Momo II, oder: Von Vätern und Pharisäern

Angesichts des Evangeliums des Sonntags (Mk 7, 1-23) möchte ich noch einmal auf die im vorherigen Artikel erörterte Momo-Thematik zurückkommen. Jesus befindet sich in einer harten Auseinandersetzung mit den Pharisäern. In Mk 7 und an anderen Stellen der Evangelien nimmt er eine gegensätzliche Position zu ihnen ein. Eigentlich ist das verwunderlich. Jesus und die Pharisäer verfolgen zu ihrer Zeit eigentlich ein ähnliches Ziel. Sie verkünden die Wiederherstellung des Volkes Israel. Die Pharisäer verweisen dazu auf die Notwendigkeit der Einhaltung des jüdischen Gesetztes. Das Gesetz, das in den sogenannten „fünf Büchern Mose“ schriftlichen Niederschlag fand, verdankt sich nach jüdisch-christlichem Glauben der göttlichen Offenbarung. Mose tritt während der Wüstenwanderung als Mittler zwischen Gott und Israel auf und empfängt auf dem Gottesberg die Weisungen, die er dem Volk weitergeben soll. Die Einhaltung des Gesetzes ist dabei nach dem Buch Deuteronomium nicht nur wichtig für die persönliche Lebensführung, also das, was man ein „gottgefälliges Leben“ nennen könnte. Sie hat darüber hinaus eine weltweite Bedeutung. Je mehr sich Israel an die göttliche Gesetzgebung hält, desto mehr wird durch das Beispiel des Gottesvolkes auch den anderen Völkern die Überlegenheit des Gottes Israels vor den anderen Göttern deutlich werden: „Denn welche große Nation hätte Götter, die ihr so nah sind, wie JHWH, unser Gott uns nah ist […] Oder welche große Nation besäße Gesetze und Rechtsvorschriften, die so gerecht sind wie alles in dieser Weisung [dem Gesetz], die ich [Mose] euch heute vorlege?“ (Dtn 4,7-8). Die Pharisäer nehmen diese Verheißungen auf. Das Gebot der Stunde ist, das Gesetz möglichst genau einzuhalten, es bis ins kleinste Komme zu kennen und zu befolgen. Wenn das geschieht, kann sich Gottes Plan zur Rettung des Volkes und der ganzen Welt erfüllen.

Wie könnte Jesus also etwas gegen das Wirken der Pharisäer haben, die vermutlich als „Missionare“ durch die Dörfer und Städte Galiläas und Judäas zogen, um das Gesetz zu neuem Leben zu bringen? Jesus formuliert im Evangelium einen gewaltigen Vorwurf. Er zitiert in seiner Replik an die Pharisäer den Propheten Jesaja: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit weg von mir. Es ist sinnlos, wie sie mich verehren; was sie lehren sind Satzungen von Menschen“ (Mk 7,6-7). Man könnte etwas vereinfacht sagen: „So wie ihr, liebe Pharisäer, das macht, hat es keinen Zweck“. Dabei ist Jesus gar nicht gegen das Gesetz, wie er an anderer Stelle deutlich macht (Mt 5,18). Die Befolgung des Gesetzes ist wichtig. Sie ist aber bei Jesus Ausdruck einer erneuerten Gottesbeziehung. Sie geschieht gewissermaßen „von innen“ und nicht durch die Buchstaben und die äußerliche Befolgung von Regeln. Die Mission Jesu in den synoptischen Evangelien (Markus, Matthäus, Lukas) lässt sich als eine Erneuerung der Menschen durch die Begegnung mit dem lebendigen Gott verstehen. Wer die Erfahrung der Heilung, Vergebung, Befreiung durch Gott macht, der wird auch seinen Willen verstehen können. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Zöllner Zachäus, der nach der Begegnung mit Jesus von sich aus erkennt, was er falsch gemacht hat und den entstandenen Schaden ausgleichen möchte. Er weiß, was zu tun ist. Man lernt also „das Gesetz“ nicht äußerlich durch das Studium seines Wortlauts, sondern durch innerliche Einsicht eines lebendigen Glaubens, einer Gottesbeziehung.

Damit taucht ein Grundproblem auf, das ich im vorherigen Artikel schon beschrieben hatte. In welcher Form findet sich die Kirche wieder? Im Zuge der kirchlichen Reform rund um das II. Vatikanische Konzil hatte man verstärkt Wert auf eben diese „persönlich“ gefärbte Glaubensnachfolge als Grundlage der kirchlichen Gemeinschaft gelegt. Sie wandte sich gegen eine Kirche, die allzu sehr von ihrem Regelwerk, ihren rechtlichen, moralischen und liturgischen Vorschriften, ihrer Tradition und Hierarchie her wahrgenommen wurde. Mitglied der Kirche zu sein sollte doch schließlich mehr sein als ein „Regelfolgen“, in der Hoffnung, dass die genaue Ausrichtung am „Gesetzeswerk“ schon den persönlichen Weg zum Heil bedeuten würde. Meine Kritik war, dass dieses „Regelfolgen“ in neuer Form unter dem Bestreben nach „Professionalisierung“ kirchlich wieder stärker propagiert wird und die Individualität des Glaubens und der Seelsorge immer weniger gefragt zu sein scheint. Ich hatte dazu das Beispiel des Romans „Momo“ von Michael Ende aufgenommen, in dem der Gegensatz von Effizienz und Individualität, von Gesetz und Weisheit metaphorisch dargestellt wird. Ich möchte jetzt noch einen Schritt weitergehen und werde nachher noch einmal auf „Momo“ zurückkommen.

Das pharisäische Verständnis des Gesetzes speist sich in erster Linie aus der Tradition. Die Pharisäer sind von der Gültigkeit des Gesetzes überzeugt, das Israel Jahrhunderte vorher übergeben wurde. Der Weg zu Gott liegt dann in einer genauen Erforschung und Auslegung des Textes, in der Eingliederung des Einzelnen in die Tradition des Volkes Israel. Wenn ich die Kritik Jesu richtig verstehe, besteht diese darin, dass eine solche Form der buchstäblichen Gesetztreue nicht „geistvoll“ ist. Sie ist vielleicht sogar „gottvergessen“, weil mit seinem Eingreifen, seiner Präsenz jenseits des Gesetzestextes im Grunde nicht mehr gerechnet wird. Jesus hingegen verdeutlicht in seinem Reden und Handeln, dass genau dies der Fall ist. Gott ist präsent und er ist wirksam, auch über den Buchstaben der einmal erlassenen Ordnung hinaus. Die Tradition läuft also ins Leere, wenn sie ihren Urheber nicht mehr wirklich kennt.

Franz Kafka hat in seinen Erzählungen und Romanen eine solche rätselhafte „pharisäische“ Welt dargestellt – natürlich in äußerster Zuspitzung. In „Das Schloss“ kommt ein Landvermesser zu einem mächtigen Herrschaftssitz. Er ist der Meinung, beim Fürsten des Schlosses wegen dessen Erteilung eines Auftrags an ihn vorsprechen zu müssen. Doch das Schloss entpuppt sich als undurchdringliches Labyrinth geheimnisvoller Hierarchien und Dienstvorschriften. Der Landvermesser kommt nie über die ersten Hierarchien hinaus. Er erkennt die Ausweglosigkeit seiner Situation. Nie wird er dem Fürsten zu Gesicht bekommen, noch nicht einmal einen seiner unmittelbaren Vertreter. Der Fürst ist eine unsichtbare Autorität. Man weiß nicht, ob er überhaupt existiert. Seine Verwaltung allerdings funktioniert glänzend bis ins kleinste Rädchen.

Der so berühmte wie strittige Rechtswissenschaftler Carl Schmitt erkannte in Kafkas Romanen das Spiegelbild einer „Gesetzes-Gesellschaft“, die die Rückbindung an den „Vater“, also den Urheber und Garanten des Gesetzes verloren hat.[1] An die Stelle der persönlichen Verantwortung einer nahbaren und hohen Autorität tritt die „Sachlichkeit“ des Gesetzes. In diesem Zustand transformiert sich Schmitts Ansicht nach eine Gesellschaft zu einer gesichtslosen, man könnte auch sagen, einer seelenlosen Regel-Gemeinschaft.

Der Autor Michael Ende bietet in „Momo“ genau den gegensätzlichen Entwurf an. Er führt eine dezidierte Vaterfigur ein. Momo begegnet Meister Hora, einem gütigen älteren Herrn, der außerhalb der sichtbaren Realität zu finden ist. In seiner Werkstatt lernt das Mädchen den Ursprung der Zeit kennen. Meister Hora lässt die „Stundenblumen“ entstehen, die Zeit, die jedem Menschen geschenkt wird. Es gibt hier also einen „der die Zeit in seinen Händen hält“ – eine sicher nicht ganz zufällige Anspielung auf einen gütigen Gott. Es ist dann auch der persönliche Kontakt zu Meister Hora, der Momo befähigt, als Mittlerin und Retterin die verlorene Zeit zu den Menschen zurückzubringen. Michael Ende erzählt bewusst oder unbewusst einen Erlösungsmythos. Um die übermächtigen Grauen Herrn zu besiegen, hält Meister Hora die Zeit an und schickt Momo mit einer Stundenblume auf den Weg. Die stillstehende Zeit raubt den Grauen Herren, die ja vom „Zeitverbrauch“ leben, ihre Lebensgrundlage. Momo dringt in die Zentrale der Zeitsparkasse ein und ihr gelingt es, den Tresor mit den „Zeitreserven“ zu verschließen. Die grauen Herren lösen sich in Nichts auf und Momo kann die eingesperrte Zeit in die Freiheit entlassen und den Menschen zurückgeben. Christlich gedeutet lässt sich hier eine Metapher für den Karsamstag erkennen. Der gestorbene Christus dringt in das Reich des Todes vor, hebt dessen Wirkmacht auf und entlässt (so die Osterikone), die im „Schatten des Todes Gefangenen“ in die Freiheit des ewigen Lebens.

Der Gegensatz zwischen „pharisäischer“ und „jesuanischer“ Verkündigung ist hier also bildhaft noch einmal deutlich geworden. Es geht um eine technische-traditionelle Heilssuche im Gegensatz zu einer geistvoll-persönlichen. Gekennzeichnet wird dieser Unterschied durch Nähe und Distanz zum „Vater“, also zu Gott selbst.

Man könnte an dieser Stelle Halt machen. Offensichtlich ist hier ein „richtiger“ und ein „falscher“ Weg markiert worden, der für das Christseins insgesamt und für die Kirche leitend ist. Aber ganz so einfach ist es nicht. Dies hat auch damit zu tun, dass alles was mit „väterlich“ markiert ist, heute unter Verdacht steht. Der Hang zur Verrechtlichung, der ja in weiten Teilen der modernen Gesellschaft zu beobachten ist hat seine Ursache natürlich auch in einer Autoritätskritik. Ein Gemeinwesen, das „von weißen alten Männern“ geführt wird, mit einem anderen Begriff „patriarchal“ ist, steht im Verdacht, auf Dauer einseitig und ungerecht zu werden. Die Bibel, das Christentum und besonders die Katholische Kirche steht in der Kritik, einseitig auf ein solches Leitmuster gesetzt zu haben. Stellvertretend für viele formuliert es der Philosoph Peter Sloterdijk. Er unterzieht die Gestalt Jesu einer kritischen Untersuchung.[2] Die Bibel, so Sloterdijk, zeichnet Jesus als einen radikalen Traditionsbrecher. Er unterbricht die Linie der natürlichen Abstammung, also der Familie, und bindet sich ganz an einen übernatürlichen Ursprung, eben seinen Vater. Jesus gibt sich damit in eine einseitige personale Abhängigkeit zu einem Gott, mit dem er sich bis ins letzte identifiziert (katholisch hat H.U. von Balthasar hier vom „Gehorsam“ Jesu gesprochen). Diese Form der „übernatürlichen“ Familienbildung führt Jesus fort, indem er seine Jünger in ebenso personaler Weise an sich bindet. Obwohl laut der Evangelien der Titel „Vater“ allein für Gott reserviert sein soll (Mt 23,9), entwickelt sich in der Kirchengeschichte eine ganze Folge von geistlichen Vaterschaften, für die die kirchliche Hierarchie, der Papst, die Bischöfe und Priester stehen.

Sloterdijk lässt hier einige Dinge außer Acht (etwa den jüdischen Kontext oder die Rolle Mariens), trifft aber einen wunden Punkt. Natürlich wird aus der Gottunmittelbarkeit Jesu, die natürlich einzigartig ist, eine neue Traditionslinie der Mittlergestalten, die die eigentliche Gottesbegegnung auch verschatten oder verhindern können. Dies war einer der reformatorischen Kernkritikpunkte, der im Laufe der Zeit natürlich dann auch wieder auf die evangelischen Kirchen zurückfiel. Auch in der Kirche gibt es damit die Gefahr des Pharisäertums, die zwischen der Botschaft, und den eigentlichen Urheber der Botschaft zahlreiche Zwischeninstanzen legen. Es gibt tatsächlich auch innerhalb der katholischen Kirche wieder eine Strömung, die daher auf die unmittelbare Ansprache durch Gott, die Bekehrung und Neufindung des Glaubens setzt. Entscheidend für die Kirche ist tatsächlich, dass die „Zwischeninstanzen“ der Sakramente, der Liturgie, der Moral, der Lehre, der Theologie, der Rechts und der Moral auf den Urheber hin transparent bleiben, in ihnen also eine Gottesbegegnung stattfinden kann. Sonst drohen zu Zustände wie in Kafkas „Schloss“, in dem der „Urheber“ hinter dem Netzwerk der Instanzen und Regeln unauffindbar bleibt.

Diese Gefahr bleibt latent bestehen. Die derzeitigen Reformbemühungen gehen dahin, das „Vater“-Prinzip der kirchlichen Ordnung zu verändern und in „demokratischeren“ Verfahren aufzubrechen. Das Unangenehme dieses an sich legitimen Anliegens ist derzeit nur, dass es zu einer weiteren Verrechtlichung und Verkomplizierung führt, die aus der an Verwaltung und Vorschriften ohnehin nicht armen Institution ein kafkasches „Schloss“ zu bauen droht. Bloß, weil man Hierarchien verändern möchte, sind sie damit nicht aus der Welt geschafft. Die Zwischeninstanzen wachsen sogar noch. Es müsste bei jeder Reform deutlich werden, dass sie dazu dient, den Zugang zum „Vater“, zum „Urheber“ erleichtert. Es müsste eine geistvolle Reform sein. An diesem Punkt sind wir noch lange nicht angekommen. Realistisch werden wir eine kirchliche „Momo“-Gesellschaft nicht erreichen. Wir sollten ihren Anspruch, den Wert der Unmittelbarkeit und des personalen Vetrauens allerdings nicht aus dem Blick verlieren. Das „Gremium“ wird das „Gegenüber“ nicht ersetzen können, die „Vorschrift“ nie das „gute Wort“, das dem Einzelnen zugesprochen wird.           


[1] S. hierzu: Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte, Berlin 2022 (1994), 231-234.

[2] Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, Berlin 2014, 278-311.

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