Der Gottesdienst ist keine Tankstelle!

Tankstellen haben einen begrenzten Charme. Ich verbinde mit ihnen versiegelte Betonflächen, Benzingestank und gräuliches Wasser zum Scheibenwischen. An Tankstellen halte ich mich ungern auf. Sie sind reine Zweckeinrichtungen. Der Tankstellenbesuch ist ein notwendiges Übel, um Autofahren zu können. Am vergangenen Sonntag im Auto, auf dem Weg von einer zur anderen Messe, hörte ich nebenbei den Gottesdienst im Radio. Und da war sie wieder: die Tankstelle. Eine Frau betete: „Heute dürfen wir auftanken, durch diesen Gottesdienst.“ Ich denke in solchen Momenten an eine Zapfsäule, höre das Rattern einer Benzinpumpe und sehe die laufende Tankuhr vor mir – 20 Liter, 34,86 Euro. Die Tankstelle ist zu einer beliebten Metapher für den Gottesdienst geworden. Die evangelische Stadtkirche Remscheid nennt ein liturgisches Format tatsächlich: „Tankstelle – der etwas andere Gottesdienst zum Auftanken“. Google wirft eine ganze Reihe solcher Angebote aus. Wie kommt man dazu, einen Gottesdienst mit einem so hässlichen Ort wie einer Tankstelle zu vergleichen? Ist der Gottesdienst ein notwendiges Übel, um anschließend durch die Woche zu kommen? Die Metapher möchte ja wohl sagen: Der Gottesdienst erfüllt und erbaut mich, oder: er gibt mit Anregungen für die Woche, oder: nach dem Gottesdienst fühle ich mich besser, ich komme zur Ruhe, kann neue Kräfte sammeln.  Das ist alles sehr ehrenwert und ich bezweifle auch nicht, dass ein Gottesdienst ein solcher Ort sein kann. Genauso gut könnte man sagen: der Mittagsschlaf ist für mich eine Tankstelle, oder der Spaziergang, der Urlaub, die Yoga-Übung, das Joggen, das Lesen, der Besuch im Fitness-Studio oder im Konzert… Es besteht ja kein Mangel an Möglichkeiten, zu entspannen, sich zu erholen oder sich anregen zu lassen.

Jenseits des ungeschickten Vergleiches mit der Tankstelle, offenbart die Rede vom Gottesdienst als Ort zum Auftanken eine große Not. Wie soll ich die Sinnhaftigkeit des Gottesdienstes begründen? Gelingt es, Argumente dafür zu finden, einen Gottesdienst zu besuchen? Das entscheidende Kriterium, um moderne Menschen dazu zu animieren ist offensichtlich, nachzuweisen, dass mir der Gottesdienst „etwas bringt“. Sein Wert wird von seiner Auswirkung auf meine Befindlichkeit abgeleitet. Ich erlebe das (zum Glück) immer mal wieder in positiven Reaktionen nach dem Gottesdienst: „Das war aber sehr schön gestaltet“, „Die Predigt hat mich zum Nachdenken angeregt“, „Zum Glück mal eine ganz gewöhnliche Messe, da fühlte ich mich wohl“, „Gerade die Stille im Gottesdienst tut mir gut“, „Die Musik war sehr schön“. Das sind qualitative Aussagen und ich freue mich durchaus, wenn der Gottesdienst auf Besucher diese Wirkung hat. Ich will diese Wirkung des Gottesdienstes nicht geringschätzen. Häufig verbergen sich dahinter tieferliegende Erfahrungen, die so nur schwer auszusprechen sind. Zentral ist ja die Begegnung zwischen Gott und dem Menschen. Und wenn die Liturgie diese Begegnung fördert, den Menschen für eine tiefere Erfahrung öffnet und ihm Zeit zum Beten gibt, dann hat sie einen wesentlichen Zweck tatsächlich erfüllt. Manchmal habe ich allerdings den Eindruck, der Gottesdienst würde zu sehr nach äußeren Parametern bewertet. Ein „schöner“ Gottesdienst wird gerne verwechselt mit einem „schön gestalteten Gottesdienst“. So wird immer wieder vorgeschlagen, der abnehmenden Zahl der Gottesdienstbesucher dadurch entgegenzuwirken, dass man den Gottesdienst „ansprechender“ machen solle, was in der Praxis häufig heißt: Mehr Beiträge, mehr Aktion, mehr „verständliche Sprache“, mehr Beteiligung, mehr zeitaktuelle Bezüge. Ein Gottesdienst soll nicht langweilig sein, es soll „etwas geboten werden“.

In einem Streitgespräch trafen in einer Radiosendung vor einiger Zeit der Autor Erik Flügge und der evangelische Journalist Reinhard Mawick aufeinander.[1] Flügge hatte der evangelischen Kirche eine Fixierung auf den Gottesdienst als Standartprodukt vorgeworfen, das immer weniger angenommen wird, und gefordert, alternative Formen der Spiritualität mehr in den Blick zu nehmen. Mawick wollte den Gottesdienst verteidigen und schilderte sein Gottesdienstverständnis wie folgt:

„Ich will’s mal so sagen, für mich ist ein Gottesdienst, der natürlich mal besser oder mal schlechter gelingt, einfach eine wichtige, schöne Stunde vor Gott, die mich sammelt und stärkt und wo ich gerade mich an dem freue, was geboten wird, aber auch an einigen Punkten hängenbleibe und meine Glaubensfantasie in Wallung setzen lasse. Im besten Fall natürlich beides: es gefällt mir und ich komme auch gute Gedanken. Also, das ist einfach eine schöne Stunde vor Gott […].“ 

Der Gottesdienst lebt in dieser Sichtweise von seiner Gestaltung. Ein gelungener Gottesdienst ist einer der „mir gefällt“ und bei dem „ich auf gute Gedanken komme“. Lege ich diesen Maßstab an meine eigene Erfahrung als Gottesdienstbesucher an, würde ich sagen, dass dies eher seltener als öfter vorkommt. Ich vermute es geht anderen auch so. Im Theater oder im Kino ist die Streuung gemäß dieser Kriterien weniger groß. Jetzt ist das Liturgieverständnis von evangelischen und katholischen Christen sicher unterschiedlich, aber auch katholischerseits ist ein solches „zweckdienliches“ Gottesdienstverständnis häufig anzutreffen.  Nur zur Versicherung: Ich bin nicht gegen eine gute „Qualität“ auch des gottesdienstlichen Geschehens. Schon aus beruflichem Interesse achte ich auf „Qualitätsmaßstäbe“, also etwa, ob es eine gute liturgische Ordnung gibt, eine qualitätvolle kirchenmusikalische Gestaltung, eine ansprechende Predigt. Mich erhebt eine feierliche Liturgie und ich freue mich an einer schönen liturgischen Ausstattung, an einer würdigen Ausführung der liturgischen Dienste, an einem gut gestalteten Kirchenraum. Es ist für das „Gelingen“ eines Gottesdienstes wichtig, auf solche Dinge zu achten. Gleichzeitig ist dieses „Gelingen“ aber auch nicht über die Gestaltung sicherzustellen. Manchmal stärkt oder erbaut mich eine einfache Werktagsmesse oder eine eucharistische Anbetung weit mehr als ein feierliches Hochamt.  

Der Gottesdienst erfüllt seinen Zweck, wenn er zu einer verdichteten Erfahrung er Gottesnähe führt. Er bildet lediglich den Rahmen für eine Stärkung der Gottesbeziehung. Sobald er davon wegführt, wird er zu einer rein ästhetischen oder lehrhaften Veranstaltung. Qualität ist nicht gleichzusetzen mit der Akkumulation von Wortbeiträgen, Zeichenhandlungen oder musikalischen Beiträgen. Dies ist ein oft zu findendes Missverständnis. Es ist mir immer wieder wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich die gottesdienstliche Gemeinde nicht selbst feiern soll, sondern in dieser Feier auf Gott verweist. Aus meiner langjährigen Erfahrung mit Schulgottesdiensten ist mir dies immer wieder schmerzlich bewusst geworden, wenn der Gottesdienst drohte, zu einer Verlängerung des Unterrichtes mit anderen Mitteln zu verkommen. Der Gottesdienst sollte hier häufig zu einer Vermittlung bestimmter Inhalte eines christlichen Lehrstoffes dienen, der sich gerne in banalen moralischen Formeln wie „wir müssen uns immer wieder vertragen“ äußert.

Dass der Gottesdienst als „Tankstelle“ verstanden wird, also zur Stillung meiner persönlichen Bedürfnisse nach Ruhe, Erbauung und Anregung dienen soll, hat seine Ursache aus meiner Sicht in einem niedrigschwelligen Anspruch. Es ist eine Frage des geistlichen Lebens, sich zu einem immer weiter vertiefenden Begreifen, also innerlichem Verstehen des liturgischen Geschehens fortzuarbeiten. Ich möchte dazu auf eine Unterscheidung hinweisen, die C.S. Lewis in seinem bemerkenswerten Buch über die verschiedenen Formen der Liebe gemacht hat.[2] Lewis unterscheidet drei Vor-Formen der Liebe. Das erste ist die bedürftige Liebe, also die Liebe, die eingefordert wird, um ein bestimmtes Bedürfnis, ein Begehren zu stillen. Das einfachste Beispiel ist das Begehren eines Durstigen nach einem Schluck Wasser. In der Gottesbeziehung nennt Lewis den Ruf nach Gott aus einer bestimmten Not oder einem Bedürfnis heraus. Ich rufe nach Gott, wenn ich Hilfe brauche. Sprechen wir beim Gottesdienst von der Erfüllung eines Zweckes, also mich zu erbauen, mich zu trösten, mir gute Gedanken zu geben, könnte man dies unter dem Stichwort der „bedürftigen Liebe“ einordnen. Dies bedeutet zugleich auch eine anlassbezogene Relevanz des Gottesdienstes. Viele Leute verfahren nach diesem Prinzip. Der Weihnachtsgottesdienst wird aus nostalgischen Gründen besucht, oder weil es für meine weihnachtliche Gestimmtheit wichtig ist, die Trauerfeier, weil sie mich tröstet, der meditative Gottesdienst, weil er mich zur Ruhe kommen lässt, das feierliche Orchester-Hochamt, weil die Musik darin mich erhebt. Gegen die Bedürfnisse ist nichts zu sagen, spiegeln sie doch immer auch ein häufig implizites spirituelles Bedürfnis. Trost, Ruhe, feierliche Stimmung, Rührung oder Erbauung können Wirkungen einer häufig unausgesprochenen Gottesbegegnung sein.

Die zweite Art der Liebe ist für Lewis die „schenkende Liebe“. Das einfachste Beispiel dafür ist, wenn ich für einen anderen etwas tue, weil er mir wichtig ist. Für den Gottesdienst äußert sich diese Form im bereits im Wort enthaltenen „Dienst“. Der Gedanke ist: Ich reserviere (in alter Diktion „ich opfere“) etwas von meiner Zeit für Gott und gebe auf diese Weise aus Dankbarkeit oder aus einem anderen Bedürfnis etwas „zurück“. Dabei wird sich der Hauptbestandteil des „Gottesdienstes“ auf mein tägliches Leben und Handeln aus dem Glauben beziehen, aber auch die Pflege regelmäßiger Zeiten für das Gebet und die Liturgie gehören in diese Form des Dienstes. Regelmäßige Gottesdienstbesucher haben häufig diesen Gedanken mit im Hinterkopf. Der Gottesdienst ist im besten Sinn eine „Pflicht“. In einem solchen Verständnis rücken die Fragen der Qualität des Gottesdienstes eher in den Hintergrund, wichtiger ist die Gegebenheit von zeitlichen und örtlichen Möglichkeiten zu regelmäßigen Gottesdienstteilnahme. Wichtig ist zudem der verlässliche Ritus, der sich mal mehr, mal weniger mit darüberhinausgehenden „benefits“ wie einer guten Predigt oder einer besonderen musikalischen Gestaltung anreichern kann.

Die dritte Form der Liebe nennt C.S. Lewis die „wertschätzende Liebe“. In ihr geht es um eine weitgehend zweckfreie Liebe. Ich mag oder liebe etwas, weil es da ist oder so ist, wie es ist. Ein einfaches Beispiel ist die Liebe zur Natur oder die Liebe zur Musik. Auch diese Dinge werden mir sicher einige Zwecke erfüllen (etwa, dass ich abschalten kann oder dass ich zum Nachdenken komme), aber das ist nicht der Kern dieser Liebe. Sie ist ein sich-hingezogen-Fühlen, das auch bestehen bleibt, wenn sich ein bestimmter Zweck oder eine bestimmte Wirkung einmal nicht einstellt. Die Musik bleibt auch dann liebenswert, wenn ihre konkrete Ausführung misslingt, die Natur auch dann, wenn ich mich bei schlechtem Wetter im Wald verlaufe. Sie tragen in sich einen eigenständigen Wert, um deretwillen sie geschätzt oder geliebt werden. Für den Gottesdienst bedeutet dies, dass dieser einen Wert gewinnt, der über einen bestimmten Zweck oder die Erfüllung einer Pflicht hinausreicht. Wer Gott als einen Wert an sich anerkennt und erfährt, wird immer wieder seine Nähe suchen, unabhängig davon, ob die einzelne Begegnung im Gebet, der Meditation oder dem Gottesdienst „gelingt“. Der Gottesdienst wird zu einem inneren zweckfreien Bedürfnis. Im Kern geht es darum, Gott zu loben und zu preisen, weil er da ist. Diese Form der Gottesbeziehung braucht eine Zeit der Reifung und braucht die Erfahrung einer gestillten Sehnsucht nach Gott. Der Gottesdienst wird so zu einer einfachen Teilhabe am Lob Gottes.

Aus meiner Sicht muss eine „Gestaltung“ des Gottesdienstes auf ein solch vertieftes Verständnis im Sinne der dritten Form der Liebe hinzielen. Theologisch spricht man von „Mystagogie“. Die anderen Formen der Motivation zum Gottesdienst bleiben wichtige Elemente, die allerdings der Vervollständigung bedürfen. Somit wird der Gottesdienst nicht zur „Tankstelle“ sondern eher zu einem Ort, den ich immer wieder aufsuche, weil er mir in sich wertvoll und wichtig ist. Er ließe sich dann mit einem Garten, mit einem gastlichen Haus oder einem anderen Sehnsuchtsort vergleichen. Der Gedanke an Benzingeruch sollte hier nicht mehr aufkommen.         


[1] https://www.deutschlandfunk.de/streitgespraech-zum-protestantismus-ist-die-evangelische.886.de.html?dram:article_id=444865

[2] C.S. Lewis, was man Liebe nennt, Basel 1998 (1960), besonders Kapitel II.

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