Das Evangelium des dritten Adventssonntags (Mt 11,2-11) spielt in einem Zwischenraum. Johannes, der Prophet aus der Wüste ist gefangengenommen worden. Vom Gefängnis aus lässt er sich über Jesus berichten. „Wer ist das?“, fragen sich die Leute, „was können wir von ihm erwarten?“ „Sollte Jesus der von Johannes verheißene Messias sein?“. Die Jünger des Johannes gehen zu Jesus. Auf ihre Fragen antwortet er ihnen mit einem Rätselwort. Jesus vermeidet es, sich selbst als Messias zu bekennen. Stattdessen verwendet er ein Schriftzitat aus dem Propheten Jesaja (Jes 35). „Was seht ihr? Blinde sehen, Lahme gehen, Taube hören…“ Solche Wunder hatte Jesaja angekündigt. Wenn dies geschieht, so schreibt er, dann wisst ihr, dass Gott nahe ist, dass eine neue Heilszeit beginnt.
Noch allerdings sind die Menschen voller Zweifel. Sollte sich das alles wirklich jetzt, in Jesus erfüllen? Was sehen die Menschen, wenn sie Jesus begegnen? Einen Menschen wie sie, fernab jeder königlicher Zeichen, fernab jeder politischen Ambition, einen einfachen Juden am Rande seines Volkes. Wohl auch deshalb spricht Jesus dann über Johannes. „Was habt ihr denn sehen wollen, als ihr damals zu ihm gegangen seid?“ „Was waren eure Erwartungen?“ „Wart ihr nicht vielleicht enttäuscht von diesem Wüstenmenschen, der soweit abseits euer Vorstellungen gewesen ist?“ Erwartungen und Enttäuschungen. Man kann sich fragen, wozu das Matthäusevangelium genau diese Passage in der Mitte seiner Schrift erzählt. Das Erzählte soll die Hörer und Leser der Schrift erreichen. Sie sind ebenso Adressaten dessen, was Jesus sagt. Warum?
Machen wir einen großen Sprung zu einem Text, der zunächst einmal nichts mit dem heutigen Evangelium zu tun hat. Es gibt einen großen Roman über Erwartungen und Enttäuschungen, Thomas Manns „Lotte in Weimar“. Es ist ein Roman über zwei Menschen, den Dichterfürsten Johann Wolfgang Goethe und Charlotte Buff, seine Jugendliebe. Goethe hatte als junger Mann für Charlotte geschwärmt. Doch diese war bereits verlobt. Die Eifersucht plagte den Dichter und er beschrieb seine eigenen Gefühle im Roman „Die Leiden des jungen Werther“. Mit diesem Bestseller des 18. Jahrhunderts wurde Charlotte zu einer ewig jungen, liebreizenden Romanfigur. Aber diese Romanfigur hatte natürlich auch ein richtiges Leben.
Thomas Mann lässt Charlotte und Goethe nach vielen, vielen Jahren wieder aufeinandertreffen. Charlotte besucht Weimar und ist dort zu einem Abend im Hause Goethes eingeladen. Sie ist voller Erinnerung an die Zeit von damals und voller Erwartung eines erneuten Treffens. Vielleicht hat sie auch die Hoffnung, dass die unerfüllte Liebe von einst wieder neu aufflammen könnte. In einem Hotel in Weimar wartet sie sehnsüchtig auf das Treffen. Viele Gäste kommen und erzählen von Goethe, dem mittlerweile weltberühmten Großschriftsteller und Naturforscher. Charlotte hat zum Treffen noch einmal ihr Kleid von damals, von der ersten Begegnung mitgebracht. Endlich kommt der Tag der Einladung. Charlotte und Goethe begegnen sich. Aber, was ist passiert? Die Zeit ist vergangen. Es begegnen sich zwei Menschen, bei denen das Leben weitergegangen ist. Charlotte ist für Goethe mehr eine Anekdote aus vergangenen Tagen, ein Gast in einem altertümlichen Kleid, dem er kaum mehr Beachtung schenkt. Er ist nicht mehr der junge Liebhaber, sie nicht mehr das junge Mädchen. Die Zeit ist vorbei, die Erwartungen sind enttäuscht.
„Du kannst das Vergangene nicht einfach wieder beleben. Du kannst das Zukünftige nicht voraussagen. Du musst den Zeitpunkt ergreifen, wenn er da ist. Das kannst du nur, wenn du dich traust, ins Ungewisse zu gehen.“ In diesem Gefühl steht das Evangelium. Die Zeit des Johannes, dieses großen Propheten vergeht und niemand wird sie wiederbringen. Die Zeit Jesu bricht erst an, aber sieh dich vor, dass du sie durch dein Zögern und deine Vorbehalte nicht verpasst. Das Heil kommt, aber nicht so, wie du es vielleicht erwartest. Der Text des Evangeliums lässt sich als Ortsbestimmung lesen. Er fragt die, die ihn lesen oder hören nach ihrem Standpunkt. „Werdet ihr ewig Zweifelnde bleiben, oder habt ihr Zutrauen auch dann, wenn sich eure Erwartungen nicht so erfüllen, wie ihr es dachtet?“
Ich glaube, es ist eine Erfahrung des Glaubens, genauso, wie des alltäglichen Lebens. Wer zum Glauben kommt hat bestimmte Erwartungen: So oder so müsste es doch sein. Dieses oder jenes Gefühl müsste sich doch einstellen, ich müsste so etwas haben wie eine ewige Sicherheit im Glauben. Und dann kommt es meist anders. Der Glaube ist flüchtig, er ist nicht immer angenehm, er kann sich verdunkeln, über Zeiten verschwinden. Er kann tiefe Zweifel zulassen.
Die Kirche, sie müsste doch so und so sein! Und stattdessen ist sie häufig so fehlerhaft, manchmal auch banal und nichtssagend, weit von allen Idealbildern entfernt, vom alten Glanz genauso wie von erhoffter Erneuerung und Stärke.
Mein Leben müsste doch besser sein. Ich hatte so viele Ideen und Erwartungen und stattdessen ist es oft so alltäglich, so unspektakulär, so niemals frei von Sorgen.
Die Welt müsste doch besser sein. Und stattdessen ist sie so voller Dunkelheiten, dass man manchmal an ihr verzweifeln könnte.
Was wäre allerdings, wenn ich bei all dem Hadern, Grübeln und Erwarten, den richtigen Zeitpunkt verpasse, wenn dieser Zeitpunkt genau jetzt wäre, der Zeitpunkt des Glaubens, der Kirche, der Zeitpunkt für mein Leben und für die Welt? Was wäre, wenn ich lernte, mit der Vorläufigkeit zu leben? Die Zeit vergeht und sie bringt neue Erinnerungen genauso wie neue Erwartungen. Was ist, wenn das Alte nicht mehr da ist und das Erwartete nicht eintritt? Ist dann die Zeit verfehlt oder habe ich mich nur geweigert, in diesem Moment der Vorläufigkeit, diese Zeit zu umarmen, den richtigen Zeitpunkt zu sehen?
Wenn der richtige Zeitpunkt da ist, wird sich ein Weg bahnen, auf dem ich weitergehen kann. Auch dieses Bild ist in der Jesaja-Verheißung enthalten. Und auch wenn ich am Ende des Weges ein großes Ziel erhoffen darf, sehe ich ihn nur bis zur nächsten Kurve. „Bereitet den Weg“, also schaut, ob ihr ihn sehen könnt. Das ist der adventliche Ruf des Täufers. Die Zeit dafür könnte genau jetzt sein.
Beitragsbild: Goethe, Grafitto in Weimar