Wir könnten es eigentlich dieses Jahr einmal ganz anders machen. Wir könnten zu Weihnachten einfach den Baum weglassen oder die Geschenke. Wir könnten an Heiligabend mal etwas ganz anderes essen. Wir könnten auf die Besuche verzichten. Besuchen kann man sich auch an anderen Tagen, wenn Autobahnen und Züge weniger voll sind. Auf den Weihnachtsmann können wir verzichten, auch auf den Weihnachtsmarkt.
Wir könnten alles anders machen. Vielleicht gäbe es dafür auch gute Gründe. Die Zeiten sind gar nicht für behagliche Feste gemacht. Nun schon bald ein Jahr wissen wir, dass ein furchtbarer Krieg in Europa tobt. Wir sehen es in den Nachrichten, wir sehen die Auswirkungen selbst bei uns. Wir erleben eine Gesellschaft, die in sich immer weiter gespalten ist. Die Risse gehen quer durch die Familien. Die große Politik kommt uns zuweilen erstaunlich nah und wird Streitthema am Mittagstisch. Die Verteuerung der Energie und der Lebensmittel macht denen, die nicht so viel haben zu schaffen. Es wäre doch möglich, angesichts aller Schwierigkeiten einmal auf das übliche Weihnachtsfest zu verzichten.
Wir könnten alles anders machen. Ich vermute einmal, die meisten tun es nicht. Ich sehe es bei mir selbst. Irgendwie bekommt mich die Weihnachtsstimmung immer in ihre Fänge. Und dann gehe ich doch Geschenke kaufen und einen Baum und ich hole wieder die Kiste mit der Weihnachtsdekoration vom Dachboden und ich freue mich auf die Weihnachtsgottesdienste. Und ich möchte, dass alles so wie immer ist. Wie kommt das?
Wir sind nun einmal so aufgewachsen, könnte man sagen. Wir sind halt so geprägt worden. Wir haben mit dem Weihnachtsfest eine alte Geschichte, die sich auf geheimnisvolle Weise immer wieder durchsetzt. Weihnachten ist dabei nur ein Randphänomen. Diese Geschichte, die uns prägt, gibt es ja in allen Bereichen. Es ist doch merkwürdig. Bestimmte Orte oder Personen aus der Vergangenheit erwecken in uns ein Gefühl nach Vertrautheit, Liebe, Sympathie, nach Vermissen, aber auch nach Respekt, nach Angst, Ablehnung, sogar Feindschaft. Diese Gefühle melden sich, sobald wir an die Person denken. Ein Empfinden von Freundschaft, aber auch Feindschaft überträgt sich sogar auf deren Nachkommen oder Angehörige. Merkwürdig, wo diese doch eigentlich mit der gemeinten Person nur zufällig biografisch verbunden sind. Die Geschichte des Krieges und der Gewalt ist häufig eine Geschichte alter Erinnerungen. Menschen sind bereit, ganze Gruppen, Sippen oder Völker zu verachten, weil ihre Vorfahren etwas Schlimmes getan haben. Sie sind bereit, andere zu hassen, weil sie Schwierigkeiten mit bestimmten Menschen aus dieser Gruppe gehabt haben. Das ist nüchtern betrachtet unsinnig. Wir könnten das ändern, aber der Ballast in unseren Herzen scheint zu groß um ihn abzuschütteln.
Wir könnten alles anders machen aber wir tun immer wieder das Gleiche. Die Altertumsforscher Aleida und Jan Aßmann haben daraus die Idee vom „Kulturellen Gedächtnis“ entwickelt. Es gibt so etwas wie eine geschichtliche Prägung, die Gemeingut wird und sich dann fortpflanzt, immer wieder in Variationen, aber im Kern gleich. Das betrifft viele Dinge, die eine Kultur ausmacht: Wie wir die Feiertage begehen, wie wir unsere Toten beerdigen, wie wir anderen gegenüber kommunizieren, was höflich ist und was nicht, wie wir Städte bauen oder Wohnungen einrichten, wie wir uns zu bestimmten Anlässen kleiden, was wir öffentlich sagen und was besser nicht, wie wir einem anderen schmeicheln oder ihm unsere Ablehnung ausdrücken. Wir könnten das alles ändern. Aber es ändert sich nur in Variationen. Wirkliche Revolutionen im kulturellen Gedächtnis sind selten.
Besonders fatal ist, dass wir nicht nur das Gute, sondern häufig auch das Schlechte kulturell fortschreiben. Das ist mir in diesem Jahr an einem Beispiel noch einmal schmerzlich bewusst geworden.
Im September bekamen wir in der Pfarrei weitgereisten Besuch. Der Bischof und eine Delegation aus dem Partnerbistum Iguazú in Argentinien kam nach Schwerin. Die Gäste, die zum Teil das erste Mal in Deutschland waren, zeigten Interesse an unserer Geschichte. Und so zeigten wir ihnen natürlich das Schloss und die schöne Altstadt, gingen aber dann auch zur Gedenkstätte am Demmlerplatz.
Dieser Ort ist ein ehemaliges Gefängnis. Es war zu großherzöglichen Zeiten gebaut worden. In der Nazizeit diente es als Haftanstalt für politische Gefangene. Wir hörten von Scheinprozessen, von Ungerechtigkeit, Folter und Elend. Nach dem Krieg übernahm die sowjetische Besatzungsmacht das Gefängnis. Wir hörten von Scheinprozessen, von Ungerechtigkeit, Folter und Elend. Anschließend war es ein Gefängnis der Staatssicherheit der DDR. Wir hörten wieder die gleichen Geschichten. Gibt es einen Ausweg? Scheinbar nicht. Unsere argentinischen Gäste berichteten von ähnlichen Orten, die aus der Militärdiktatur in den 70er Jahren in Argentinien zu finden sind. Und wir wissen, dass es solche Orte weiterhin an zu vielen Stellen der Welt gibt.
Dann kamen wir in den letzten Raum. Er dokumentierte die friedliche Revolution. Es gab in der Gruppe ein leichtes Aufatmen. Weit mehr als die Ausstellung allerdings fesselte mich eine Aufschrift auf der Wand. Die Restauratoren hatten sich durch mehrere Schichten Farbe und Putz hindurchgearbeitet, um die Inschrift wieder ans Tageslicht zu bringen. Da stand: „Fürchte dich nicht“, ein Bibelzitat (vielleicht Jes 41,10). Es ist fast der Satz aus der Weihnachtserzählung, als der Engel den Hirten die Freudenbotschaft verkündet und als dann der Chor der Engel anstimmt „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen seines Wohlgefallens.“ Die Schrift stammte aus der Zeit, in der dieser Ort eine Kapelle gewesen ist. Hier, verkleistert durch die Jahrzehnte, lag an diesem Ort der Gewalt noch etwas anderes. Man musste wohl intensiv danach suchen. Aber die Schrift war noch da.
Wir dürfen vielleicht daran erinnern. Unser kulturelles Gedächtnis birgt eine Tiefenschicht, die nur selten offengelegt wird, vielleicht aber gerade jetzt an Weihnachten. Das ursprüngliche Gedächtnis meldet sich wieder. Eine Handschrift, ein göttliches Wort ist in die Geschichte eingeschrieben, das allem zugrunde liegt. Es ist das Wort eines Schöpfers, der Mensch und Schöpfung im Tiefsten zum Guten bestimmt hat, zum Frieden, zum Vertrauen und zur Liebe. Dieses Wort wird Fleisch, greifbar, fassbar im Kind in der Krippe. Es schreibt sich in unsere menschliche Geschichte. Wie schön wäre es, wenn es doch wirkmächtiger würde, vom Schmutz, von der Farbe, vom Putz der darüberliegenden Schichten befreit werden könnte und durchschiene in die Realität meines Lebens, der Familien, der Kulturen, der ganzen Welt. „Fürchtet euch nicht. Ehre sei Gott. Friede auf Erden“.
Wir könnten alles anders machen. Wir brauchen das Gute nicht erst erfinden. Wir müssten es nur wieder zum Vorschein bringen. Es liegt in uns. An Weihnachten können wir auf alles verzichten, aber nicht auf diese Botschaft, die in unsere Zeit hinausgesprochen und gesungen wird. Wenigstens heute, wenigstens einmal wieder und immer wieder in der Hoffnung, dass sie ankommt und ihre verändernde Kraft entfaltet. Amen.
Vielen Dank für diesen Hinweis darauf, dass die Weihnachtsbotschaft alle Jahre wieder zu einem Zeichen des Aufbruchs ins Unbekannte wird. Weihnachtliche und zukunftsfrohe GrüÃe von Detmar Huchting Sensus fidei h
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