Es ist wieder die Zeit der Adventskalender. Unsere Caritas hat sich dazu in diesem Jahr etwas Besonderes ausgedacht und einen Adventskalender mit geistlichen Impulsen erstellt. Die Autorinnen und Autoren der Texte orientierten sich dabei an einem kurzen geistlichen Leitwort. Als ich vor einigen Wochen angefragt wurde, auch einen Beitrag für den Adventskalender zu verfassen, wies man mir das folgende Leitwort zu: „Menschen sind oft unberechenbar, unlogisch und selbstzentriert. Vergib ihnen einfach!“ Als ich dieses Wort das erste Mal las, hatte ich eine ungefähre Vorstellung, was damit gemeint sein könnte. „Menschen tun häufig nicht das, was wir von ihnen erwarten würden oder das, von dem wir glauben, dass es für sie gut wäre, es zu tun. Sie handeln häufig nach Motiven, die uns falsch erscheinen.“ „Na klar“, dachte ich und mir fielen sofort Beispiele und Situationen ein, in denen ich das Verhalten anderer tadeln würde. Der Satz „Vergib ihnen einfach“ bedeutet übersetzt vielleicht: „Ärgere dich nicht über das Verhalten der anderen und sei ihnen gegenüber nachsichtig.“ Das ist im Sinne der eigenen Seelenhygiene ein durchaus brauchbarer Ratschlag.
Beim zweiten Lesen des Leitworts kam ich ins Grübeln. Es stimmt ja: Menschen sind oft unberechenbar, unlogisch und selbstzentriert. Aber ist es nicht ein wenig wohlfeil, sich über das Verhalten der anderen aufzuregen? Wenn ich an die letzten Tage und Wochen meines eigenen Lebens zurückdachte, bemerkte ich, dass ich dort immer wieder auf Situationen stieß, in denen ich selbst unberechenbar, unlogisch und selbstzentriert gewesen bin. Ich selbst muss ja darauf achten, dass ich anderen damit nicht lästig werde, dass mein Ungenügen entweder nicht sichtbar wird oder die anderen großzügig darüber hinwegsehen. Ich müsste mich doch selbst auch ändern, oder zumindest immer einmal wieder korrigieren.
„Ich müsste“, das ist ein Konjunktiv, genauso „ich sollte“ oder ich „ich könnte“. Genaugenommen handelt es sich um einen Konjunktiv 2. Der wird in einer deutschen Grammatik so erklärt:
„Mit dem Konjunktiv II verlassen wir die reale Welt und widmen uns der irrealen Welt. Die irreale Welt ist das Reich der Phantasien, der Vorstellungen, der Wünsche, der Träume, der irrealen Bedingungen und Vergleiche, aber auch der Höflichkeit. Diese gedachten, angenommenen oder möglichen Sachverhalte, die nicht real sind und nicht existieren, werden mit dem Konjunktiv II gebildet.“[1]
Der Satz „Ich müsste…“ bezeichnet also etwas, das nicht wirklich ist, von dem ich aber wünsche, dass es Wirklichkeit wäre. „Ich müsste Oma besuchen“ heißt übersetzt: Ich weiß, dass es richtig wäre, meine Oma zu besuchen, aber ich habe es nicht oder noch nicht getan. Und meistens (das ist die traurige Wirklichkeit) heißt es auch: Ich habe ein schlechtes Gewissen, aber ich mache es trotzdem nicht. Ich vermute, dass ich nicht der einzige bin, dessen Leben immer wieder im Konjunktiv 2 stattfindet. Ich weiß, was richtig wäre, aber ich tue es nicht.
Wie lässt sich diese Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit überwinden? Am einfachsten natürlich dadurch, dass ich tue, was ich als richtig erkannt habe. Aber das ist so schwer. Hier kommt wieder das Leitwort ins Spiel „Menschen sind oft unberechenbar, unlogisch und selbstzentriert.“ Ich klebe irgendwie in meiner alten Haut, aus der ich nicht herauskann. Statt zu tun, was richtig ist finde ich allerhand Ausflüchte, die nicht selten einfach meine Bequemlichkeit kaschieren sollen. Ich habe zwar ein schlechtes Gewissen, aber ich rechtfertige mich vor mir selbst für mein Nicht-Handeln. Ich verzeihe mir selbst. Dabei ist das Register der ausgelassenen Gelegenheiten lang. Die Schuld meines Nicht-Tuns ist ausgeprägter, als die Schuld meines Tuns.
Die Einsicht kann ein erster Schritt sein. Auf diesen folgt gerne ein zweiter. Ich versuche, mein Nicht-Handeln durch eine Zeichenhandlung zu kompensieren. Ich nehme noch einmal das Beispiel „Ich müsste meine Oma besuchen.“ Ich habe also eingesehen, dass es richtig wäre, meine Oma zu besuchen. Ich mache es trotzdem nicht. Stattdessen nehme ich mir vor, fest an meine Oma zu denken. Oder ich schicke ihr eine Nachricht, dass ich leider zur Zeit nicht kommen kann. Oder ich erzähle anderen, wie wichtig mir meine Oma ist. Oder ich spende an eine Vereinigung, die sich um alte und hilfsbedürftige Menschen kümmert. Oder ich erhebe in der Diskussion das Wort für die alten Menschen in unserer Gesellschaft, die allein sind und fordere Verbesserungen für ihre Situation. Das ist alles ehrenwert. Es beruhigt mein Gewissen. Ich habe ja etwas getan. Aber ich haben eben nicht das getan, was ich eigentlich tun müsste, sondern versucht, mein Versagen irgendwie zu kompensieren. Das ist besser als Nichts, aber im Kern halt auch nicht viel.
Meine Vermutung ist: Wir leben in einer Gesellschaft, die solche Kompensationshandlungen liebt. Ich habe aufgehört zu zählen, wie häufig in den letzte Monaten irgendwelche Gebäude in irgendwelchen Farben angestrahlt wurden, um „ein Zeichen zu setzten“. Das ist eine klassische Kompensationshandlung. Der Effekt ist eher gleich null, zumal es meist um Anliegen geht, die sowieso die meisten teilen. Sie können sich sicher an das öffentliche Klatschen für die Pflegekräfte in der Corona-Zeit erinnern. Ja, vielleicht besser als nichts, aber im Kern nur eine Kompensationshandlung, die das eigentlich Notwendige nicht ersetzen kann. Immerhin: Man hat „irgendwas getan“. Vielleicht bewirkt es auch auf lange Sicht „irgendetwas“. Sobald es aber darum geht, ein gutes Anliegen wirksam zu unterstützen, etwa so, dass es meinen eigenen Beitrag wirklich fordern würde, schrumpft die Bereitschaft dazu stark zusammen. Das aktuelle Beispiel um Kompensationshandlungen ist die überaus nervige Diskussion um die Fußballweltmeisterschaft. Wenn man aus berechtigten Gründen die Weltmeisterschaft in Katar für falsch hält, dann soll man halt nicht hinfahren. Wenn man allerdings nicht bereit ist, die Konsequenzen daraus in Kauf zu nehmen und man auf sportlichen Erfolg und das Geld nicht verzichten möchte, dann sollte ich dazu stehen. Dieses Konjunktiv 2- Verhalten jedenfalls ist schwierig. „Ja, wir fahren, aber wir haben ein schlechtes Gewissen und verpflichten uns zu irgendwelchen Kompensationshandlungen“ – das ist zwar ein sehr typisches Verhalten aber im Kern wenig glaubhaft.
Das Evangelium von Johannes dem Täufer (Mt 3,1-12) verhandelt übrigens genau diesen Konjunktiv 2- Komplex. Johannes verkündet ja die Umkehr: „Ihr müsst euch ändern. Ihr müsst jetzt eure Sünden bekennen und umkehren. Schluss mit den Ausflüchten. Tut endlich, was Gott von Euch verlangt.“ Die Bußpredigt hat Erfolg. Die Menschen kommen in Scharen zum Jordan. Es geht um eine Zeichenhandlung. Mit der Taufe soll das neue Leben beginnen. Ein umgekrempeltes Leben. Ein Leben im Indikativ. „Ich habe Folgendes als gut erkannt und jetzt handele ich auch danach“. Und dann kommen die Pharisäer und die Sadduzäer. Sie sind eigentlich diejenigen, die den anderen sagen, was im Sinne Gottes gut ist zu tun. Auch sie wollen offensichtlich die Taufe empfangen. „Was wollt ihr?“, fragt sie Johannes. Er wirft ihnen vor, Heuchler, also gar nicht zu einer echten Umkehr bereit zu sein. Ist die Taufe für die nur eine Kompensationshandlung, ein rasches Eingeständnis der eigenen Fehlbarkeit, aus der weiter nichts folgen wird? „Bringt Frucht hervor, die Eure Umkehr zeigt“, so fordert sie der Täufer auf. „Macht aus dem Konjunktiv einen Indikativ.“ „Es ist nicht eure Abstammung, nicht euer Wissen, nicht eure Gelehrtheit, die euch rettet, wenn euer Sündenbekenntnis folgenlos bleibt.“ Was habe ich selbst aus diesem Evangelium gelernt? Es ergeht an mich der Anspruch, der Versuchung der „alten Haut“ so gut es geht wenigstens für eine Zeit zu widerstehen. Das heißt mindestens einmal für die Zeit des Advent: 1. Darauf verzichten, anderen zu sagen, was sie tun müssen. 2. Auf Ausflüchte und Kompensationshandlungen verzichten. 3. Nach meinen Kräften das tun, was ich als richtig erkannt habe. 4. Mir bewusst zu bleiben, dass ich immer auf Vergebung durch Gott und durch andere angewiesen bleibe und darum auch zu bitten.
Das gefällt mir sehr. Gott bitten mir den Rechten Weg wieder aufzeigen
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Das gefällt mir sehr. Gott bitten mir den richtigen Weg wieder zu zeigen.
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Ich befürchte, unser ganzes Leben besteht nur aus Kompensationshandlungen …
Danke für den guten Text
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