Kurs. Die „alternativen“ Milieus, die sich für mehr Nonkonformismus, Kreativität und für eine gesellschaftliche Umgestaltung nach friedensethischen, dialogischen und ökologischen Gesichtspunkten einsetzten, waren stark. „Momo“ war ein Bestseller. Die Verfilmung des Romans 1986 erzielte Rekordzuschauerzahlen. Heute ist das Buch ein wenig angestaubt und weitgehend in Vergessenheit geraten. Die „Alternativen“ von damals würden sagen: Die grauen Herrn der Spaß-, Konsum- und Leistungsgesellschaft haben sich letztlich durchgesetzt.
Michael Ende skizziert in seinem Roman den Gegensatz einer freien Individualität zu einem gesellschaftlichen Konformitätsdruck. Ist der einzelne Mensch ein freies Subjekt (eine „Persönlichkeit“) oder ein Repräsentant des Kollektivs (also eine „Type“)?
Man kann „Momo“ auch als Parabel für die Kirche lesen. Auch das hätte in den 80er Jahren sicher Zustimmung erfahren. Die Kirche: Das war doch die Gemeinschaft der Träumer und Utopisten, ein alternativer Gesellschaftsentwurf, der auf persönliche Nähe, auf die Tugenden von Gemeinschaftlichkeit, Sorge, Solidarität und Einsatz für die Gerechtigkeit basierten. Der christliche Glaube gab einem solchen „Gegenentwurf“ die Grundlage. Zumindest klingen die Vorstellungen der „Gemeindetheologie“, die in den 70er Jahren entwickelt wurden, ein wenig nach Momos „Amphitheater“, das gegenweltlich zu einer bedrohlichen, ungerechten und kapitalisierten Umwelt stand. Dieses Idyll war aber nicht bloß von außen bedroht. Statt der „Grauen Herren“ gab es damit immer noch die „Schwarzen Herren“ der Kirchenleitung und des Klerus, die immer wieder versuchten, die kreativen religiösen Spielräume der Gläubigen einzuschränken und zu reglementieren. Diese „Schwarzen Herren“ hatten im Vorfeld des II. Vatikanischen Konzils das Feld beherrscht und die „Institution Kirche“ verwaltetet, einen Apparat mit strengen Hierarchien, Regeln, Geboten und Vorschriften. Wer in den 70er und 80er Jahren einer Gemeinde beheimatet war, die sich dem „Momo“-Geist verpflichtet wusste, der erinnert sich noch an die großen Empörungen, die jeder bischöfliche oder päpstliche Eingriff hervorrief. Der „gute“ Pfarrer vor Ort musste sich zumindest jede Mühe geben, nicht zu den „Schwarzen Herren“ zu gehören. Die klerikale „Uniform“ war dabei im innerkirchlichen Distinktionsfeld von Freund/Feind ein wichtiges Indiz. Hier wurde ein Gegensatz von „jesuanischer Gemeinschaftlichkeit“ und „institutioneller Kirchlichkeit“ geprägt, der bei vielen bis heute nachwirkt.
Ich habe „Momo“, wie gesagt, gerne gelesen. Das Buch bedient die Sehnsucht nach einem „anderen“ Leben, nach einem alternativen Gesellschaftsentwurf, nach einer Gemeinschaft, in der es „menschelt“. Momo, das kleine Mädchen, das so gut zuhören kann, verkörpert ein anziehendes Bild von Seelsorge. Hier ist jemand, der sich Zeit nimmt, der nicht den Gesetzmäßigkeiten der hektischen Welt unterworfen ist. In Momos Gegenwart ist Zeit für Heilung, für Ideen und für das freie Spiel. So ähnlich wünschen sich viele Menschen Seelsorge, in einem vertrauten menschlichen Kontakt, mit Zeit und Sorgfalt. Ich merke das immer mal wieder, dass Menschen, die ich besuche, erst einmal davon ausgehen, dass ich immer viel Zeit habe. Das ist nicht immer der Fall. Für mich ist es selbst unbefriedigend, Gespräche oder Besuche mit Verweis auf meinen Kalender abbrechen zu müssen.
Bevor ich dieses seelsorgliche Dilemma noch etwas tiefer beleuchte, möchte ich auf den Momo-Effekt aufmerksam machen, der kirchlich bereits vor den 70er Jahren eine große Rolle gespielt hat. Etwas vereinfacht gesagt, erschien den Katholiken der Nachkriegsgenerationen (nach dem 1. und 2. Weltkrieg) ihre Kirche als deutlich reformbedürftig. Die Kirche glich vielen einer straffen Organisation, die sich im Zeitalter der aufkommenden Nationalstaaten und angesichts des kommunistischen Gesellschaftsentwurfes scharf gegen die „Welt“ abgrenzte. Diese „societas perfecta“ (vollkommene Gesellschaft) duplizierte teils die weltlichen Organisationen. Die Mitgliedschaft bestand in der sakramental-formalen Zugehörigkeit, gerne auch in der Teilhabe an bestimmten kirchlichen Vereinigungen und den Pfarreien und folgte einer eigenen Logik in kirchlichen Gesetzen, Vorschriften und Geboten.
Der Wunsch vieler Katholiken war, in eine größere Freiheit zu gelangen. Diese Freiheit verstand sich in einer zweifachen „Schleifung der Bastionen“ (Hans Urs von Balthasar). Zum einen sollte innerkirchlich der Weg zur Ausprägung eines persönlichen Glaubens verbreitert werden. Jenseits der formalen Bestimmungen wurde die Notwendigkeit der individuellen Nachfolge betont, die eine Vielfalt katholischer „Stile“ ermöglichte. Zum zweiten sollte die Kirche wieder in stärkere Beziehung zur „Welt“ treten und (theologisch gesprochen) das göttliche Heilswirken auch außerhalb ihrer Mauern ernst- und annehmen. Die großen Theologen der anbrechenden Konzilszeit setzten sich für eine Kirche der persönlich Glaubenden ein, die in ihrer Nachfolge (ihrem Apostolat) dialogisch mit der Welt in Beziehung standen.[1] Diesen Anliegen wurde auf dem II. Vatikanischen Konzil weitgehend Rechnung getragen.
Allerdings entstanden mit dieser „Schleifung der Bastionen“ neue Probleme, die Ausgangspunkt für alle Reformdiskussionen seither sind. Mit der Öffnung zur individuellen Nachfolge als Grundbestandteil christlichen Lebens bestand die offene Frage darin, wie eine solche dann auf Dauer noch „kirchlich“ bleiben kann. Wo früher die Institution und ein klares Regelwerk im Vordergrund standen, in das sich die Gläubigen einzuordnen hatten, wurde mit dessen Verflüssigung natürlich auch die Möglichkeit zu institutionellen Verdunstung gegeben. Das zweite Problem: Wenn die Kirche in Dialog mit der Welt lebt, besteht die Möglichkeit, dass sie in der Welt aufgeht. Statt einer kirchlichen Durchdringung der Wirklichkeit gab und gibt es dann die weltliche Durchdringung der Kirche. Joseph Ratzinger formulierte 1965:
„Die wahre Reform [der Kirche] ist jene, die sich um das verdeckt wahrhaft Christliche müht, sich von ihm fordern und formen lässt; die falsche Reform ist jene, die hinter dem Menschen herläuft, anstatt ihn zu führen und damit das Christentum in einen schlecht gehenden Krämerladen umwandelt, der um Kundschaft schreit.“
Ratzingers Ausweg bestand darin, nicht den Glauben nach dem Geschmack der Menschen umzuwandeln, sondern „den Geschmack der Menschen durch den Glauben auf das wahrhaft Menschliche hinzuführen, das die Alten sapientia nannten, Geschmack für das Göttliche“.[2]
Die Würzburger Synode, die große bundesdeutsche Kirchenversammlung der Nachkonzilszeit, sieht es übrigens ganz ähnlich. Sie entwirft ein eher düsteres Bild der weltlichen Zustände und spricht von einem „naiven Entwicklungsoptimismus“, der zu stark auf technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt vertraut habe und dessen Verheißungen auf den Leim gegangen sei.[3] Die Kirche müsse gegenweltlich Anwältin der christlichen Hoffnung sein, deren Träger die Einzelnen in der Nachfolgegemeinschaft Christi als Mitglied des Volkes Gottes sind.[4] Der Synodentext attestiert:
„Die Krise des kirchlichen Lebens beruht letztlich nicht auf Anpassungsschwierigkeiten gegenüber unserem modernen Leben und Lebensgefühl, sondern auf Anpassungsschwierigkeiten gegenüber dem, in dem unsere Hoffnung wurzelt und aus dessen Sein sie ihre Höhe und Tiefe, ihren Weg und ihre Zukunft empfängt: Jesus Christus mit seiner Botschaft vom Reich Gottes“.[5]
Man erkennt das Momo-Dilemma in diesen Worten leicht wieder. Auch für die Würzburger Versammlung soll die Kirche eher eine „Gemeinschaft des Amphitheaters“ werden und muss aufpassen, sich von den „Grauen Herren“ nicht vereinnahmen zu lassen.
Wie der Roman „Momo“ sind auch die theologischen Überlegungen von damals ordentlich mit Staub bedeckt. Die Zeiten haben sich gewandelt. Wer den „Synodalen Weg“ der deutschen Katholiken in den letzten Jahren verfolgt hat, konnte den Eindruck gewinnen, dass, mit den Worten der Würzburger Synode, die Krise des Kirchlichen Lebens mehr oder weniger ausschließlich auf Anpassungsschwierigkeiten gegenüber unserem modernen Leben und Lebensgefühl zurückzuführen ist. Die geistliche Freiheit der individuellen Nachfolge ist entgegen aller Beteuerungen in den Hintergrund gerückt. Die Institution ist machtvoll zurückgekehrt.
Dies geschieht in einer zweifachen Form. Zum einen vergrößert sich der Bereich der katholischen Kirche, die wieder Konformität setzt und sich wieder in die „societas perfecta“ einer katholische Gegenwelt flüchtet. Die neue Beachtung kirchlicher Moral und kirchlicher Gebote geht hier einher mit einer verstärkten Ausprägung gemeinschaftlicher kirchlicher Frömmigkeitsformen (Rosenkranz, Anbetung, Lobpreis).
Die zweite Form ist derzeit stilprägender. Das große Stichwort der vergangenen Jahrzehnte ist dabei „Professionalisierung“. Die Bistümer haben in unterschiedlicher Geschwindigkeit für sich und ihre Mitarbeiter entschieden, dass sich die Kirche in all ihren Bereichen nach der Logik wirtschaftlicher Konzerne umgestalten muss. Dies ist zum Teil der Notwendigkeit von Steuerung angesichts abnehmender Mittel und Zahlen geschuldet. Das Muster ist aber bislang nicht sehr erfolgsversprechend. Die „Grauen Herren“ der Beraterfirmen verdienen dabei gutes Geld. Die Zahl der formalen Verfahren und Verordnungen nimmt beständig zu. Im guten Willen, alles transparenter, demokratischer, und präventionssicher zu gestalten, bürdet sich der kleiner werdende Kirchenbetrieb Verfahrenslasten auf, die immer schwerer zu bewerkstelligen sind. In den Pfarrerschulungen etwa wird über das nötige Maß an Verwaltungswissen hinaus vor allem an Managementqualitäten gearbeitet. Ein Pfarrer soll heute vor allem gut organisieren können und seinen Aufsichtsbehörden keinen Ärger machen. Es gibt eine Menge solcher Signale: In vielen Bistümern werden Stellen auch für Priester mittlerweile in formalen Besetzungsverfahren ausgeschrieben und nicht mehr nach bischöflichem Weisungsrecht und apostolischer Notwendigkeit im Gespräch mit den Beteiligten zugewiesen. Bestimmte Seelsorgsbereiche können ohne Sonderausbildung gar nicht mehr ausgeführt werden. Es gehörte zu meinen prägenden Erfahrungen, dass mir Krankenhausseelsorger mitteilten, dass ein einfacher Besuch bei Kranken eine problematische Sache sei. Seelsorge am Krankenbett kann aus dieser „professionalisierten“ Sicht nur stattfinden mit vorherigem Erlernen bestimmter Methoden der Gesprächsführung. Mit dieser Art von Formalisierung und dem Glauben an die Veränderbarkeit des Menschen durch Fort- und Weiterbildung wird natürlich auch das Geistliche Amt immer mehr zu einem Handwerk, einem Beruf, den man lernen kann, statt eine „Berufung“ zu sein, der man folgen muss.
Die neue „Professionalisierungen“ sind gut gemeint. Sie speisen sich vor allem aus der Angst vor „Missbrauch“ in unterschiedlichster Form: Machtmissbrauch, geistlicher Missbrauch, sexueller Missbrauch, Missbrauch finanzieller und administrativer Kompetenzen. Während die Gläubigen vor Ort ihre Gemeinde gerne weiterhin als Momos Amphitheater sehen möchten, einem Ort, an dem die Welt noch „ganz anders tickt“, sind dort bereits längst die Umbauten zur modernen Multifunktionshalle im Gang.
Theologisch haben die Grauen Herren der Soziologie das pastoraltheologische Feld weitgehend übernommen. Die „zeitgemäße“ Reform der Kirche besteht hier vor allem in strukturellen Umbauten. Was die Würzburger Synode noch anmahnte, nämlich eine Reform aus der persönlichen Nachfolge heraus zu gestalten, ist heute offensichtlich kalter Kaffee. Die wenigen Bischöfe und Theologen, die noch von der „Alten Ordnung“ sind, also ihre Grundüberlegungen aus der Theologie des II. Vatikanums ableiten, sind heute zu wunderlichen älteren Männlein geworden, denen man aus Milde zwar noch zuhört, ohne sie allerdings ernst zu nehmen. In der Welt der Sneakerträger haben sie eigentlich keinen Platz mehr.[6]
Der Gipfelpunkt dieser Bewegung ist die Erfindung der „Institutionellen Katholizität“, wie sie das überarbeitete Arbeitsrecht der Kirche formuliert.[7] Das meint: Die individuelle Glaubens- und Moralüberzeugungen der Mitarbeiter spielen (mit wenigen Ausnahmen) keine wichtige Rolle mehr. Es reicht, dass die Kircher als Organisation noch katholisch ist. Dies ist geradezu eine Umkehrung der Konzilstheologie. Dort hatte man das „supplet ecclesia“ (die Kirche als Ganze ergänzt, was dem Einzelnen fehlt) gerade in Frage gestellt. Was sollte „die Kirche“ jenseits der Menschen, aus denen sie besteht schon sein? So die damals vorherrschende Sicht. Aus der Kirche als Gemeinschaft individueller Jesusnachfolger wird aktuell wieder eine Institution, in deren neue „professionelle“ Struktur sich ihre Mitglieder einfügen sollen. Die persönliche Nachfolge ist ein „Privatvergnügen“, das im Grunde keine Auswirkungen auf die Kirche als Ganze hat. Es sind nicht mehr unbedingt „Schwarze Herren“, die anderen sagen, wie sie sich im kirchlichen Rahmen verhalten sollen, sondern eher sehr bunte und wohlmeinende Damen und Herren, die auf eine neue institutionelle Konformität drängen, inklusive persönlicher Verhaltensregeln, die in sich stets erneuernden Leit- und Richtlinien dargelegt werden. Die machtvolle Institution Kirche kommt zurück, allerdings ist die Macht nun anders verteilt.
Momos Welt versinkt. Es ist vielleicht ein Zeichen meines eigenen Älterwerdens oder einer gewissen Naivität, dass ich zumindest in Teilen die Welt des „Amphitheaters“ für die Kirche gerne erhalten würde. Mir ist der Aspekt der persönlichen Nachfolge nach wie vor wichtig. Ich sehe darin das Fundament für die entstehende kirchliche Gemeinschaft, deren institutionelle Strukturen erst in zweiter Linie wichtig werden. Die Frage ist ja, was geschieht, wenn wir diese Dimension des persönlichen Glaubens, oder, mit Ratzinger gesprochen, der „mystischen Verbindung zu Gott“ ekklesial als nicht mehr so bedeutsam erachten. Meine Befürchtung ist, dass uns die Reichhaltigkeit katholischer Stile verloren geht. Mein Schreckensbild für die Zukunft ist, es zumindest im amtlich-verfassten Bereich der Kirche immer mehr mit „Funktionsträger*innen“ zu tun bekommen, die alle nach gleicher Machart ausgebildet dasselbe sagen, verkünden und nach gleicher Methode anwenden. Dann hätten die „Grauen Herren“ der institutionellen Konformität gewonnen. Der Service mag noch gut sein, das Leben allerdings wird grau.
[1] S. hierzu z.B. Hans Urs von Balthasar, Kirchenerfahrung dieser Zeit (1961) in: Sponsa Verbi, Einsiedeln 1971 (1961),11-44.
[2] Joseph Ratzinger, Was heißt Erneuerung der Kirche? (1965), in: Das neue Volk Gottes, Düsseldorf 1972, 95f.
[3] Würzburger Synode, „Unsere Hoffnung“, Nr. I,6.
[4] Unsere Hoffnung, I,8.
[5] Unsere Hoffnung II,3.
[6] S. z.B. den Bericht vom Synodalen Weg von Bischof Oster: Realpräsenz, Sakramentalität und der Synodale Weg in Deutschland, in Communio 2022, 431-450.
[7] Apostolat und Vorschrift – Die Katholische Kirche reformiert ihr Arbeitsrecht – Sensus fidei
„Momos“- Zeiten waren Zeiten der Meinungsfreiheit. Was wurde zu jener Zeit mit der Kirche diskutiert und gestritten, Debatten- und Streitkultur, Letzteres das Salz in der Suppe einer Demokratie, waren so, wie es sein sollte. Heute erleben wir das Gegenteil. Die heutige Kirche als Kofferträger eines autoritär-totalitär-woke agierenden linken Staates ganz oben an. Von meinen Eltern weiß ich, Alice Schwarzer oder der in der SPD als Kommunist geltende Herbert Wehner, diskutierten damals frei und offen mit der katholischen Kirche. Geboren bin ich im Herz-Jesu-Krankenhaus und wurde im Alter von 3 Tagen getauft, in der neben dem Krankenhaus liegenden Herz-Jesu-Kirche in Trier. Meine ganze, große Familie (Großeltern, Tanten, Onkel usw.) waren linkspolitisch orientiert, stramme SPD-Wähler, wie ich später auch, und nicht gläubig (behauptete man zumindest). Ich kann über das Bistum Trier sprechen, ein riesiges katholisches Bistum, damals. Die Institution Kirche war erzkonservativ, die Katholiken damals in der Masse nicht. Das waren mitnichten schweigende Lämmer. Man hat und konnte Klartext sprechen. Mit meiner linken politischen Auffassung war mir das damals zu viel und ich bin aus der katholischen Kirche ausgetreten. Aber was ich heute erlebe, ist der Seitenwechsel der katholischen Kirche von der extrem rechten, erzkonservativen Seite auf die links-grün-woke extremistische Seite. So schlimm hätte ich mir die Entwicklung in der katholischen Kirche nicht vorgestellt. Kein Kirchenoberhaupt hätte damals sein Kreuz in Jerusalem abgelegt und damit den Verrat an Jesus und die Abkehr vom Christentum symbolisch vollzogen. Wie viele Christen sind gestorben und sterben noch immer, weil sie ihr Kreuz nicht ablegen? Die Erzkonservativen haben eine linke politische Meinung zugelassen; es spielte keine Rolle. Das war nicht wichtig, in der erzkonservativen Kirche von einst, denn sie waren toleranter, als es nach außen hin schien. Harte Schale, weicher, christlicher Kern. Keinem Christen wurde der Zugang zu Kirchenämtern oder zum Katholikentag verweigert, niemand wurde öffentlich gebrandmarkt, die Existenz vernichtet und damit oft einhergehend seelisch zerstört. Die Folge dieser Entwicklung in den „Linksextremismus“ ist die Spaltung der katholischen Kirche, messbar in der Zahl der Kirchenaustritte. Ein Martin Luther ist da gar nicht erforderlich. In Zeiten der erzkonservativen Kirche war eine Kirchenspaltung kein Thema, ganz im Gegenteil. Die kleine Gruppe jener Katholiken, die heute noch im Zuge der Kirchenspaltung auf Ihren Kirchenbänken Platz nimmt (Platz nehmen darf?), ist nicht im politischen Geiste vereint, noch keine geschlossene Gesellschaft. Es gibt noch viele Katholiken, die überlegen und hin und her gerissen sind, sich nicht aus ihrer Kirche vertreiben zu lassen und als Stachel im Fleisch auf der Kirchenbank sitzen zu bleiben. Haben Sie, werter Pastor Bergner den 22. August nicht wahrgenommen oder gilt man schon im linken Geiste als Rechtspopulist, wenn man es erwähnt? „Internationaler Gedenktag: Gewalt gegen Christen in Europa“. Die Gewalt gegen Christen ist nicht mehr nur ein Problem in Afrika und Asien, sie nimmt in Europa erschreckend schnell zu. Geht ihr Theologen in der Nähe der St. Anna-Kirche in Schwerin doch einmal schön orientalisch essen, in die Gastronomie aramäischer Christen (haben auch muslimisches Personal; so sind wir Christen) und lasst euch erzählen, wie die Christenverfolgung im Grenzgebiet Türkei/Syrien ausschaut. Der Geschäftsführer hat im Alter von 6 Jahren erlebt, wie ein Massaker im Dorf an der Grenze Syrien/Türkei verübt wurde, nur weil sie Christen waren. Heute erlebt er im „toleranten“ Deutschland Beschimpfungen und Diffamierungen schlimmster Art durch katholische Oberhäupter, weil er in der „falschen Partei“ ist, dürfte kein Kirchenamt ausüben und es wird ihm der Zugang zum Katholikentag verwehrt. Es gibt kein Schweigen katholischer Lämmer, aber es gibt ein Schweigen katholischer Theologen. Schöne, sehr sorgfältig abgewogene, ganz vorsichtige Worte können darüber nicht hinwegtäuschen. Das schockt mich am meisten. Wer immer auch hier als Pastor mitliest, geht in Klausur und denkt nach. Mich erinnert die deutsche katholische Kirchenspaltung vor unser aller Augen an „Des Kaisers neue Kleider“. Das kleine Mädchen ist Momo, welches hingeht und mit dem Finger auf die katholischen Würdenträger zeigt und schon längst gerufen hat: „Aber die sind ja alle nackt. Die tragen keine prunkvollen kirchlichen Gewänder zum Gottesdienst, keine Kardinals- und Bischofsgewänder. Die sind alle nackt. Und ein Kreuz tragen sie auch nicht.“
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