Die Wolke des Nichtwissens

Marcel Reich-Ranicki, der berühmte Literturkritiker, wäre in diesen Tagen 100 Jahre alt geworden. Er erreichte mit seiner Fernsehsendung „Das literarische Quartett“ ein Millionenpublikum, dass die Sendung häufig weniger wegen der besprochenen Literatur, als vielmehr wegen Reich-Ranicki anschaute. Er konnte sich äußerst eloquent, wortreich und vor allem emotional über Bücher auslassen. Umso bemerkenswerter war ein Interview mit ihm, dass ich vor einigen Jahren gelesen hatte. Ein Journalist wollte von Reich-Ranicki ein paar Einschätzungen zum aktuellen Zeitgeschehen bekommen und stellte Fragen zur Politik, zur Gesellschaft und Wirtschaft. Es war für den Journalisten ein desaströses Interview. Reich-Ranicki antwortete auf jede Frage mit „Das weiß ich nicht“, oder „Das kann ich nicht beurteilen“. Irgendwann riss ihm offenbar die Geduld und er sagte sinngemäß: „Wissen Sie, ich bin Literaturkritiker, fragen Sie mich etwas über Bücher, dann kann ich Ihnen antworten. Zu den anderen Themen müssen sie andere Leute befragen.“ Es wird wahrscheinlich so gewesen sein, dass Reich-Ranicki keine Lust auf das Interview hatte. Sicherlich hätte er aufgrund seiner Bildung und Lebenserfahrung sehr wohl zu dem ein oder anderen außerliterarischen Thema Stellung beziehen können. Aber anders als viele Promis und Influencer unserer Tage, die sich zwecks Aufmerksamkeit gerne zu allem und jedem äußern, selbst dann, wenn sie eigentlich nichts davon verstehen, versagte sich Ranicki das Antworten. Offensichtlich war es seine Ansicht, man müsse schon eine bestimmte Kompetenz besitzen, um über Dinge urteilen zu können. Eine persönliche Meinung allein stellt noch keinen wesentlichen Beitrag dar.

Heute ist der Dreifaltigkeitssonntag, an dem besonders über Gott nachgedacht und gesprochen werden soll. Ich habe gehört, dass die Zisterzienser im hohen Mittelalter diesen „Themensonntag“ abgelehnt haben und sich weigerten, über die Dreifaltigkeit zu predigen, weil ihnen die Materie als zu schwierig erschien. In der Tat kann man ja fragen, mit welcher Kompetenz wir über Gott sprechen können. Auch mir geht es manchmal etwas zu schnell, wenn ich in Predigten oder Katechesen höre, Gott sei so oder so. Ist er das wirklich? Natürlich sind wir nicht völlig ahnungslos. Wir haben die Berichte der Bibel, wir haben das Glaubensbekenntnis, wir haben unzählige theologische Schriften zur Dreieinigkeit Gottes. Wir können natürlich von Gott sprechen aus der Kompetenz persönlicher Glaubenserfahrungen, aus theologischen und biblischen Studien, aus dem eigenen Nachdenken über Gott. Aber wie nahe kommen wir ihm wirklich? Es ist bezeichnend, dass ein berühmter Theologe wie Karl Rahner, dessen Gesamtwerk 31 dicke Bände umfasst, beim Thema „Gott“ immer sehr vorsichtig wird. Rahner macht darauf aufmerksam, dass Gott immer größer ist als dass, was man über ihn sagen oder denken kann. Er schreibt: „[…] denken Sie daran, dass ‚Gott‘ gerade das meint, was man nicht sagen kann, jene helle Wirklichkeit, die für uns das absolute Geheimnis ist und bleibt […].[1]

Im Alten Testament bleibt Gott daher immer unsichtbar. In den ersten Büchern der Bibel wird er von einer Wolke verborgen, so dass man ihn nicht sehen kann. So wird etwa die folgende Begebenheit berichtet:

In jenen Tagen stand Mose am Morgen zeitig auf und ging auf den Sinai hinauf, wie es ihm der Herr aufgetragen hatte. Der Herr aber stieg in der Wolke herab und stellte sich dort neben ihn hin. Er rief den Namen Jahwe aus. Der Herr ging an ihm vorüber und rief: Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue. Sofort verneigte sich Mose bis zur Erde und warf sich zu Boden. Er sagte: Wenn ich deine Gnade gefunden habe, mein Herr, dann ziehe doch mein Herr mit uns. Es ist zwar ein störrisches Volk, doch vergib uns unsere Schuld und Sünde, und lass uns dein Eigentum sein! (Ex 34, 4-9)

Der Text spielt mit dem Erkennen und Nichterkennen. Mose sieht Gott durch die Wolke hindurch nicht, mehr noch, er wirft sich sogar extra noch auf sein Gesicht, damit er ihn auch gar nicht sehen kann. Zugleich kann er mit ihm sprechen. Er kennt seinen Namen und zugleich bittet er ihn, nicht fern zu sein, sondern mit dem Volk zu gehen, also immer in erreichbarer Nähe zu sein. Die Begegnung mit Gott ist zugleich eine wirkliche Begegnung und eine Nichtbegegnung.

Es gibt einen berühmten Text aus dem Mittelalter über die Gottesbegegnung, der genau dieses Bild der Wolke aufnimmt.[2] Er rät demjenigen, der Gott erfahren möchte dazu, sich mit einer Wolke des Nichtwissens zu umgeben, also alle seine Vorstellungen und Bilder zu verlassen:

Jetzt wirst du mich fragen: „Wie soll ich an Ihn denken, und was ist Er?“ Darauf kann ich dir nur antworten: Ich weiß es auch nicht. Denn du hast mich mit deiner Frage in die gleiche Dunkelheit und in die gleiche Wolke des Nichtwissens versetzt, in der ich dich selbst gern sähe. Denn alle anderen Geschöpfe und ihre Werke ja sogar die Werke Gottes selbst kann man durch Gnade zur Gänze erkennen, und es ist gut möglich, sich mit ihnen in Gedanken zu beschäftigen. Aber Gott selbst kann kein Mensch gedanklich erfassen. Und daher will ich alles, was ich denken kann, hinter mir lassen und zum Gegenstand meiner Liebe das erwählen, das nicht gedacht werden kann. Denn Gott kann wohl geliebt, aber nicht gedacht werden. Von der Liebe lässt er sich fassen und halten, vom Intellekt jedoch nicht. (Die Wolke des Nichtwissens, Kapitel 6)

Die Erfahrung Gottes lässt sich also nicht in Worten ausdrücken. Sie übersteigt unsere sprachlichen und denkerischen Fähigkeiten. Die Begegnung mit Gott ist eine unsagbare, gefühlte Erfahrung in der Liebe.

Wenn mich also ein Journalist fragen würde, wer oder wie Gott ist, müsste ich ihm sagen: Ich weiß es von dem, was ich selbst von Gott erfahren habe, ich weiß es von dem, was die Bibel über ihn berichtet, ich weiß es durch Jesus, der uns das Wesen des lebendigen Gottes nahegebracht hat. Ich weiß es von den gesammelten Erfahrungen und Gedanken, die sich in der Tradition und der Gemeinschaft der Gläubigen finden lassen. Und zugleich weiß ich es nicht, denn alles, was ich von ihm sagen kann, genügt nicht. Gott ist größer als mein Denken, er bleibt immer auch unfassbar und entzieht sich meinen menschlichen Möglichkeiten, von ihm zu sprechen. Das ist auch nicht schlimm. Es bewahrt mich davor, ihn nach meinen Vorstellungen gestalten zu wollen. Es bewahrt mich davor, leichtfertig von ihm zu sprechen, es bewahrt mich davor, auf alles eine Antwort zu haben. Die Wolke des Nichtwissens ist mir ein Ansporn, immer wieder zu ihm zu kommen, mehr zu erfahren, vor allem aber, seine liebende Gegenwart zu suchen, aus der die tiefe Gottesbeziehung entstehen kann.   


[1] Karl Rahner, Einübung priesterlicher Existenz, zitiert in: Lehmann/Raffelt, Karl Rahner Lesebuch, Freiburg 2004, 146.

[2] Der Text des unbekannten Autors heißt: Die Wolke des Nichtwissens. Er ist in verschiedenen Übersetzungen und Editionen als Buch erhältlich, aber auch hier abrufbar: http://ghp.papnet.eu/Blogfiles/Die%20Wolke%20des%20Nichtwissens.pdf

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