Eine Grundspannung der Frohen Botschaft wird in den Texten des 4. Fastensonntags sowohl von Paulus, als auch von Jesus selbst zur Sprache gebracht. Jesus nennt das Gegensatzpaar von Licht und Dunkelheit (Joh 3, 14-21), Paulus das von Gnade und Sünde (Eph 2,4-10). Während die Sünde, oder Dunkelheit zum Tod führt und zur Gottferne, bedeutet die Gnade, oder das Licht, Leben.
Die Grundspannung, die dahinter steht könnte man so ausdrücken: Auf der einen Seite gibt es auf der der Welt, in meinem Umfeld, aber auch manchmal bei mir selber so viel an Schlechtem, an Unheil, an Bösem, an Strukturen, die mich einengen, an Fehlerhaftigkeit und Ungenügen. Auf der anderen Seite soll ich in eben dieser Welt ein glückliches, erfülltes Leben führen können, das sich aus der guten Beziehung zu mir selbst, meinen Nächsten und Gott speist. Wie lässt sich beides miteinander vereinen, wo es doch so gegeneinander steht? Zwei Lösungsmöglichkeiten bieten sich an: Entweder an der Welt verzweifeln, sich dann aufreiben im Kampf gegen das Unrecht oder stumm resignieren. Die zweite Möglichkeit: Das Böse, das Unrecht, die Missstände ausblenden und sich rein auf das Privatleben, das eigene Wohlbefinden konzentrieren. Beide Wege führen, wie Sie mir wahrscheinlich zustimmen würden, in die Irre.
Licht und Dunkelheit, Gnade und Sünde, ich möchte für die Auflösung der Spannung, den Umgang mit diesem Konflikt ein Beispiel nehmen, dass ich aus einem Roman Heinrich Bölls entnommen habe.
„Der Engel schwieg“ ist eine Geschichte aus dem Überlebenskampf der Nachkriegsjahre. Der desertierte Armeeoffizier Hans kommt in seine zerbombte Heimatstadt Köln zurück. Ohne gültige Papiere gelingt es ihm, durch einen Zufall bei Regina in deren halbzerstörter Wohnung unterzukommen. Hans hat seine Frau bei den Bombenangriffen verloren, Regina ihr Kind. Die Welt draußen liegt in Schutt und Asche, es gibt keine Arbeit und kaum etwas zu essen. Mit gestohlenen Briketts kommt Hans eines Tages in die Wohnung. Als er Regine sieht, so schreibt Böll, „wusste er, dass er sie sein Leben lang sehen würde. Es ergriff ihn etwas wie Schwindel, er konnte sie sich gut als alte Frau vorstellen, immer noch schlank, die Haare grau und das runde, etwas spöttische Gesicht. Diese Erkenntnis berührte ihn tief und schmerzlich […] es wahr wohltuend und zugleich schrecklich. Er hatte das Gefühl sie schon vor langen Jahren gesehen zu haben und sie in zwanzig Jahren zu sehen, immer wieder – er war aus dem Bett aufgestanden, hatte etwas Unwiderrufliches getan, was nicht mehr rückgängig zu machen war: er hatte das Leben angenommen und es drängte sich hier zusammen: eine kurze Spanne Unendlichkeit, die voll Schmerz und Glück war.“ Statt zu gehen, wie er es vorgehabt hatte, bleibt Hans bei Regina, küsst sie zum ersten Mal. Regina holt alle Kostbarkeiten, die sie hat zusammen, etwas Brot und Marmelade, einen Apfel und eine Flasche Wein, zu der sie durch einen Zufall gekommen ist. Der Schatten der bröckelnden und fleckigen Wände, die klappernden Dachrinne und das Pfeifen des Windes im Ohr, das notdürftig geheizte Zimmer und die Erinnerung an viel Leid, an Blut und Tränen. In dieser Stunde ereignet sich das Menschengrößte: „Er fühlte, wie sie ihre Hand wegnahm,, seine Hand ergriff und sie festhielt. Mit einem Glück, dass er nie gekannt hatte, fühlte er, dass es warm war und dass er niemals frieren würde, wenn er bei ihr schlief […] Und plötzlich wusste er, dass sie weinte. Er setzte sich auf, spürte im gleichen Augenblick die Kälte, die unter der Tür aufs Bett zog, beugte sich über sie, fühlte ihren Atem wieder, der sich auf seinem Gesicht wie ein Strom erbreiterte und milde an ihm vorbeifloss.“ Was hier geschieht ist Liebe in ihrer ganzen Zartheit und Verletzlichkeit und zugleich Versöhnung. Der Krieg ist vorbei, das Elend trifft nicht mehr, nur noch oberflächlich, aber es kann uns nichts anhaben.
Die Geschichte dieser beiden Versehrten erzählt von einem unverhofften Geschenk eines plötzlich einsetzenden Überschuss an Leben, von einer Berührung, aus der ein Mensch ein Leben lang leben kann, vom Moment der ein Leben zum Guten entscheidet, von einem Moment der Gnade.
„Gott, der voll Erbarmen ist, hat uns in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat zusammen mit Christus wieder lebendig gemacht. Aus Gnade seid ihr gerettet.“ So schreibt Paulus im Epheserbrief (Eph 2,4f.). Hinter diesen Sätzen steht die Erfahrung von Gnade, von Lebensüberschuss durch eine Zuwendung, die von Gott kommt. Paulus ist der Sinn und die Aufgabe seines Lebens nach tiefer Enttäuschung neu geschenkt wurden. Er hat das Leben wie Hans im Roman, neu angenommen, trotz seiner Verletzlichkeit und trotz seiner Versehrtheit. Er erkennt, dass es sich lohnt, weil es von Liebe getragen ist.
Zugleich macht er die Erfahrung der Versöhnung, eines Wissens um das tief und manchmal verdeckt eingeschriebene Gutsein allen Lebens, um die Möglichkeit, das Elend zu überwinden und, dass es keine Macht mehr über mich hat. Schließlich sagt Paulus noch: „Dadurch, dass er in Christus Jesus gütig an uns handelte, wollte er den kommenden Zeiten, den überfließenden Reichtum seiner Gnade zeigen“ (Eph 2,7). Aus diesem Satz spricht die tiefe Hoffnung, dass die Momente des Lebensüberschusses, des Gelingens und Glücks Andeutungen, Verheißungen zukünftigen Lebens in Fülle sind. Gott ist mehr, als wir von ihm erahnen und hält noch mehr für uns bereit.
Der kurze, irdische Moment göttlicher Umarmung, die Zeit seiner Gnade allerdings ist bereits ein Augenblick, aus dem sich ein ganzes Leben speisen kann. Paulus selbst hat dafür ein eindrucksvolles Lebenszeugnis abgelegt.
Im Glauben also gelingt es Paulus, die Gegensätze von Licht und Dunkel, von Sünde und Gnade zu vereinbaren. Er fühlt sich durch den Glauben herausgenommen aus dem Zusammenhang des Unrechts, hat für sich Freiheit gewonnen, die ihn wieder atmen lässt. Zugleich wird er alles tun, um Unrecht zu bekämpfen, aber eben nicht als Verzweifelter, sondern als hoffender, glaubender und liebender Mensch.
Ein Leben aus der Gnade ist ein Leben aus der Begegnung mit Gott. Wir glauben, dass diese Begegnung unter Zeichen in ganz besonderer Weise stattfindet. Die Sakramente sind Orte und Momente, in denen Jesus selbst an uns handelt. So ist es kein Wunder, dass die beiden Sakramente, die das alltägliche Leben begleiten genau die beiden wichtigsten Aspekte der Gnade besonders betonen. Im Bußsakrament geht es um die Versöhnung, um die Wiederherstellung eines inneren Friedens. Sie soll den Glauben an das Gute in uns und der Welt wieder stärken, was dort geschieht ist eben nicht Gericht oder Verurteilung, sondern Reinigung und Neubelebung. Die Eucharistie ist Ausdruck der verletzlichen Liebe, sie feiert und drückt den leidenden, sterbenden und auferstandenen Christus aus, Gottes Zuwendung zum Menschen. Und sie ist gleichzeitig Hinweis auf die Erfüllung dieser Liebe, indem sie auf die Wiederkunft Christi hinweist. Das Johannesevangelium drückt dies mit einem Satz aus: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt. Nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat“ (Joh 3,16).