Unter den sieben Weltwundern der Antike stand die ägyptische Cheops-Pyramide an erster Stelle. Schon die alten Römer bewunderten diesen größten Pyramidenbau der Pharaonen. Die Faszination für das Bauwerk hat seitdem nicht nachgelassen, im Gegenteil. Seit hunderten von Jahren wird die Pyramide nicht nur bewundert, sondern zugleich auch erforscht. Tatsächlich gibt es immer noch Neues zu entdecken. Ein Forschungsteam aus Kairo und München verkündete Anfang des Monats eine kleine Sensation.[1] Ihm war es gelungen, eine neue, bislang unentdeckte Grabkammer im Innern der Pyramide nachzuweisen. Die Kammer, die groß genug sein soll, mehrere Grabstellen aufzunehmen ist nach Darstellung der Technischen Universität München wahrscheinlich seit 4500 Jahren verschlossen. Ihre Geheimnisse sollen nun in den kommenden Jahren mit modernster Technik gelüftet werden. Es ist wirklich erstaunlich, dass es den alten Ägyptern offensichtlich gelungen ist, einen Teil ihres Bauwerks über Hunderte von Jahren der Archäologie an der Cheops-Pyramide verborgen zu halten. Und ob dies das letzte Geheimnis der Pyramide ist, kann nicht sicher gesagt werden.
Die Geheimnisse der ägyptischen Grabmale und Tempel, ihre verborgenen Kammern und Grabstätten, ihre vergrabenen oder eingemauerten Schätze, ihre kunstvollen Bemalungen und Beschriftungen regten zu aller Zeit die Phantasie der Menschen an. Ganze Forschungsgenerationen haben sich bemüht, die Schriften zu entschlüsseln, den in Bildern ausgedrückten Glauben der Ägypter zu erschließen und ihren Totenkult zu verstehen. Die Pyramiden geben ihre Geheimnisse nur langsam preis. Sollten die verborgenen Strukturen nur dazu gut sein, dass Grabräuber die Kammern nicht finden und die Totenruhe gewahrt bleibt, oder gibt es noch andere Gründe für ihre Existenz? Im 17. und 18. Jahrhundert vermuteten die Ägyptologen, dass die Heiligen Stätten Ägyptens mehr waren, als bloße Totenstätten.[2] Sie vernuteten, dass die Bauwerke dazu dienten, die Kulte, die Weisheit und bestimmte religiöse Riten geheim zu halten. Nur Eingeweihte wussten, wie sie sich in den Geheimgängen bewegen konnten. Nur ihnen war es vergönnt, die Weisheit und Wahrheit der Ägypter in Gänze zu erfahren. Geheime Priesterschaften sorgten für die Weitergabe und Bewahrung der Geheimnisse. Die Weisheit als solche blieb verborgen. (Dieser Theorie liegt, nebenbei gesagt, die Handlung von Mozarts „Zauberflöte“ zugrunde.) Die Pyramiden und Tempel verschlossen also die Weisheit, waren Schatzkammern eines geheimen Wissens, das der Außenwelt verborgen bleiben musste. Erst, wenn sich die Grabkammer öffnet, wird die Wahrheit dem Kundigen offenbar, also lässt sich von ihm erschließen.
Damit sind wir beim Evangelium von der Auferweckung des Lazarus (Joh 11, 1-45). Auch hier wird eine Grabkammer geöffnet. Hier geschieht mehr als ein bloßes Wunder. Die Öffnung der Grabkammer gibt die Wahrheit preis. Das Evangelium erzählt davon, indem es die Leser mit auf die Suche nach der Wahrheit nimmt. Als Jesus in das Dorf Betanien kommt und mit Marta spricht, sagt er ihr: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“. Dann fragt er sie: „Glaubst du das?“ (Joh 11,25f.). Darauf bekennt Marta ihren Glauben an Jesus. Als dieser dann später am Grab steht, sagt er zu Marta: „Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen?“ (Joh 11,40). Daraufhin lässt Jesus den Stein von der Grabkammer entfernen und der Tote kommt heraus. Für die Umherstehenden ist dies zunächst einfach ein Wunder. Für Marta allerdings ist es gleichzeitig eine Bestätigung ihres Glaubens: In Jesus ist die Herrlichkeit Gottes. Er ist wirklich die Auferstehung und das Leben.
Das Christentum kennt keine verborgene Glaubensgeheimnisse. Alles ist in Jesus offenbar, also offen für alle erkenntlich. Gott wendet sich nicht an einige wenige Eingeweihte, sondern zeigt sich allen, die es sehen wollen. Das leere Grab ist für jedermann zugänglich. Es enthält nichts, was nicht bekannt gemacht wurde. Die Frage „Glaubst du das?“ ist also entscheidend. Sie wird an alle gestellt, die das Evangelium hören und lesen. Das Evangelium stellt mich an die Stelle von Marta, die in ihrer Verzweiflung nach Jesus gefragt wird. Es stellt mich an die Stelle des Lazarus, der vom Tod wieder ins Leben kommen soll.
Vor zwei Wochen habe ich in Rostock das Requiem für den verstorbenen Pfarrer Horst Gollnick gefeiert. Er selbst hatte sich gewünscht, dass als Predigt eine seiner Predigten gehalten werden soll. Es war eine Predigt über das heutige Evangelium. Es enthielt ein Glaubensbekenntnis. Horst Gollnick schrieb: „Irgendwann, an einem unbekannten Tag, sind ich mein letztes Lied. Irgendwann sehe ich die Sonne zum letzten Mal. Irgendwann sehe ich zum letzten Mal auf den See in Sternberg hinaus. Irgendwann, an einem unbekannten Tag höre ich dann die Stimme: Horst, komm heraus. Komm heraus aus deinem Sterben, komm heraus aus dem Tod, komm heraus aus deiner Angst. Irgendwann werde ich den Lazarus treffen, einen netten jungen Mann. Ich werde ihn fragen: Wie bist du zu Tode gekommen, so jung? Er wird sagen: Das ist unwichtig. Wichtig ist die Freundschaft zum Mann aus Nazareth und sein Ruf: Lazarus komm heraus. Das wird ER zu uns allen sprechen, irgendwann, an einem unbekannten Tag.“[3]
Es ist nichts mehr verborgen. Das Grab kennt kein Geheimnis mehr. Es braucht keine Eingeweihten. Alles liegt offen zutage. Hier ist die Wahrheit und die Weisheit, die Auferstehung, das Leben. Es bleibt nur die Frage: „Glaubst du das?“
Beitragsbild: Ägyptische Darstellung der „Seelenwaage“
[1] Bedeutsamer Fund in der Cheops-Pyramide von Gizeh – TUM
[2] S. Jan Assmann, Die Zauberflöte, München 2005, 92-105.
[3] Gekürzte Fassung aus: Horst Gollnick, Kleine Blume Hoffnung, o.A., 92f.