Das „Letzte Abendmahl“ – Deutungen und Perspektiven [zur Karwoche]

Die Karwoche nimmt die feiernde Gemeinde mit auf den Weg der letzten Tage Christi bis zu seiner Auferstehung. In den Gottesdiensten werden die einzelnen Geschehnisse bedacht, besungen, sowie rituell dargestellt und gedeutet: der Einzug in Jerusalem, das Letzte Abendmahl, die Nacht im Garten Gethsemani, die Verurteilung und Kreuzigung, die Grablegung und die Auferstehung. Zu Beginn der Karwoche möchte ich einen der Festinhalte in besonderer Weise herausstellen, das Letzte Abendmahl. Es ist für Katholiken vielleicht das vertrauteste Element der Karwoche, da es bei jeder Eucharistiefeier präsent wird, wenn die Gaben von Brot und Wein nach dem Auftrag des Evangeliums dargebracht, gewandelt und ausgeteilt werden. Zugleich ist es bemerkenswert, dass gerade dieses Herzstück der katholischen christlichen Frömmigkeit, die Einsetzung des Altarsakraments, im Gesamt der Karwoche etwas zurücktritt. Dies hat mehrere Gründe. Zum einen ist es sicherlich so, dass die mindestens sonntägliche Feier der Heiligen Messe das Besondere des Gründonnerstags etwas verdeckt. Zum anderen hat die eucharistische Frömmigkeit, also die Verehrung des Altarsakraments, im Fronleichnamsfest, das in Erinnerung an den Gründonnerstag ebenfalls an einem Donnerstag gefeiert wird, einen gefühlt viel prächtigeren Rahmen bekommen. Zum dritten hat die Gründonnerstagsliturgie mit der Fußwaschung der Eucharistiefeier ein weiteres außergewöhnliches Ritual zur Seite gestellt. Neben die Einsetzung des Altarsakraments werden in den Texten eben die Fußwaschung und auch die jüdische Pessach-Tradition bedacht, so dass das eigentliche Zeichen von Brot und Wein nicht mehr allein im Mittelpunkt steht. Zudem ist vorgesehen, dass auch die Chrisammesse in den Bischofskirchen am Gründonnerstag gefeiert werden soll. Sie legt zwei weitere Aspekte in diesen Tag hinein: Die Weihe der Öle und die Erneuerung der priesterlichen Gelübde.

Auch die musikalische Ausdeutung des Abendmahlsgeschehens am Gründonnerstag ist spärlich. Das Messbuch sieht als Eröffnungsvers für den Gründonnerstag den folgenden Text vor: „Wir rühmen uns des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus. In ihm ist uns Heil geworden und Auferstehung und Leben. Durch ihn sind wir erlöst und befreit.“ Die vorgesehenen Gesänge zu Fußwaschung und Gabenbereitung („Ubi caritas et amor“) reflektieren ebenfalls eher die Hingabe Jesu am Kreuz, die sich im Symbol der Fußwaschung ausdrückt. Eucharistisch wird es erst danach. Das Gotteslob weist im Stammteil nur zwei explizite Gründonnerstags-Lieder aus. Das eine, „Beim letzten Abendmahle“, ist zunächst eine Kurzerzählung des Einsetzungsberichtes, das andere, „Also sprach beim Abendmahle“, verbindet die Abendmahlshandlung mit den Inhalten der johanneischen Abschiedsreden. Die Ausdeutung der Feier Jesu mit seinen Jüngern und die Einsetzung des Altarsakraments haben also in der Liturgie des Gründonnerstags erstaunlich wenig Platz.

Ich möchte daher einen Blick auf den biblischen Abendmahlsbericht und einige seiner Deutungen werfen. Dabei geht es nicht um eine Exegese (wissenschaftliche Bibelauslegung) des Textes[1] und auch nicht um eine dogmatische Eucharistielehre[2]. Vielmehr hat das Verstehen des „Letzten Abendmahls“ inner- und außerhalb des Christentums verschiedenste Ansätze hervorgebracht. Von ihnen möchte ich als Anregung ein kleines Panorama (in Wort und Musik) präsentieren, auch , um das eigene Nachdenken über den Gründonnerstag anzuregen.

Die jüdische Perspektive

In der katholische Tradition ist das „Letzte Abendmahl“ eng mit dem Begriff „Sakrament“ verbunden. Das Geschehen am Gründonnerstag wird als Einsetzungsfeier der Eucharistie verstanden und begründet damit den zentralen Ritus der christlichen (vor allem der katholischen und orthodoxen) Tradition. Die Darbringung von Brot und Wein durch den Priester und die Gemeinde und deren Wandlung in „Leib und Blut“ beschäftigen die Theologen zu allen Zeiten. Der Gründonnerstag wird so häufig zu einem Ausgangspunkt für die Eucharistielehre, in der die Art der Verwandlung (Transsubstantiation), die Anbetung Gottes unter dem Zeichen der Hostie, die Teilhabe am göttlichen Leben (Kommunion) und die aus ihr entstehende Gemeinschaft der Kirche als sakramentale Gemeinschaft (Communio) im Mittelpunkt des Nachdenkens stehen.

Liest man die Abendmahlsberichte der Evangelien vor dem Hintergrund der jüdischen Tradition, in der Jesus und die Jünger selbst ja beheimatet sind, treten noch andere Aspekte hinzu. Für mich war ein Buch des Alttestamentlers und Religionswissenschaftlers Bernhard Lang in dieser Hinsicht ein Augenöffner.[3] Lang setzt das Abendmahlsgeschehen in den Zusammenhang mit dem jüdischen Opferkult. Er verweist auf die Praxis des jüdischen „Privatopfers“, also des Opfers, das eine bestimmte Person zur Danksagung oder als Bittopfer im Jerusalemer Tempel darbrachte. Dieses lief (kurz gefasst) in etwa so ab: Derjenige, der das Opfer in Auftrag gibt, bringt ein Opfertier, aber daneben auch andere Gaben zum Tempel. Zum Schlachtopfer gehört nach alttestamentlicher Vorschrift auch die Darbringung von Brot und Wein (s. Num 15). Bei der Schlachtung des Opfertiers werden Leib und Blut des Tieres voneinander getrennt (Schächten). Der Priester schüttet das Blut an den Altar mit den Worten „Das ist das Blut des N.“, wobei hier der Name des Spenders eingesetzt wird. Der Spender identifiziert sich also symbolisch mit der Opfergabe, die stellvertretend für ihn selbst und seine Selbsthingabe an Gott steht. Die anderen Opfergaben werden gestisch am Altar erhoben, wobei auch hier die Formel „Das ist der Leib des N.“ verwendet wird. In gleicher Weise geschieht die Erhebung der Gaben mit dem Wein, der danach am Altar vergossen wird. Vom Opfertier werden einige Teile des Fleisches auf dem Altar verbrannt, die restlichen Teile, abzüglich eines Anteils für den Priester, an den Spender zurückgegeben, der mit ihnen ein Mahl zubereiten lässt, das in Gemeinschaft mit der Familie oder Freunden verzehrt wird.

Die Parallelen zum Abendmahlsgeschehen sind leicht zu sehen. Jesus vollzieht im privaten Kreis die Opferhandlung des Tempels nach. Er selbst setzt sich an die Stelle des Priesters, der die Gaben erhebt und das Deutewort spricht. In der Folge, wird derjenige, der diesen Ritus zum Gedenken an Jesus vollzieht, ebenfalls in die Rolle des Priesters gesetzt. Bernhard Lang vermutet, dass die Einsetzung eines solchen Ritus, der auf den Tempel als Ort und die Vermittlung des jüdischen Priesters verzichtet, mit Anstoß für die innerjüdische Verurteilung Jesu gegeben hat. Die Evangelien legen noch eine andere Deutung nahe. Da im Vergleich zur Tempelliturgie beim Abendmahl das Opfertier fehlt, ist die Identifikation Jesu mit dem Opfertier (dem „Lamm Gottes“) fast logisch. Hier wird also bei der Kreuzigung das Opfer nicht bloß symbolisch vollzogen. Die Selbsthingabe als Opfer verzichtet auf den „symbolischen Umweg“, nach dem das Tier stellvertretend für den Opfernden steht. Das Johannesevangelium stellt die Parallele zum Tempelopfer besonders deutlich heraus. Bei Johannes erfolgt die Kreuzigung am Rüsttag, also am Vorbereitungstag des Pessach-Festes. Zu dem Zeitpunkt, als im Tempel die Lämmer geschlachtet werden, stirbt Jesus am Kreuz. Wie bei den Opfertieren wird ihm „kein Glied zerbrochen“ (die Tiere mussten unversehrt sein). Stattdessen sticht ihm ein Soldat in die Seite und vollzieht so symbolisch die Schächtung des Tieres, so dass Leib und Blut voneinander getrennt werden (Joh 19, 33f.).

Zum Verständnis des „Letzten Abendmahles“ gehören also die heute so gemiedenen Begriffe von „Opfer“ und „Priester“ unmittelbar hinzu. Sie schaffen die zentrale Verbindung zum Judentum und verhindern es, Jesus aus seinem zeitlichen Kontext herauszulösen. Zugleich erfolgt aber für die Christen daraus eine deutliche Abkehr vom jüdischen Tempelkult. Der „neue“ Ritus des Opfers wandert vom Tempel in die Häuser, an die Stelle der Erbfolge der Priester aus dem Stamm Levi tritt Jesus als der Priester und in seiner Nachfolge diejenigen, denen die Feier des Opfers anvertraut wird. Zudem gibt es für Christen keine Tieropfer mehr, da diese durch das eine Opfer Christi abgelöst worden sind. Der Tempel hat ausgedient.

In diesem Zusammenhang beziehen die Evangelisten eine weitere jüdische Traditionslinie auf das „Letzte Abendmahl“. Dieses hat im Kontext des Pessach-Mahles stattgefunden. Pessach (oder auch „Pascha“) erinnert an die Nacht des Auszugs aus Ägypten. In den Häusern der Familien wurden die Opfertiere geschlachtet. Ihr Blut wurde an die Türpfosten gestrichen, um den „Todesengel“ abzuweisen. Von dieser Symbolik her haben sich viele theologische Übertragungen nahegelegt. Das Abendmahl findet in der „Nacht der Befreiung“ statt und verweist damit auf das neue Leben und die Befreiung von Sünde und Schuld. Das „Blut Christi“, das am Holz des Kreuz vergossen wird, hat sünden- und todesabwehrende Kraft. Aus der Gemeinschaft des Mahles konstituiert sich in dieser Nacht die Gemeinschaft des Volkes Gottes neu.

Parsifal

Diese lebens- und gemeinschaftsstiftende Funktion des Letzten Abendmahls hat sich in der Parsifal-Legende erhalten. In ihr geht es um die Ritter der Tafelrunde des sagenumwobenen Königs Artus, die als eine Art Geheimbund Hüter des Heiligen Grals ist. Dieser Heilige Gral ist nichts anderes als der Kelch des Abendmahls, der zudem in einer legendenhaften Erweiterung des Passionsgeschehens das Blut Christi am Kreuz aufgefangen haben soll. Das Heiligtum des „Grals“ stellt die historische Verbindung zum Letzten Abendmahl dar. Aus dieser „Urquelle des neuen Lebens“ bezieht die Rittergemeinschaft ihre Stärke.

Richard Wagner nahm die Legende zum Ausgangspunkt für seine Oper „Parsifal“. Mit einigen Umdeutungen schuf er einen Kunstmythos, den Wagner durchaus unbescheiden als Gründungsgeschichte einer religiösen Erneuerung verstanden wissen wollte. Bei Richard Wagner ist die Gralsgemeinschaft in die Krise geraten. Der Gralskönig Amfortas hat gegen seine ritterlichen Tugenden (der Keuschheit) verstoßen und sich vor langer Zeit mit einer Frau, der Zauberin Kundry sexuell eingelassen. Dabei wurde er vom Feind der Ritter, einem Abtrünnigen aus ihrer Gemeinschaft, verwundet. Der Gralsritus, die Enthüllung des Heiligtums und die Feier des Abendmahls, können nun nur unter großen Schmerzen des Amfortas als „Hoherpriester“ der Gralsgemeinschaft gefeiert werden. Damit die Gemeinschaft wieder aufleben kann, braucht es einen neuen König, einen der noch im „Urzustand“ des Menschen verweilt, den „reinen Tor“, wie Wagner ihn nennt. Dieser neue König wird der gewaltlos erzogene Jüngling Parsifal werden.

Die Story von „Parsifal“ wird heute gerne verspottet, wahrscheinlich, weil uns der heilige Ernst und pathetische Schwulst der religiösen Darstellungen fremd geworden ist. Wagner meinte es aber sehr ernst, wie er in seiner Schrift „Religion und Kunst“ erklärt.[4] Für ihn ist der Mensch im Zustand seiner Entartung gefangen. Von seiner Natur her hätte er aller Gewalt entsagen müssen, vor allem dem Blutvergießen. Wagner führt hier ein glühendes Wort für die Gewaltlosigkeit und auch die fleischlose Ernährung. Jesus habe, so Wagner, der Gewalt ein Ende setzen wollen. Der Ersatz des Fleisches und Blutes durch Brot und Wein sei dabei das entscheidende Zeichen zur Rückführung des Menschen in seinen eigenen tugendhaften Urzustand gewesen. Wagner wörtlich:

„Dieses das einzige Heilamt [Ritus, Sakrament] des christlichen Glaubens: mit seiner Pflege ist alle Lehre des Erlösers ausgeübt. Wie mit angstvoller Gewissensqual verfolgt diese Lehre die christliche Kirche, ohne, dass diese sie je in ihrer Reinheit zur Befolgung bringen könnte, trotzdem sie, sehr ernstlich erwogen, den allgemein fasslichen Kern des Christentums bilden sollte. Sie wurde zu einer symbolischen Aktion, vom Priester ausgeübt, umgewandelt, während ihr eigentlicher Sinn sich nur in den zeitweiligen verordneten Fasten ausspricht, ihre strenge Befolgung aber nur gewissen religiösen Orden […], als dem eines leiblichen wie geistigen Heilmittels, auferlegt bleibt.“            

Bei Wagner wird also der Gründonnerstag zum Bezugspunkt einer erneuerten Religion. In Parsifal führt er diesen Gedanken musikalisch und textlich aus. Die Ritterschaft ist bereits auf dem Pfad der Entartung und lebt nicht mehr nach ihrer eigentlichen Bestimmung. Der Ritus kann daher nur unter Schmerzen vollzogen werden. Er ist nicht mehr „rein“ und bedarf daher der Ablösung der Verwaltung durch die Kirche durch einen neuen Typus Mensch. Der Kult des Grals (des Letzten Abendmahls) ist nur dem Reinen (Sündlosen) vorbehalten. Im 1. Akt des Parsifal heißt es: „Ihr wisst, dass nur dem Reinen / vergönnt ist sich zu einen / den Brüdern, die zu höchsten Rettungswerken /des Grales Wunderkräfte stärken.“

Parsifal wird in der zweiten Szene des 1. Aktes dann der Weg zur Gralsburg gewiesen. Er nimmt als Beobachter am Ritus der Enthüllung des Grals teil. Am Beginn der auch musikalisch sehr beeindruckenden sakralen Szene singt der Chor der „Jünglinge“: „Den sündigen Welten / mit tausend Schmerzen / wie einst sein Blut geflossen, / dem Erlösungs-Helden / sei nun mit freudigem Herzen / mein Blut vergossen. / Der Leib, den er zur Sühn uns bot, / er leb in uns durch seinen Tod.“

Das Abendmahlsgeschehen des Gründonnerstags wird hier zur Geste der eigenen existentiellen Nachahmung Jesu: Eine Entsagung der „sündigen Welt“ und eine gewaltlose Erneuerung derselben durch „Inkorporation“ in Christus.

Was hier bei Wagner schon fast katholisch-dogmatisch ausgesprochen wird, die Teilhabe an Christi Leib und Blut, die zugleich Teilhabe an der Lebensgemeinschaft des Leibes Christi (der Kirche) wird, ist auf den zweiten Blick höchst bedenklich. Denn bei Wagner paart sich die Christusmystik sofort mit einer Ablehnung des Judentums. Wagner sieht den Grund der Entartung des Christentums in seiner Verbindung mit dem Judentum, in dem nach Wagners Auslegung Christus mit dem jüdischen (gewaltsamen) Gott verbunden wird. Seine „neue Religion“ enthält also auch eine Ablehnung des jüdischen Glaubens. Der Gründonnerstag wird antijüdisch und damit (wie gesehen) völlig unbiblisch ausgelegt. Wagners bekannter Antisemitismus spielt in „Parsifal“ also ebenfalls durchaus eine, wenn auch auf den ersten Blick weniger sichtbare Rolle.

Jesus Christ Superstar

Weit entfernt von den bedeutungsschwangeren Überlegungen eines Richard Wagner vermittelte sich der Beat-Generation fast 100 Jahre nach „Parsifal“ ein Neuansatz im Verständnis Jesu durch das Musical (oder die „Rockoper“) „Jesus Christ Superstar“, zu der Tim Rice den Text verfasst hat. Während bei Wagner alles Mythos wird, verfolgt das 1971 uraufgeführte Stück genau den gegenteiligen Zweck. Es verhandelt anhand der Passion Jesu die Grundfrage: Wer war Jesus wirklich und was wurde aus ihm gemacht?

„Parsifal“ und „Jesus Christ Superstar“ haben einen kirchenkritischen Ansatz. Wagner richtet sich gegen eine „Fehldeutung“ des biblischen „Mythos“. „Jesus Christ Superstar“ hat den Anspruch, Jesus zu entmythologisieren und ihn damit abseits der kirchlichen Dogmatik menschlich zugänglich zu machen. Bei Tim Rice ist Jesus ein Gefangener der Erwartungen und Bewunderung des Volkes, das in ihm den Messias erkennt. Judas als Jesu Gegenspieler erkennt die Gefahr des um Jesus entstehenden Kultes. Er versucht, das Ruder noch einmal herumzureißen, um Jesus nicht in die „Messias“-Falle gehen zu lassen und ihm und den Jüngern das Leben zu retten. Dieser Grundkonflikt wird (dies nur nebenbei) auch im wenige Jahre vor der Rockoper erschienen Bestseller „Dune“ von Frank Herbert verhandelt, lag also im Geist der damaligen Zeit. Es ist die Suche nach dem menschlichen, „authentischen“ Jesus jenseits aller christlichen Zuschreibungen, der dann als Vorbild für Menschenliebe oder Gewaltfreiheit dienen kann. Theologisch war diese Art der Jesus-Rezeption, die sich vor allem auf das öffentliche Leben Jesu konzentrierte, in den 60er und 70er Jahren sehr beliebt. Nicht der auferstandene Christus, sondern der Mensch Jesus mit seinen Idealen, seiner Lehre und seinen Handlungen erweckte die Aufmerksamkeit vor allem der jungen Generation.

Bei einem „Passionsspiel“, das vor allem die Frage nach der „Memoria“ Jesu verhandelt, also dem „Erzählstrang“, über den Jesus im Glauben lebendig bleibt, spielt der Gründonnerstag auch in „Jesus Christ Superstar“ eine Schlüsselrolle. Das „letzte Abendmahl“ ist ein solcher symbolischer Träger der „Memoria“.

Die Verfilmung des Musicals von 1973 kleidet das Geschehen in eindrucksvolle Bilder. Es zeigt zunächst einen Hirten, der vor einer Herde Schafe hergeht und überblendet dieses Bild zu Jesus, dem seine Jünger über grüne Wiesen in einen Garten mit Olivenbäumen folgen. Der Abendmahlssaal und die folgenden Nacht auf dem Ölberg fallen zu einem Geschehen zusammen. Hier also wird die Entscheidung über das Schicksal Jesu getroffen. Auf dem Rasen ist eine Decke ausgebreitet, die als Tafel für die Jünger dient. Die Apostel singen beim „Einzug in den Abendmahlssaal“:

Schau auf alle meine Prüfungen und Nöte, die in einen sanften Weinbecken [Kelch] versinken. Störe mich jetzt nicht. Ich kann die Antworten schon sehen: „Bis heute Abend ist heute Morgen. Das Leben ist in Ordnung.“ Ich habe immer gehofft, dass ich ein Apostel sein würde. Ich wusste, dass ich es schaffen würde, wenn ich es versuche. Wenn wir dann in Rente gehen [„retire“], können wir die Evangelien schreiben. Sie werden also immer noch über uns reden, wenn wir gestorben sind.

Die Jünger sind der Überzeugung, mit Jesus also in das Weltgedächtnis einzugehen. Sie sehen sich bereits als Teilnehmer an einem historischen Geschehen. Das Abendmahl, hier wieder durch den „Kelch“ (Gral) symbolisiert, dient der Aufbewahrung des Gedächtnisses an Jesus. Jesus selbst ist im Stück sich dieser Sache nicht so sicher. Er hat bereits Todesangst und spricht im Konjunktiv, als er Brot und Wein teilt. Sinngemäß sagt er: „Sollte ich wirklich glauben, dass ihr in Wein und Brot meinen Körper und mein Leib erkennen und an mich denken werdet? Ist es nicht wahrscheinlich, dass ich zehn Minuten nach meinem Tod schon vergessen bin?“ Dann kündigt Jesus an, dass einer der Jünger ihn verraten wird. Judas bekennt sich dazu und liefert sich mit Jesus einen heftigen Wortwechsel. Auf dessen Höhepunkt sagt Judas:

„Du trauriger, erbärmlicher Mann, sieh, wohin du uns gebracht hast. Unsere Ideale sterben um uns herum und das alles wegen dir. Aber der traurigste Schnitt von allen: Jemand muss dich ausliefern wie einen gewöhnlichen Verbrecher, wie ein verwundetes Tier. Du bist wie abgestumpfter Mandarin [chinesischer Hofbeamter].“

Judas wirft Jesus hier vor, durch seinen freiwilligen Tod (als Messias) seine eigenen Ideale zu verraten. Er ist wie ein Herrscher geworden, der die Bodenhaftung verloren hat. Jesus hat sich im Sinne des vorher beschrieben „Memoria“-Konflikts für die Messias-Rolle entschieden und damit seine ursprüngliche Sendung verraten. Judas wird so zu einem Rädchen in einer sich nun selbst erfüllenden Prophezeiung. Das Schlussstück des Musicals, das ebenfalls von Judas gesungen wird, wird zu einer heftigen Anklage: „Jesus Christus, was hast du da geopfert? Glaubst du wirklich, das du bist, was die anderen von dir glauben?“ Hier wird also der religiöse Grund des Christentums in Frage gestellt. Dass Jesus zu „Jesus Christ Superstar“ geworden ist, ist eine Fehldeutung. Zumindest wird dies den Zuschauern nahegelegt. Er hätte wohl nach Ansicht des Autors Tim Rice lieber ein einfacher, vorbildhafter Mensch bleiben sollen.

Orthodoxe Ansichten

Kommen wir damit zum genauen Gegenteil. In der orthodoxen Tradition spielt das Letzte Abendmahl eine ganz andere Rolle. Hier geht es gerade nicht um die „Memoria“ an einen historischen Menschen. Die gesamte Karwoche dreht sich in den liturgischen Texten umso mehr um die bleibende geistliche Wirklichkeit des vergöttlichten Christus. Das eucharistische Brot ist, wie Origenes sagt, „ein gewisser heiliger Leib, der jene heiligt, die ihn mit verständigem Sinne genießen.“[5] Der griechische Theologe Nikolaos Kabasilos (14. Jh.) bietet ein eindrucksvolles Beispiel für die ostkirchliche Denkweise und Tradition. Wenn er über die Eucharistie spricht, sieht er in ihr vor allem ein Mittel zur „Vergöttlichung“ des Menschen. Damit ist nicht gemeint, dass jeder Mensch Gott würde, sondern die Vereinigung von unserem Leib und Blut mit dem Leib und Blut Jesu schafft die Voraussetzung für die Reinigung von der Sünde. Der Mensch tritt durch das Altarsakrament in einen göttlichen (oder besser „gnadenhaften“) Lebenszusammenhang ein. Über die eucharistischen Gaben gewinnt der Heilige Geist im Menschen Raum und macht ihn im „mystischen Leib Christi“ christusverwandt.[6] Dieses Denken konfrontiert uns mit einer oft vernachlässigten Seite des geistlichen Lebens, der Mystik. Die „mystische Vereinigung“ von Gott und Mensch ist auch in der westlichen Tradition des Mittelalters und der Neuzeit durchaus immer wieder zu finden (bei Meister Eckhard, Heinrich Seuse oder Katharina von Siena). In der orthodoxen Tradition entfaltet sie aber eine viel stärkere Wirkung bis in die Liturgie hinein.

Als Beispiel möchte ich einige Kirchenhymnen und Gesänge der Karwoche aus der orthodoxen Liturgie heranziehen, wie sie z.B. von Alexander Gretschaninov Anfang des 20. Jahrhunderts meisterhaft vertont wurden. Der Komponist wählt für seinen Chorzyklus „Die Karwoche“ (op 58) aus den gottesdienstlichen Texten aus. Für den Gesang zum Gründonnerstag vertont er die Verse:

„Bei Deinem mystischen Abendmahl, o Gottes Sohn, empfange mich heute als Gast; denn ich will nicht über das Mysterium sprechen mit Deinen Feinden, ich will Dich nicht küssen wie Judas; sondern wie der Dieb bekenne ich mich zu Dir: Gedenke meiner, o Herr, wenn Du in Dein Königreich kommst.“

Nicht die Einsetzung, sondern die bleibende Bedeutung der Eucharistie steht hier im Vordergrund. Es geht um das Bekenntnis und die richtige Einstellung in der Begegnung mit dem im Sakrament gegenwärtigen Christus. Zwei Rollen des Passionsberichts werden gegeneinander gestellt: Judas, der Christus verrät und der „gute Schächer“, also der Verbrecher der neben Jesus am Kreuz stirbt und ihn vorher um sein Erbarmen bittet. Der Teilnehmer am Abendmahl ist der Sünder, der sich angesichts des Sterbens Christi dessen vergebender Macht anvertraut. Die sündentilgende Kraft der „mystischen Vereinigung“ in der „Inkorporation“ der Kommunion steht im Mittelpunkt des Geschehens. Zugleich wird der Gründonnerstag in das Gesamt des Passionsgeschehens eingeordnet. Das Abendmahl ist nicht eine Erinnerung an den irdischen Jesus, sondern ein „signum prognosticum“ (ein vorausschauendes Zeichen) der Erlösung, die durch das Passionsgeschehen bewirkt, für alle Gläubigen Wirklichkeit werden soll: Sündenvergebung und ewiges Leben.

Gründonnerstag

Die verschiedenen Perspektiven, zu denen sicher noch einige andere hinzuzuzählen wären, zeigen die Vielfalt der religiösen Annäherung an den Gründonnerstag und das Letzte Abendmahl. Die Perspektiven ergänzen sich und öffnen den Blick über die katholische Eucharistielehre hinaus. Wie gesehen, wurzelt das Abendmahlsgeschehen stärker also vielleicht vermutet in der jüdischen Tradition Jesu. Es ist wichtig, diesen Aspekt zu halten. Insofern macht die Lesung des Pessach-Berichtes aus dem Buch Exodus am Gründonnerstag Sinn. Die Eucharistie markiert nicht einen Bruch, sondern eine Weiterentwicklung und Variation jüdischer Traditionen. Die Begriffe „Opfer“, „Priester“ und „Tempel“ sollten daher in unserer Betrachtung des Abendmahls nicht ausgeblendet werden. Wer bei der Messfeier ausschließlich von „Mahlgemeinschaft“ oder „Gedenken an Jesus“ spricht, ist leicht in der Gefahr, den alttestamentlichen biblischen Kontext der Evangelien zu übersehen. In besonders krasser Weise geschieht dies bei Richard Wagners Neudeutung des Abendmahlsritus, der zum Urmythos einer Neureligion wird, die mit dem Christentum nicht mehr viel zu tun hat, auch wenn sie seine Symbole verwendet. Auch die gegenteilige Auslegung im Sinne einer rein historischen Deutung Jesu, wie sie bei Tim Rice zu sehen ist, verfehlt den biblischen Sinn. An der Rekonstruktion des historischen Jesus hat sich die Bibelauslegung der 70er Jahre bei allen Verdiensten im letzten die Zähne ausgebissen. Eine traditionsunabhängige Deutung, die nicht zugleich auch gläubige Reflexion des Geschehens ist, verliert den Jesus, den man wissenschaftlich „einfangen“ und zugänglich machen wollte, gerade wieder aus dem Blick. Die orthodoxe Liturgie nimmt in erster Linie genau die Glaubensperspektive ein. Hier wird gerade dem geglaubten, weiter lebendigen Christus lebensverändernde Wirksamkeit zugeschrieben.

Beitragsbild: Letztes Abendmahl, Kirchenfenster aus der Kathedrale von Amiens (Frankreich) 


[1] Zur biblischen Deutung der Eucharistie s. z.B.: Gottheit tief verborgen – Teil 1 – Sensus fidei

[2] S. hierzu z.B.: Sakramente – Teil 3: Was ist ein Sakrament? – Sensus fidei

[3] Bernhard Lang, Heiliges Spiel, München 1998, insbesondere 233-254.

[4] Richard Wagner, Religion und Kunst, original 1880, hier zitiert nach einem Nachdruck der Berliner Ausgabe seiner Werke von 2015 (ohne Verlagsangabe). Das folgende Zitat stammt hier von S. 47.

[5] Origenes, Gegen Celsus, VIII, 33.

[6] Nikolaos Kabasilas, Das Buch vom Leben in Christus (ca. 1360), Einsiedeln 1991, 111-159.

Hinterlasse einen Kommentar