Einsamkeit – Eine musikalische Reise

Sind Sie gerne allein? „Zuweilen schon“, werden Sie vielleicht sagen, „aber nicht auf Dauer“. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist“, steht schon in den ersten Kapiteln der Bibel (Gen 2,18). Der Schöpfungsbericht macht bereits klar, dass der Mensch auf Gemeinschaft hin angelegt ist. Einsamkeit kann traurig und krank machen. Gesellschaftlich hat man die Einsamkeit als Zivilisationsproblem unserer Zeit ausgemacht. Die Zahl der Singlehaushalte nimmt stetig zu. Die Familien zerstreuen sich und die Bindung an traditionelle Gemeinschaftsformen, an Vereine, Parteien, Betriebe, Kirchen nimmt ab. Die Zeit, in der Menschen allein vor der Heimelektronik sitzen nimmt zu. Die Organisation von Gemeinschaft wird an die Veranstaltungsindustrie abgegeben. Gemeinschaft kostet zunehmend Geld. Die britische Regierung hat ein eigenes Einsamkeitsministerium eingerichtet. Die Frage ist, wie Menschen wieder neu zusammengebracht werden können. Und es geht um ein soziales Problem. Einsamkeit ist für die Vielbeschäftigten eine wohltuende Abwechslung. Einmal ins Schweigen gehen zu können, gilt ihnen als Luxus. Für die Alten, die Kranken und die Armen allerdings ist das beständige Schweigen eine Bedrohung. Es gibt die Angst vor dem Alleinsein.

In dieser Fastenzeit hat unsere Pfarrei den Schwerpunkt auf das Thema „Einsamkeit“ gelegt. Ein neuer, offener Treffpunkt ist entstanden, der gut angenommen wird. Die Angebote zu Hausbesuchen wurden verstärkt. In einer Vortragsreihe versuchen wir, das Thema „Einsamkeit“ zu verstehen, soziologisch, psychologisch, geistlich und biblisch.

Hier nun geht es um eine „Vermessung der Einsamkeit“ mit der Hilfe von Texten und Musik. Es gibt viele Aspekte der Einsamkeit, negative wie positive. Wer möchte, kann sich die Musik zu diesem Vortrag mit Klick auf die Links anhören, die wir beim Vortrag selber gemeinsam gehört haben.

Den Beginn macht ein altes Lied von Henry Purcell (1659-1695). Er vertonte einen Text der Dichterin Katherine Philips. Das Stück heißt „O Solitude“ (O Einsamkeit). In seinem Text kommen bereits zahlreiche Aspekte der Einsamkeit zusammen, die auch im Folgenden eine Rolle spielen: Ein Mensch hat sich in den Wald zurückzogen. Er preist die Einsamkeit als tröstlich, fühlt sich von der Natur beruhigend umgeben und geborgen. Hier in der Einsamkeit, so sagt er, habe er mehr über sich und das Leben gelernt als in einer philosophischen Schule. Die Einsamkeit der Natur macht offenbar weise. Aber es gibt einen traurigen Hintergrund. Der Mensch ist aus Unglück in die Einsamkeit gegangen. Er spürt einen tiefen Schmerz durch eine verschmähte Liebe. Und so wecken die Bäume, die ihn umgeben zugleich eine Todessehnsucht. Wie wäre es, in das Schweigen der Natur einzugehen?

Die Verbindung von Liebeskummer, Todessehnsucht / -angst, Einkehr und Kontemplation –  die Szene erinnert an eine biblische Schlüsselstelle. Jesus geht nach dem Passahmahl in die Einsamkeit des Gartens hinaus. Er lässt die Jünger zurück und betet zwischen den Bäumen, im Dunkel der Nacht. Im Kontext des Alten Testaments teilt er damit das Prophetenschicksal. Seine Liebe ist verschmäht worden, die Stadt hat ihn ausgestoßen und er ist in Todesangst (vgl. Ps 35, Jer 15). Zugleich ist die Einsamkeit in Getsemani auch ein Ort des Trostes. Das Gebet, die Kontemplation, das Ringen mit Gott stärkt den Verzweifelten, schafft ihm Klarheit und Festigkeit.[1]

In der deutschen Romantik wird in dieser Weise die Einsamkeit der Natur verklärt. Sie ist in einem positiven Sinn Fluchtort der Bedrängten. Hier endlich kommt der Mensch zu sich selbst. Er entwickelt Andacht und Erbauung. Nicht umsonst ist den Romantikern der Einsiedler eine beliebte Figur, geradezu ein Idealbild. In romantischen Romanen und Gedichten gilt es als erstrebenswert, nach Überwindung der Abenteuer in das mönchische, beschauliche Leben auszuwandern. Ein Beispiel ist das Gedicht „Die Einsiedelei“, das den Untertitel „Lob der Einsamkeit“ trägt. Franz Schubert hat es in unterschiedlichen Versionen vertont. Der Text ist irreführend. Hier ist mit der „Einsiedelei“ kein Gebäude, erst recht keine Kirche gemeint. Vielmehr geht es wieder um einen Wanderer, der sein „Kloster“, also seinen Ort der Beschauung und Einkehr in der Natur findet. Der „öde Trübsinn“ verschwindet beim Wandern bald. Das Herz fühlt sich erbaut und erfrischt.

Der Kirchenvater Johannes Chrysostomus schreibt über diese Form der Einsamkeit angesichts dessen, dass Jesus sich regelmäßig von seinen Jüngern zum Gebet zurückzieht: „Die Einsamkeit ist die Mutter der Ruhe und ein stiller Zufluchtsort, der uns von all unseren Sorgen befreit.“[2]

Die Romantik ist uns im Zeitalter der „Secret Escapes“ und des „Lonely Planet“ des Individualtourismus ja erhalten geblieben. Bei Instagramm fotografieren sich die Wanderer von heute gerne vor menschenleerer Landschaft und zeigen uns gerade nicht das überfüllte Treiben um sie herum, in dem Hunderte von Einsamkeitssuchenden zusammenkommen, um Bilder von Einsamkeit zu produzieren.

Fern der Romantik bleibt die Einsamkeit ein Problem. Paul McCartney kam 1966 beim Improvisieren auf die Liedzeile: „Picks up the rice in a church where a wedding has been“. Als er sich fragte, wer denn wohl Reis vor der Kirche aufsammeln könnte, in der gerade eine Hochzeit stattgefunden hatte, beschloss er, ein Lied über einsame Leute zu schreiben. „All the lonely people, where do they all come from?“ – Woher kommen all die einsamen Leute?. McCartney gab der Hauptperson seines Liedes den Namen „Eleanor Rigby“ und stellte ihr einen anderen einsamen Menschen zur Seite, den Priester „Father McKenzie“, der Eleanor am Ende des Liedes beerdigen muss. Das Lied der Beatles erzählt also eine traurige Geschichte und weist die Hörer in diesem Zuge darauf hin, achtsam für die Not der anderen zu sein.

Der bedauernswerte Einsame wird in den Folgejahren zu einem häufig bemühten Sujet der Popmusik. Was gutgemeint und aufklärerisch daherkommt, wird schnell zum heftigen Sozialkitsch, etwa im Song „Streets of London“, wo es dann heißt: „Du erzählst mir, dass du einsam bist. Komm, ich nehme dich bei der Hand und führe dich durch die Straßen Londons und zeig dir mal ein paar Leute, die wirklich einsam sind.“ Na bravo: Deine Einsamkeit ist nicht so schlimm, weil es Leute gibt, denen es noch schlechter geht. Das ist ein schwacher Trost. Die 70er Jahre waren für diese Mode gutgemeinter Betroffenheitssongs, der sich auch die deutsche Schlagerbranche begierig anschloss, sehr offen. Zum einen adressierten die Lieder einen Missstand, hier die Einsamkeit, zum anderen boten sie aber auch keine Lösungen an.

Ein musikalischer viel ertragreicheres Feld ist eine andere Form der Einsamkeit, die in Tausenden von Variationen bis heute immer noch eine Rolle spielt. Es ist die Einsamkeit des Verlassenwerdens, das Zerbrechen einer Beziehung, das Ende einer Liebesgeschichte, auch der Tod eines geliebten Menschen. Hier hat die Musik selber einen erstaunlichen therapeutischen Wert, die den (Liebes-) Kummer auffangen, teilen und trösten kann. Im Song „So lonely“ der britischen Band „The Police“ wird dieses Thema aufgenommen und zugleich ironisch gebrochen. Der Sänger Sting erzählt von seiner Einsamkeit und von seiner Suche nach Liebe, Freundschaft oder Partnerschaft. Im Video zum Song allerdings läuft er mit seinen Bandkollegen durch die volle Stadt und singt in ein Walkie-Talkie, so, als ob er mit seiner Botschaft die Person am anderen Ende der Leitung über seine wahre Situation hinwegtäuschen möchte, oder ihr gar ein schlechtes Gewissen macht. Sting hat die Ironie des Songs später geleugnet. Gerade „So lonely“ wurde zu einem Party- und Tanzhit, der den schweren Inhalt des Songs schnell überdeckte. Es ist eben doch besser, in Gemeinschaft „so lonely“ zu sein.

Unter den zahlreichen Liedern, die seitdem das Verlassensein, die Sehnsucht und den Liebeskummer thematisieren, habe ich als weiteres den aktuellen Song „Dreams of Loneliness“ von Birdy ausgesucht. Hier ist der Zusammenhang sehr klug gewählt. Die Einsamkeit ist die eines nächtlichen Vermissens des geliebten Menschen. Ob es sich hier um eine Situation der Trennung oder des Todes handelt, ist nicht ganz erkennbar. Die schöne musikalische Umsetzung hat im Video zum Song einen ästhetisch sehr anspruchsvolles Pendant gefunden. Das Gefühl des Vermissens wird in Traumsequenzen dargestellt, die sichtbar machen, wie die Gedanken auf die Schlaflose einprasseln und sie das Gefühl hat, haltlos zu sein, oder gefangen in einer peinigenden Situation. Einige Sequenzen laufen rückwärts, so als ob die vergangene Zeit zurückgebracht werden sollte. Die Situation des Abends, in dem sich beim Einschlafen die quälenden Gedanken melden, ist treffend gewählt. Blaise Pascal hat diesen Zusammenhang schon im 17. Jahrhundert festgehalten. In seinen „Pensées“ (Nr. 622) schreibt er:

„Nichts ist dem Menschen so unerträglich, als wenn er sich in vollkommener Ruhe befindet, ohne Leidenschaften, ohne Beschäftigungen, ohne Zerstreuungen, ohne Betriebsamkeit. Dann fühlt er seine Nichtigkeit, seine Verlassenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Sogleich werden vom Grunde seiner Seele die Langeweile, der Trübsinn, die Traurigkeit, der Kummer, der Verdruss und die Verzweiflung aufsteigen.“

Die Einsamkeit ist hier auf der einen Seite quälend, zugleich aber notwendig, um wirklich zu sich selbst zu kommen. Erst, wer seine Untiefen erkennt und erleidet, wird auch einen Weg finden, sich mit ihnen zu versöhnen. Bei Pascal, aber auch schon in den ignatianischen Exerzitien, wird der Ort der Ruhe und Verlassenheit zum Kampfplatz der Seele, um sich wieder der bergenden Liebe Gottes versichern zu können. Die Einsamkeit ist hier ein Mittel der Therapie. Der falsche Weg im Umgang mit der Einsamkeit ist für Ignatius und Pascal der der Zerstreuung, also des Versuches, die schlechten Gedanken zu übertönen und wegzudrücken.

Neben den Beziehungsproblemen hat die Popmusik in den letzten Jahren noch eine andere, sehr zeitgemäße Form von Einsamkeit ausgemacht. Sie schließt direkt am vorherigen Gedanken ein. Bei all der Zerstreuung und äußeren Aktivität des postmodernen Lebens in einer „Spaßkultur“ muss man doch fragen, wie es mit „unseren Seelen“ bestellt ist. Kann es nicht sein, dass bei all dem oberflächlichen Treiben doch häufig eine tief verankerte Ortlosigkeit, Beziehungslosigkeit und Einsamkeit bestimmend ist, zuweilen auch eine seelische Einsamkeit aufgrund des Fehlens eines Sinnes? Gibt es nicht die Einsamkeit der großen Stadt, der großen Community, der vielen Menschen, mit denen wir zwar die Zeit verbringen, ohne mit ihnen wirklich tief verbunden zu sein? Dieses Gefühl wollte die deutsche Band Polarkreis 18 in ihrem Hit „Allein, allein“ zum Ausdruck bringen. Die Behauptung des Songs ist, eigentlich immer nur „ein Herz weit“ vom anderen entfernt zu sein und trotzdem in der Einsamkeit zu bleiben. Das Video zum Song führt hier wieder in die Irre. Es zeigt eine norwegische Fjordlandschaft, einen Sehnsuchtsort der Romantiker und ein Bildsujet, das bei Landschaftsmalern des späten 19. Jahrhunderts ungemein beliebt war. Die romantische Einsamkeit ist aber gar nicht romantisch gedacht. Sie verdeutlicht eher einen Seelenzustand. Der Refrain des Songs wird von einem Chor untermalt, der beständig das titelgebende „Allein, Allein“ wiederholt. Die Einsamkeit ist hier ein nach außen unsichtbarer Zustand, der sich sogar unter zur Schau gestellter Gemeinsamkeit verbergen kann. Es ist also ein Chor der Einsamen. Obwohl es viele sind, die dort singen, führt offenbar kein Weg zum anderen. In ganz ähnlicher Form hat der Sänger Axel Bosse dies in seinem Lied „3 Millionen“ zum Ausdruck gebracht: So viele Menschen, aber keiner, der für mich da ist.

Das Motiv der Seelenlandschaft führt unweigerlich zu einem anderen Zustand der Einsamkeit, der ebenfalls in der Romantik in verschiedenen Variationen auftaucht. Diesen Zustand hat der italienische Pianist und Songschreiber Sergio Cammariere in seinem Chanson „Ferragosto“ eingefangen. Der einsame, offenbar verlassene Sänger durchstreift die Stadt. Die Natur spiegelt seinen inneren Zustand. Es ist die Zeit nach einem großen Regen. Die Pfützen stehen auf den Straßen. Die Sonne bricht durch und zeichnet einen Regenbogen. Die äußeren Geschehnisse werden in den Gedanken gespiegelt. Sie werden metaphorisch in den Zustand der Einsamkeit und Sehnsucht hin ausgedeutet. Etwas ist unwiederbringlich zu Ende gegangen, dem der Sänger noch nachhängt, ohne dass sich schon etwas Neues zeigt. Die Einsamkeit wird zu einem Moment des Betrauerns und zugleich der Einkehr.

Schließen wir mit etwas Heiterem. Georg Kreißler stellt in seinem kleinen Lied „Eine Einsamkeit“ ein Gedankenexperiment an. Was wäre denn, wenn nicht ein Mensch, sondern die Einsamkeit selbst einsam wäre? Als Person streift sie im Liedtext durch die Straßen und bietet sich den Menschen an. Aber niemand möchte sie haben, so dass sie sich am Ende schlafen legt. Was im Lied so traurig klingt, ist eigentlich eine hoffnungsvolle Vision. Es wäre doch schön, wenn die Einsamkeit keine Abnehmer mehr fände. Das Beste an ihr ist halt doch ihre Überwindung.


[1] S. dazu: Getsemani – Sensus fidei

[2] Chrysostomus, Matthäus-Kommentar, 50. Homilie.

Ein Kommentar zu „Einsamkeit – Eine musikalische Reise

  1. Wir sind alle
    mit uns allein

    einen Glauben
    in Besitz zu haben
    ihn tüchtig
    wenn jemand zweifelt
    ihn auch zu wollen

    der Mensch meint sich
    in der Gemeinschaft
    von anderen
    sich selbst vertraut
    zu werden
    und zu sein

    die Zeugen der Schrift
    halten nichts davon
    dass jeder Mensch
    im Schlaf und am Tag
    in sich selbst
    auf das Unnahbare trifft

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