Macht die Sünde blind?

Die Heilung eines Blinden, wie sie das Johannesevangelium erzählt (Joh 9, 1-41), ist anders als viele andere Heilungserzählungen der Evangelien. Um die Heilung herum nämlich gruppiert sich eine ganze Ansammlung von Diskussionen und Befragungen, bei denen die Pharisäer versuchen zu verstehen, was dort geschehen ist. In diesen Gesprächen findet sich ein Gedanke, der uns heute verstörend vorkommt. Die Pharisäer, aber auch die Jünger Jesu gehen davon aus, dass die körperliche Blindheit des Mannes Folge einer Sünde ist, die entweder der Blinde selbst oder seine Eltern begangen haben. Ein solcher Gedanke ist für uns unannehmbar. Eine körperliche Behinderung kann nicht Folge einer moralischen Verfehlung sein. Auch Jesus weist diesen Gedanken zurück: „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt“ (Joh 9,3).

Wie kommt man auf einen solchen Gedanken? Wir könnten den Zusammenhang von Blindheit und Sünde jetzt einfach als historischen oder naturwissenschaftlichen Irrtum beiseiteschieben. Aber ganz so einfach ist es nicht. Das Johannesevangelium spricht immer auch auf einer symbolischen Ebene. Schon zu Beginn des Evangeliums heißt es:

„Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind. Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.“ (Joh 1,9-14)

Das Sehen und Erkennen Jesu ist im Johannesevangelium das entscheidende Kriterium des Glaubens und der Rettung. Das Nicht-Erkennen Jesu ist ein Zeichen der Sünde, also der Abwendung von Gott. Insofern stehen nun auf einmal die Pharisäer, die Jesus nicht als Sohn Gottes anerkennen möchten auf der Seite der Sünde (Joh 9,41). Und ein weiteres kommt hinzu. Das Erkennen Jesu wird als ein Vorgang der Neuschöpfung, des Neu-Geboren-Werdens beschrieben (Joh 1,13, Joh 3,3). Genau diesen Vorgang illustriert auch das Evangelium von der Heilung des Blindgeborenen. Aus Erde und Speichel (Zeichen für Atem, Geist, Wort) kommt die Heilung des Blinden. Jesus ahmt in dieser „Behandlung“ den Schöpfungsakt nach (Gen 2,7), in dem der Mensch aus dem Ackerboden geformt wird und dieser Form dann von Gott der Lebensatem eingehaucht wird. Die Heilung des Blindgeborenen steht also symbolisch für die „Neugeburt“ eines Menschen, der aus dem Reich der Finsternis und des Nicht-Erkennens in die neue Herrlichkeit Gottes hinein neugeschaffen wird. Konsequenterweise wirft sich der Geheilte am Ende der Erzählung vor Jesus zu Boden, nicht um sich bei ihm zu bedanken, sondern um seinen Glauben an ihn auszudrücken (Joh 9,39). Jesus erklärt den Vorgang. Er sagt, er sei in die Welt gekommen, „damit die Blinden sehend und die Sehenden blind werden.“ (Joh 9,39). Die Pointe des Textes ist: Nicht das körperliche Sehen oder Nichtsehen ist eine Folge der Sünde, sondern das innerliche Sehen oder Nichtsehen, d.h. die Anerkennung der Offenbarung Gottes in Jesus Christus.

Es gibt also doch einen Zusammenhang zwischen Blindheit und Sünde, allerdings einen anderen, als die Pharisäer und die Jünger zunächst gedacht haben. Ich möchte diesem Gedanken noch etwas nachgehen, auch ein wenig abseits der johanneischen Zuspitzung der Frage auf den Glauben selbst. Macht die Sünde blind?

Dazu ist es gut, erst einmal zu definieren, was „die Sünde“ ist. Als etwas grobe Definition würde ich sagen: Die Sünde ist die teils bewusst herbeigeführte Störung oder auch Zerstörung der Beziehung. Dies kann die Beziehung zu Gott, zu mir selbst oder zu meinen Mitmenschen oder auch Mitgeschöpfen sein. Die Störung der Beziehung kann auf vielfältige Weise geschehen: Achtlosigkeit oder sogar Missachtung, Unehrlichkeit, Grenzüberschreitungen unterschiedlichster Art bis hin zur Gewalt, Verächtlichmachung oder Erniedrigung. Es kann dabei sein, dass ich selbst in diesem Sinne zum Urheber der Sünde werde. Es kann aber auch sein, dass ich ein Opfer der Sünde werde. Ich vermute, dass jeder Mensch die Sünde auf unterschiedliche Art zu spüren bekommen hat, entweder, dass er selbst verletzend gewesen ist oder verletzt wurde. Die Sünde ist in beiden Fällen ein wunder Punkt.

Die Frage war ja: Macht die Sünde blind? Ich glaube, die Blindheit gegenüber der Sünde gibt auf dreifache Weise.

Die erste Form der Blindheit ist die Verdrängung. Da die Erfahrung der Sünde, der begangenen oder erlittenen, schmerzhaft ist, versuche ich, den Schmerz auszublenden. Ich schaue nicht mehr auf den wunden Punkt, erkläre ihn weg oder überspiele ihn oder versuche, ihn zu betäuben. Ich mache mich blind für die Realität der Sünde, damit sie mich nicht quält.

Die zweite Form der Blindheit ist die Gewohnheit. Diesen Gedanken habe ich bei Augustinus gefunden. Er sagt: Es kann sein, dass eine Sünde so verbreitet ist, dass ich sie als etwas Normales hinnehme. Eine ganze Gesellschaft kann so blind werden gegenüber der Wirklichkeit der Sünde, weil sich niemand mehr traut, sie als solche zu benennen. Die Sünde wird toleriert. Die Geschichte der Menschheit ist voll von solcher Blindheit und jede Generation prägt ihre eigene Blindheit, aber auch ihre eigene „Aufklärung“ gegenüber bestimmten Sünden aus.

Die dritte Form der Blindheit ist die der Fixierung. Sie ist besonders tückisch. Diesmal geht es nicht um eine Blindheit der Sünde gegenüber, im Gegenteil. Hier steht die Sünde im Mittelpunkt. Sie steht so sehr im Mittelpunkt, dass ich auf sie fixiert bin. Das heißt, dass ich die anderen Bereiche des Lebens ausblende, weil ich sie nicht anders sehen kann, als als Folge der Sünde, die ich begangen habe oder die ich erleide. Ich werde blind für alles andere, weil ich nur die Sünde sehen kann. Das ist eine Form der Blindheit, von der Psychotherapeuten sicher eine Menge berichten können. Im Kern geht es etwa um einen Menschen, der bei sich selbst oder bei anderen einen schweren Fehler oder eine Störung erkannt hat, für die er nun alles Unglück, sein persönliches oder das Unglück der Welt verantwortlich macht. Es gibt für ihn so etwas wie eine psychische oder auch soziale oder politische Erbsünde, die zum Vorzeichen für alles wird, was ihm widerfährt und begegnet. Die Blindheit bezieht sich darauf, dass dieser mensch außerhalb seines Denkens keine anderen Wirksamkeiten, Freiheiten oder Ursachen entdecken möchte. Selbst wenn die Ursache seines Kummers aus der Welt geschafft werden kann, wird es Enttäuschung darüber geben, dass sich die Welt trotzdem nicht grundlegend geändert hat.

Ich will an dieser Stelle keine Beispiele geben, sondern Sie dazu einladen, ihre eigenen Beispiele einmal auf die verschiedenen Formen der Blindheit abzuklopfen. Denken sie an eigene Erfahrungen der Sünde, denken Sie aber auch an die großen moralischen Themen unserer Tage, an den Klimawandel, den Krieg, an den Missbrauch in der katholischen Kirche, an die Anti-Diskrimierungsdebatten und ähnliches. Ich vermute, dass sie überall Formen der Blindheit finden werden.

Wie sieht es mit der Heilung aus? Das Evangelium gibt eine doppelte Antwort. Die erste Heilung ist die Heilung von der Blindheit. Die Blindheit ist ein Symptom der Sünde. Dazu braucht es den Willen, sich der eigenen Blindheit bewusst zu werden. Dies geschieht durch Ehrlichkeit gegenüber Gott, gegenüber dem anderen und gegenüber mir selbst. Dabei kann mir Gott und dabei können mir andere helfen. Die Überwindung der Blindheit ist schmerzhaft, weil sie mich zwingt, dorthin zu schauen, wohin ich nicht schauen wollte. Sie beginnt damit, dass ich Gott und den Nächsten in seiner Eigenwirksamkeit anerkenne, sorgsam abwäge und unterscheide, welche Gesichtspunkte der anderen ich unter dem Licht der Wahrheit anerkennen muss.

Die zweite Heilung ist eine Heilung von der Sünde selbst. Diese ist schwieriger, weil es oft nicht einfach in meiner Macht liegt, die Sünde aus der Welt zu schaffen. Vergebung und Versöhnung brauchen Zeit und sind auf die Mitwirkung der anderen angewiesen. Dort allerdings, wo die Versöhnung geschieht, hat sie durchaus den Charakter des „Neu-Geboren-Werdens“, eines unbeschwerten Neuanfangs, der mir ermöglicht wird. Im Grunde ist es eine Frage der Liebe, denn die Liebe ist das Gegenteil der Sünde. Dort wo diese Liebe, die Gottes zu mir und meine Antwort darauf, die Liebe des Nächsten, aber auch die Liebe, die es mir ermöglicht, mich selbst anzunehmen, wieder an Kraft gewinnt, kann die Sünde überwunden oder zumindest geschwächt werden. Dies ist die optimistische Sicht des Evangeliums, wenn es von Erlösung und Befreiung des Menschen und der Menschheit spricht. Somit wird diese Erlösung auch wieder zu einer Frage des Glaubens, nicht nur im Evangelium, sondern im alltäglichen Leben.           

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