Wo fühlen Sie sich zu Hause? Eine leichte Frage auf den ersten Blick. Zu Hause bin ich da, wo ich wohne, in meiner Wohnung, in meiner Stadt, in meinem Land. Mit „zu Hause“ verbindet sich in der Regel ein Ort, oder auch mehrere Orte. Als nächstes würden Sie vielleicht sagen: zu Hause bin ich bei meiner Familie oder bei meinen Freunden, in meiner Gemeinde, meiner Partei oder in meinem Verein. „Zu Hause“ ist eine soziale Bezeichnung, die mir meiner Herkunft, Geschichte, mit den Menschen zu tun hat, mit denen ich teilweise über lange Zeiten unterwegs bin oder gewesen bin. In ihrer Gegenwart fühle ich mich beheimatet. Ich könnte jetzt noch einmal nachfragen: „Wo fühlen Sie sich zu Hause“ und nach etwas Überlegen könnten Sie vielleicht sagen: Zu Hause bin ich in meinem Fachgebiet, in meinen Interessen und meiner Muttersprache. Das ist ein eher übertragener Sinn, aber nicht von der Hand zu weisen. Dieses „Heimatgefühl kennen Sie sicherlich“ – sie treffen auf einer Fortbildung Menschen, die ihren Beruf haben und sind sofort in Fachgespräche vertieft, oder sie begegnen auf einer Feier jemandem, der genau Ihre Leidenschaft für ihren Lieblingsverein teilt, so dass sie ganz leicht mit ihm ins Gespräch kommen, jemand braucht von Ihnen einen fachlichen Rat, den sie ihm sofort vermitteln können. Sie sind im Urlaub in einem fremden Land und auf einmal spricht sie jemand auf Deutsch an. Sie fühlen sich sofort sicherer. Eine besondere Form von „zu Hause“ habe ich schon häufiger erlebt. Ich bin in einem fernen Land, etwa in Afrika unterwegs und besuche am Sonntag die Hl. Messe. Auf einmal bin ich zu Hause, auch ohne, dass ich die Sprache verstehen würde. Ich bin auf den gleichen Glauben und auf den vertrauten Ritus des Gottesdienstes gestoßen.
„Zu Hause“ sein ist also eine vielgestaltige Erfahrung, vielleicht ist es eher so etwas wie ein Lebensgefühl, eine Mischung von Sicherheit, Vertrautheit, Verlässlichkeit, Erfahrung, Erinnerungen, freundschaftlicher Verbundenheit und Sympathie. Das alles macht das Gefühl von Heimat aus. Dieses Gefühl ist flüchtig, es lässt sich nicht an bestimmte Faktoren binden. Sie kennen wahrscheinlich dieses Heimatgefühl, aber sie kennen es bestimmt auch, wenn dieses Heimatgefühl der Fremde begegnet. Heimat und Fremde schließen sich nicht aus. Ich hatte es eben schon angedeutet: Sie sind z.B. das erste Mal in ihrem Leben in den Vereinigten Staaten und fühlen sich furchtbar fremd und verloren. In dem Moment, wo sie dort allerdings alte Freunde besuchen kommen Fremde und Heimat auf einmal zusammen und sie fühlen sich zu Hause, obwohl sie es nach Ihrer eigenen Einschätzung gar nicht sind. Ein anderes Beispiel: Sie besuchen den Ort Ihrer Kindheit – der ist normalerweise der Inbegriff von Heimat, aber ihr Elternhaus ist verlassen, einige Orte ihrer Kindheit gibt es nicht mehr – und auf einmal fühlen Sie sich fremd, obwohl sie doch eigentlich zu Hause sind. Oder sie besuchen z.B. ihre Schwester, die sie schon lange nicht mehr gesehen haben. Sie erkennen den Ort und die Personen wieder, aber sie stellen fest, dass sie einander fremd geworden sind und sich nur noch wenig zu sagen haben.
Die Heimat und die Fremde liegen eng beieinander. Mehr noch, diese beiden Lebensgefühle begegnen und durchdringen sich. Ich möchte über diese Erfahrung sprechen. Zum einen handelt es sich um eine sehr menschliche Erfahrung, dann aber auch um eine besondere Erfahrung im Glauben und nicht zuletzt ist es eine Erfahrung der Kirche in der Welt von heute, in der uns vieles befremdlich vorkommt, und ich häufiger die Frage höre, ob wir als Christen in unserer Gesellschaft noch wirklich zu Hause sein können und wie wir mit dem Fremden und auch den Fremden umgehen sollen, das bzw. die bei uns ankommen.
Ich gehe dabei aus von der Erfahrung des Apostels Paulus aus. Kaum einer hat wie er das Gefühl der Fremdheit so stark zum Ausdruck gebracht. Das hat mir seiner Geschichte zu tun. Nur zur Erinnerung: Nachdem Paulus zunächst ein Verfolger der Christen gewesen war, hatte er eine umstürzende Erfahrung der Begegnung mit dem Auferstandenen. Von diesem Moment an hat er für sich erkannt, was wahr ist und setzt sein Leben dafür ein, den Glauben überall zu verkünden. Nur noch Christus möchte er dienen. Alles andere achtet er für gering im Vergleich zum Glauben an ihn. Im Glauben hat Paulus seine Heimat und fühlt sich folglich dort zu Hause, wo dieser Glaube gelebt und verkündet wird. Unsere wirkliche Heimat, so sagt es Paulus, ist im Himmel und so lange sind wir in der Fremde unterwegs (Phil 3,20). Das Bild des Pilgers auf fremder Erde, der der ewigen Heimat entgegenzieht, wie es später dann im Kirchenlied verarbeitet wird, ist hier grundgelegt. Andere Schriften im Neuen Testament führen den Gedanken weiter: Die Christen sind beheimatet im Glauben und sehen sich Welt gegenüber, die ihrem Glauben gegenüber ablehnend und gleichgültig ist (1 Joh 3,1ff.).
Ich vermute dieses Gefühl von Heimat und Fremde im Glauben hat die ersten Generationen der Christen sehr intensiv geprägt. Kein Wunder: Sie standen in einer Gesellschaft, der Gesellschaft des römischen Reiches, die der unseren heute in einigen Dingen sogar recht ähnlich war. Sie können ja beim Folgenden einmal den Vergleich zu unserer heutigen westlichen Welt ziehen. Das römische Reich verdankte seinen Reichtum und seine große Ausdehnung vor allem drei Faktoren: einmal einer überlegenen militärischen Macht, der modernsten und leistungsstärksten Armee der damaligen Welt, dann seiner zivilisatorischen Leistungen, zu denen eine überlegene Technik und Baukunst gehörte, ein gutes Verkehrs- und Kommunikationswesen, eine effiziente Verwaltung, Bildungseinrichtungen und eine populäre Sport, Fitness- und Unterhaltungskultur. Alles dies wurde in den eroberten Provinzen als fortschrittlich und begehrenswert angesehen.
Der dritte Faktor ist für unsere Betrachtung besonders interessant: Es ist eine geschickte Innenpolitik in den eroberten Provinzen. Wie konnte man ein Reich dass sich zur Zeit des Paulus vom heutigen Marokko und Spanien bis ans kaspische Meer, vom heutigen Belgien bis zum heutigen Nordsudan erstreckte zusammenhalten? Wie gelang es, die vielen Völker, Volksgruppen und Religionen ruhig zu stellen? Sicher, die Römer waren Eroberer, sie waren Ausbeuter ihrer Kolonien, sie waren Unterdrücker und konnten brutal auf Störungen reagieren. Aber sie pflegten eine geschickte Toleranz. Sie ließen den eroberten Völkern zum großen Teil ihre Eigenständigkeiten. Sie bekämpften die einheimische Kultur und vor allem die einheimische Religion nicht. Religiös durfte jeder nach seiner Façon selig werden – hier war man großzügig. In der Stadt Rom fanden sich daher die unterschiedlichsten Religionen und Kulte wieder, römische und griechische, persische, syrische, germanische, ägyptische und natürlich auch Juden und eine Gruppe von frühen Christen. Die einzige Bedingung für die Religionen und Volksgruppen war: Sie mussten sich dem römischen Staat gegenüber friedlich verhalten und ein bestimmtes Maß an Staatsbürgerlichkeit teilen. Der Kaiserkult war hier das Entscheidende. Durch Opfergaben und Ergebenheitsgesten an Statuen des Kaisers, durch Staatsfeste und einiges mehr sollte Solidarität und Identifikation mit dem römischen Staat zum Ausdruck kommen, etwa so als wenn moderne Staaten fordern, dass sich ihre Minderheiten zu den Grundwerten einer Gesellschaft, zu ihrer Verfassung und Sprache bekennen sollen. Solange dies geschieht, drohen ihnen keine Schwierigkeiten, andernfalls kann der Staat sehr unangenehm werden. So kam es in römischer Zeit zur Christenverfolgung dort, wo der Staatskult aus religiösen Gründen verweigert wurde.
In einem solchen Umfeld also ist Paulus als Missionar unterwegs. Er verkündet seine Botschaft in der Regel in einem religiös liberalisierten Umfeld. Die Botschaft vom Gekreuzigten Auferstandenen ist eine von vielen religiösen Botschaften und eine anstößige dazu: Die Juden ärgern sich über diese Botschaft einer zunächst kleinen Abspaltung ihrer eigenen Religion. Das Bild des Gekreuzigten passt nicht zu ihren Vorstellungen vom Messias, dem endzeitlichen König Israels. Die Heiden, also alle anderen, empfinden die Botschaft als eine Torheit. Der christliche Glaube passt nicht so recht in sein Umfeld, er ist mit seiner Lehre von Anfang an ein Fremdkörper. Wer im Glauben an Christus zu Hause, für den ist also die Welt fremd und umgekehrt, könnte man sagen. Glaube und Welt stimmen nicht zu einem Heimatgefühl zusammen
Die Parallelen dazu in unserer Zeit zu sehen ist nicht schwer. Erst vor kurzem haben mir einige Jugendliche erzählt, die sich auf die Firmung vorbereiteten, dass sie sich selbst auf einer christlichen Schule für ihren Glauben rechtfertigen müssen. In ihrer Klasse, so sagten sie, gäbe es auch kaum Verständnis dafür, dass sie sonntags zur Kirche gehen. Ein Mitbruder, der Pfarrer in Hamburg ist, erzählte mir, dass er sich über die geringe Zahl von Beerdigungen in seiner Pfarrei gewundert hatte. Als er beim Friedhof nachfragte, bekam er die Auskunft, dass mittlerweile nur noch die Hälfte aller Bestattungen mit Trauerfeier wären, und von dieser Hälfte nur noch ein Viertel mit kirchlicher Trauerfeier. Die traditionelle Verbindung von Kirche und Beerdigung ist in der mittleren Generation bereits aufgekündigt worden. Das sind nur kleine Hinweise, für uns in der Diaspora auch nicht wirklich überraschend, aber sie tun doch weh. Und auch dort, wo der katholische Glaube noch viel stärker beheimatet war erzählen die Priester mittlerweile von einer Aushöhlung der Rituale, so dass bei der örtlichen Kirmes zwar das Volksfest, nicht aber mehr die dazugehörige Festmesse besucht wird. Der Glaube wird zum Fremdkörper in einer vielgestaltigen manchmal erschreckend unorientierten Welt und überzeugte Christen fragen sich, ob sie mit ihrem heimatlichen Glauben nicht, ohne dass sie es gemerkt hätten schon längst in ein fremdes Land ausgewandert sind.
Der kanadische Philosoph Charles Taylor hat diese Bewegung in der westlichen Welt reflektiert. Er sieht zwei wesentliche Kennzeichen, die ihn beunruhigen: die Individualisierung und die instrumentelle Vernunft[1]. In Bezug auf den Glauben bedeutet dies, dass auch die Fragen der Religion immer individueller beantwortet werden. Es herrscht eine große geistliche Liberalität, da der Glaube nicht mehr einheitlich von der Gemeinschaft getragen wird. Ähnlich wie damals im römischen Reich begegnen uns heute wieder alle möglichen Formen und Kulte, nicht nur durch den Islam, sondern auch durch allerhand Mischreligiösitäten mit ihren Anleihen an Buddhismus, Esoterik oder Astrologie. Auch innerhalb unserer Glaubensgemeinschaft nimmt die Ausübung des Glaubens individualisierte Züge und Mischformen an. Damit sinkt die Bereitschaft, klare Trennlinien zu ziehen. Die konfessionellen Grenzen verwischen. Kirchengebote und feste Riten finden immer weniger Akzeptanz.
Eine Folge davon ist die von Taylor so benannte „Instrumentelle Vernunft“. Er meint damit: Dadurch dass es keine verbindlichen Zusammenhänge und Gemeinschaftsnormen mehr gibt, kein einheitliches Weltbild, geraten die Dinge aus ihrem Zusammenhang. Ich kann die verschiedenen Bestandteile, die eigentlich zusammengehörten, so einsetzen, wie sie für mich dienlich sind, oder wie sie mir besser gefällt. Menschen bauen ihren Glauben und ihr Denken so, wie es die Technik mit ihren Produkten tut, nämlich so, dass sie den höchsten Nutzen bringen. Die Leitfrage ist wieder: „Was bringt mir das?“. Bezogen auf den Glauben an Jesus Christus heißt das: dieser Glaube ist häufig wieder ein Fremdkörper, denn er hängt zusammen mit festen Glaubenssätzen, mit bestimmten Riten und Gewohnheiten, mit Umkehr und Beichte und mit bestimmten moralischen Regeln. Und ein zweiter großer Einwand gegen den christlichen Glauben taucht ebenfalls auf: „Was sollen wir mit einer Religion des Gekreuzigten, wo wir doch unsere wirksamen Schutzmächte gegen die Schwierigkeiten der Welt haben?“ Solche Schutzmächte sind vor allem technischer Natur, man denke nur an die Medizin und an die Kommunikationselektronik. Zu diesen Schutzmächten gehört der ungebremste Konsum, der zum Ausweis des Erfolges und damit zum Ziel eines erfolgreichen Lebens wird. Es ist genauso mühsam für uns heute, wie für Paulus damals, den Glauben tatsächlich so zu verkünden, dass in ihm der Nutzen auch gesehen wird und dass Menschen Stück für Stück immer tiefer in diesen Glauben hineinwachsen können. Wir leben in einer Gesellschaft, die eigentlich mit sich selbst zufrieden ist. Der Glaube stellt diese Welt wieder in Frage, er ist anstrengend, teilweise unbequem und vor allem nicht so chic, so demokratisch, so gleichberechtigt, so liberal, so konsumorientiert und markttauglich, kurz gesagt, nicht so modern und fortschrittlich, wie es unsere Gesellschaft zu sein scheint.
Was soll ich also tun? Wie kann ich mich gegenüber einer meinem Glauben so fremden Welt gegenüber verhalten? Wie kommen das Gefühl von Heimat und Fremde wieder zusammen? Die Frage ist gar nicht abstrakt. Ich glaube, sie lässt sich leicht beantworten, wenn ich bei mir selber schaue: Wie verhalte ich mich in der Fremde, also etwa in einem fernen Land oder in fremder Gesellschaft. Ich bin dabei auf drei Wege gestoßen, die ich kurz skizzieren möchte.
Der erste Weg ist der Weg der Abgrenzung. Ich habe mich dabei ein meinen Studienanfang erinnert. Ich war damals das erste Mal richtig auf mich allein gestellt. Eine fremde Stadt, fremde Personen um mich herum, eine völlig neue Situation. Das hat mich verunsichert – wie sollte ich auf die Fremde reagieren. Damals hat mir geholfen, dass es die Gruppe der Mitstudenten gab, die mit mir gemeinsam angefangen haben. Mit ihnen hatte ich schnell Kontakt und so bildete sich ein kleiner Kreis, in dem wir in den ersten Wochen alles gemeinsam machten und uns auch in der Freizeit untereinander trafen. Eine solche kleine Gruppe gab mir Sicherheit, so dass ich die ersten Monate gut überleben konnte. Diesen Weg kennt die Kirche ganz gut – in einem schwierigen Umfeld sammeln sich die Gläubigen in ihren Gruppen und Gemeinden wie in einem Biotop, in kleinen Heimatgruppen mitten in der Fremde. In einigen Umfeldern entstanden geradezu Gegenwelten. In den USA etwa plant man gerade die erste rein christliche Retortenstadt, in der nur überzeugte Christen wohnen dürfen. Oder es gab in der Geschichte die Tendenz, alles was auf weltlich gab auch im kirchlichen Bereich nachzuahmen. So kam es im 19. Und 20. Jahrhundert dann zur Gründung christlicher Medien, die die staatlichen ersetzen sollten, zu christlichen Arbeitergruppen gegen die sozialistischen, zu christlichen Sportverbänden und Freizeitgruppen. Das Ziel: Man bleibt unter sich, lässt schädliche äußere Einflüsse nur wenig zu. Dieser Weg des Umgangs mit der Fremde ist in bestimmten Situationen notwendig und richtig. Er hat auch seine Nachteile: Der missionarische Auftrag der Kirche wird vernachlässigt, es entstehen manchmal auch stickige und wenig lebenswerte Gegenwelten, die irgendwann miefig und unangenehm sind. So manches Gemeindehaus gibt ja ästhetisches Zeugnis von einer solchen kirchlichen Welt. Und zum dritten wird der Gegensatz von Kirche und Welt weiter verstärkt und droht, ins Sektenhafte abzugleiten. Heimat ist dann irgendwann nur noch in der Gemeinde, Fremde überall außerhalb der Gemeinde.
Der zweite Weg zum Umgang mit der Fremde ist die Inklusion. Ich hatte in der Schule einen Freund, der seit einem Amerikabesuch ein begeisterter und überzeugter Amerikaner wurde. Er fand mit Begeisterung alles toll, was aus den USA kam, Burger und Barbecue, Basketball und Autofahren mit 16, amerikanische Politik und Nationalhymne usw. Man konnte ihm da keine Kritik entlocken. Bei ihm hatte die Fremde auf eine erstaunliche Weise gewirkt. Er hatte sie ganz aufgenommen, hatte die Fremde zu seiner neuen Heimat gemacht. Papst Benedikt hätte ein solches Verhalten im Bezug auf das Verhältnis von Glaube und Welt als Verweltlichung bezeichnet. Das gibt es in der Kirche auch – ich habe das eindrucksvoll auf dem evangelischen Kirchentag 2013 in Hamburg erlebt: Da wurden auf einmal die großen gesellschaftlichen Themen wie Energiewende, nachhaltige Landwirtschaft oder Gendergerechtigkeit zu genuin christlichen Themen. Nicht, dass ich mir als Christ dazu keine Meinung bilden sollte, aber die Themen der Welt unmittelbar in unsere christliche Botschaft hineinzulesen, ist sicherlich nicht richtig. Der Glaube bleibt immer in Teilen ein Gegenüber. Die Botschaft der Bibel ist über 2000 Jahre alt, sie kann nicht einfach von unserer vereinnahmt werden, so, als wäre unsere Generation die erste, die über sie richtig auslegen könnte. Und schließlich fordert der Glaube auch zur kritischen Distanz unserer Welt gegenüber auf, bildet ein Korrektiv zu manchem, was allzu zeitgeistig, modisch oder unreflektiert daherkommt.
Der dritte Weg heißt Dialog. Ich erinnere mich an meine erste große Erfahrung mit der Fremde. Ich war 17 Jahre alt und wir waren mit unserer Jugendgruppe auf einer Fahrt nach Norwegen. Es war für mich nicht das erste Mal im Ausland, aber das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, ziemlich weit weg von zu Hause zu sein. Bei einer Fahrt durch die wunderbare Landschaft Norwegens wurde mir aus einmal bewusst, dass ich fremd war, mehrere tausend Kilometer von zu Hause entfernt, frei und unabhängig, herausgehoben aus dem Alltag und meinen bisherigen Lebensbezügen. Ich habe diesen Augenblick genossen. Die Fremde hatte etwas Verlockendes und etwas Bedrohliches zugleich. Sie war eine Herausforderung geworden, an der ich mich gewissermaßen reiben konnte. Sie hatte Heimat (meine Jugendgruppe) und Verlassenheit in einem. Gewissermaßen sehe ich eine solche Situation häufig in unseren katholischen Einrichtungen, in Kindertagesstätten, Schulen und sozialen Institutionen. Hier reiben sich Heimat und Fremde, begegnen sich die verschiedenen Welten und kommen in den Austausch miteinander. Ich meine, dass wir dieses Potential an vielen Stellen noch gar nicht richtig erkannt haben und schätzen.
Wie ist es also, als Christ in unserer Gesellschaft zu leben? Hat dies nicht etwas von dem beschrieben norwegischen Gefühl, zu Hause und gleichzeitig in der Fremde zu sein. Zwei Heimaten zu haben, die sich manchmal nicht vertragen und verstehen wollen. Eine Welt, die bei aller Annehmlichkeit doch manchmal zu stark Ihren eigenen Regeln folgt, die ich kritisieren und ablehnen kann, die bei mir Unverständnis auslöst, die meinen Glauben und meine Lebensweise immer wieder in Frage stellt? Die mich aber zugleich herausfordert, mein Tun und Denken immer wieder zu reflektieren, mich in Frage stellen zu lassen, nach einem versöhnlichen Umgang zu suchen, in dem ich weder die Gesellschaft verneinen, noch meinen Glauben verlassen muss? Das zweite Vatikanische Konzil hat damals das Prinzip der Inkulturation für die Kirche neu entdeckt: Den Glauben im Zusammenhang mit einer bestimmten Kultur und Lebensart zu betrachten, vielfältige Glaubensstile innerhalb der weltweiten katholischen Gemeinschaft anzuerkennen und zu fördern. Keine Uniformität der Kirche sondern einen lebendigen und spannungsreichen Zusammenhang zwischen Kirche und Welt zu fördern. Ich glaube, dass dieser Gedanke für uns heute besonders wichtig geblieben ist. Übrigens auch schon bei Paulus: Er ist in seinem Ringen um Heimat und Fremde niemand, der sich von der Welt zurückzieht, sondern, im Gegenteil, die offensive Auseinandersetzungen sucht. Er ist Missionar, unermüdlich bemüht, den Glauben in seine Zeit hinein auszulegen, die Sprache und den Verstehenshorizont der Menschen damals nicht aus dem Blick zu verlieren. Denn er war überzeugt: „Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat“ (2 Kor 5, 19). Gott lässt die Welt nicht im Stich, sondern möchte in sie eingehen, um die Welt mit ihm zu versöhnen, die Spannung der Feindschaft, Sünde und Gottesfinsternis im Letzten aufheben und Versöhnen. Unser Ringen mit unserer Zeit, unser Glaube, unsere Hoffnung und unsere Liebe, die wir in unsere Zeit setzen, sind Beitrag zu diesem Werk. So werden wir mit Paulus zu dem, als was er sich selbst bezeichnet: zu Mitarbeitern Gottes. (2Kor 6,1).
[1] Taylor, Charles, Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt 1995, 8-15
Der Text stammt von einer Fastenpredigt am 01. März 2015 in Schwerin