Von Rainer Maria Rilke gibt es ein berühmtes Gedicht. Eigentlich ist es weniger ein Gedicht, als vielmehr eine Betrachtung, eine Meditation. Sie entstand aus der Begegnung des Dichters mit einer griechischen Statue. Sie zeigte den Apollos, den griechischen Gott der Schönheit und Künste. Von dieser Statue gab es nur noch ein Fragment: Der Körper war erhalten geblieben, Kopf, Arme und Beine fehlten. Rilke betrachtet diesen Torso und ist von der Schönheit des Körpers ganz gefangengenommen: Soviel an Stärke und Perfektion, an archaischer, also ursprünglicher Kraft und Anmut. Die Begegnung mit der Statue ruft bei Rilke offensichtlich eine tiefe Bewegung hervor. Er beendet seine Betrachtung mit den Worten: „Du musst dein Leben ändern!“ Eine solche Schlussforderung überrascht. Wie kann mich ein Stück Stein dazu auffordern, mein Leben zu verändern? Wir müssten Rilke fragen, wie er das gemeint hat. Wahrscheinlich steckt dahinter aber eine philosophische Überzeugung. Die Begegnung mit einer vollkommenen Schönheit, führt mir ein Ideal vor Augen. Es entlarvt meine eigene Unvollkommenheit. Angesichts dessen, was ich sein könnte, habe ich den Impuls mein Leben mit Blick auf die höhere Schönheit zu verändern. Damit ist nicht nur äußere Schönheit gemeint, sondern die Vervollkommnung meines ganzen Wesens.
Angesichts des heutigen Evangeliums könnte man meinen, dass wir es hier bei den Jüngern mit einer ganz ähnlichen Erfahrung zu tun haben:
In jener Zeit, als Jesus am Ufer des Sees Gennesaret stand, drängte sich das Volk um ihn und wollte das Wort Gottes hören.
Da sah er zwei Boote am Ufer liegen. Die Fischer waren ausgestiegen und wuschen ihre Netze. Jesus stieg in das Boot, das dem Simon gehörte, und bat ihn, ein Stück weit vom Land wegzufahren. Dann setzte er sich und lehrte das Volk vom Boot aus.
Als er seine Rede beendet hatte, sagte er zu Simon: Fahr hinaus auf den See! Dort werft eure Netze zum Fang aus! Simon antwortete ihm: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen. Doch wenn du es sagst, werde ich die Netze auswerfen.
Das taten sie, und sie fingen eine so große Menge Fische, dass ihre Netze zu reißen drohten. Deshalb winkten sie ihren Gefährten im anderen Boot, sie sollten kommen und ihnen helfen. Sie kamen, und gemeinsam füllten sie beide Boote bis zum Rand, so dass sie fast untergingen.
Als Simon Petrus das sah, fiel er Jesus zu Füßen und sagte: Herr, geh weg von mir; ich bin ein Sünder. Denn er und alle seine Begleiter waren erstaunt und erschrocken, weil sie so viele Fische gefangen hatten; ebenso ging es Jakobus und Johannes, den Söhnen des Zebedäus, die mit Simon zusammenarbeiteten. Da sagte Jesus zu Simon: Fürchte dich nicht! Von jetzt an wirst du Menschen fangen.
Und sie zogen die Boote an Land, ließen alles zurück und folgten ihm nach. (Lk 5,1-11)
Es wird berichtet, wie Jesus am Ufer des Sees auf Fischer trifft. Am Ende dieser Begegnung heißt es: Und sie zogen die Boote an Land, ließen alles zurück und folgten ihm nach. Offensichtlich hat die Begegnung mit Jesus sie von jetzt auf gleich verändert. Sie haben in diesem Moment gewusst: „Du musst dein Leben ändern“. Angesichts dessen, was ihnen der gemeinsame Weg mit Jesus verspricht, ist ein einfaches Weitermachen offensichtlich nicht möglich.
Was hier stattfindet ist ein radikaler Wechsel in der Lebensform. Ein solcher Wechsel ist eigentlich ziemlich modern. Der Imperativ „Du musst dein Leben ändern!“ durchzieht die Ratgeberliteratur. Er reagiert auf die Sehnsucht vieler Menschen, die mit ihrem Leben, mit ihrem Alltag nicht zufrieden sind. Eine Veränderung verheißt zunächst einmal eine Abwechslung vom Alltag. Die Talkshows und Bestsellerlisten sind voll von Aus- und Umsteigerstorys: Der ehemalige Top-Manager, der jetzt einen Bio-Bauernhof betreibt, die Marketing-Fachfrau, die in ein buddhistisches Kloster eingetreten ist, die Familie, die ihr bisheriges Umfeld verlassen hat und einen Neuanfang in Neuseeland wagt usw. Solche Geschichten sind anziehend. Sie erzählen von der Suche der Menschen nach Glück und nach Vervollkommnung und Vertiefung ihres Lebens. Und sind wir ehrlich: Die Geschichte der galiläischen Fischer, die zu Menschenfischern werden und als Apostel und Lehrer zu Weltruhm gelangen, klingt ähnlich und wird auch in der Kirche gerne als Erfolgsgeschichte einer radikalen Lebenswende erzählt. Das Ideal der Berufung scheint zu sein, alles aufzugeben und nur noch Jesus nachzufolgen. Damit gewinnt die Berufung unzweifelhaft an Farbe, wird spektakulär, aber gleichzeitig doch auch für den normalen Christen irgendwie unerreichbar.
Im Evangelium steckt allerdings noch eine andere Geschichte. Der Ausgangspunkt für den Lebenswandel der galiläischen Fischer ist eine Erfahrung ihres täglichen Lebens. Sie lassen sich von Jesus überreden, trotz des vorherigen Misserfolgs beim Fischen, noch einmal auf den See zu fahren. Sie machen einen unerwartet großen Fang. Es ist offensichtlich diese Erfahrung, die bei ihnen etwas verändert. Hier ist jemand, der ihnen an Weisheit überlegen ist. Das Fischen ist dabei ein Symbol für das ganze Leben. Wer sich Jesus als Weisheit Gottes anvertraut, dessen Leben gewinnt an Reichtum. Es ist eine Andeutung des Lebens in Fülle, das Jesus den Menschen verheißt. Das Leben verändert sich. Es gewinnt an Gottesnähe und damit an Weite und Tiefe, an Intensität und Liebe.
Es ist genau diese Geschichte, die Menschen erzählen, deren Leben sich änderte, häufig nicht aus freiem Willen sondern gerade aus den Notwendigkeiten des Alltags heraus. Es ist eine Geschichte wie die von Ines Gillmeister und ihrer Familie. Ihr Mann hatte mit Mitte Dreißig die Diagnose „Blutkrebs“ bekommen. Von diesem Moment an musste sich das Leben der Familie radikal ändern. Frau Gillmeister berichtete in einem eigenen Blog über das Leben mit der Krankheit und die Art und Weise, wie die Familie damit zu leben lernte. Bei aller Traurigkeit und allem Auf und Ab, berichtet sie, dass das Leben nicht bloß einfach eine negative Veränderung erfährt. Sie sagt im Nachgang: Diese Jahre waren schlimm, aber sie haben auch gleichzeitig dazu geführt, dass wir so intensiv gelebt haben, wie nie zuvor. Sie berichtet von den Leiden und den Freuden in dieser Zeit und davon, wie die Liebe zueinander stärker wurde, wie sie das Leben bewusster lebten und achtsamer. Es ist ein Bericht wie er mir häufiger erzählt wird von Menschen, die eine solch schmerzhafte Zeit der Veränderung erfahren haben, weil sie einen geliebten Menschen gepflegt und in der Krankheit begleitet haben. Sie erzählen von einer Zeit, die auf der einen Seite furchtbar war, auf der anderen Seite das Leben in eine nicht geahnte Tiefe geführt hat. Das, was schon da war, die gegenseitige Liebe, die Achtung des anderen, die gegenseitige Bewunderung und Dankbarkeit füreinander, das gemeinsame Leben des Alltags, alles das ist tiefer geworden und weiter. Wie schön wäre es, wenn diese Erfahrung schon möglich wäre, ohne, dass erst etwas Schreckliches geschehen muss. Das Leben in Fülle ist uns verheißen, auch dort, wo wir gerade sind und stehen. Es braucht nicht zuerst einen radikalen Schnitt, sondern eine Vertiefung.
Das ist zunächst eine allgemein menschliche Erfahrung. Ich darf sie aber auch religiös deuten. Es ist im Tiefsten die Erfahrung von Gnade, einem Reichtum, den Gott uns Menschen anbietet. „Du musst dein Leben ändern“. Rilke ist auf diesen Satz gekommen, als er auf eine antike Götterstatue von vollkommener Schönheit angeschaut hat. Wir schauen auf ein Gottesbild, das sich im Leiden eines Gekreuzigten zeigt. Das ist ein wichtiger Unterschied. Der Anspruch, der vom Gekreuzigten ausgeht kann der gleiche sein: „Du musst dein Leben ändern!“ Aber es ist keine Veränderung, die auf eine Selbstoptimierung aus ist. Es ist nicht eine Veränderung die sagt: Du musst dein Leben netter, spannender, ereignisreicher, entspannter oder hübscher machen. Es ist eine Veränderung, die auf den wahren Wert des Lebens zielt. Das Kreuz ist Zeichen zugleich des Leidens, als auch der Erlösung. Es verweist auf die Tiefe, mit der Gott unser Leben auch durch die Tiefen und die Schmerzen tragen möchte. Es verweist auf den anderen, auf die Zerbrechlichkeit und Not des anderen, aber zugleich auf seine Liebenswürdigkeit und seinen Wert, den kein Leiden zerbrechen kann. Die Gnade ist nicht etwas, dass das Leben auf Hochglanz poliert, sondern sie ist Treue und Stärke, die Gott uns Menschen gibt, Hoffnung und Liebe, die unser zerbrechliches Dasein unterfängt. Sie ist Botin des tragenden Fundaments unseres Lebens und Andeutung von Erlösung und Herrlichkeit. Wir wissen nicht, was davon die galiläischen Fischer bei ihrem Aufbruch schon geahnt haben. Sicher aber ist, dass erst die Erfahrung von Leiden und Auferstehung sie zu dem gebracht haben, was sie später wurden, Zeugen, Boten, Apostel, Künder einer Wahrheit, in der uns das Leben in Fülle verheißen ist.