Im Rückblick wundere ich mich manchmal, wie umständlich meine Schulzeit gewesen sein muss. Ich erinnere mich noch ganz gut daran, wie ich in der neunten Klasse den Auftrag bekam, für das Fach Erdkunde ein Referat über die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland vor dem 2. Weltkrieg zu halten – ein Thema von dem ich keine Ahnung hatte. Zu Hause besaßen wir eine Ausgabe von Fischers Taschenlexikon. Darin gab es einige verwertbare Zeilen. In der Stadtbibliothek fand ich zwei Sachbücher, die mir nützlich zu sein schienen. Ich blätterte mich ziemlich hilflos durch die Seiten und stieß auf ein paar Abschnitte, die vom Thema handelten, die ich aber zunächst einmal verstehen musste. Ich schrieb mir ein paar Dinge heraus und ging mit dieser dünnen Materiallage in das Referat. Der Rest war Improvisation. Ich kann mir im Nachhinein nicht vorstellen, dass das Referat inhaltlich wirklich gut gewesen ist.
Etwa zehn Jahre später gab es die ersten leistungsstarken Suchmaschinen für das Internet. Danach kam Wikipedia. Der nächsten Schülergeneration wurde dadurch die Materialsuche deutlich vereinfacht. Heute geht es sogar noch besser. Im letzten Jahr kam „Chat GPT“ auf den Markt. Die Software sucht nicht bloß Material aus dem Internet, sie kann es auch verarbeiten. Bei „Chat GPT“ kann ich nun einfach den Befehl eingeben: „Schreibe mir ein Referat über die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands in der Zeit vor dem 2. Weltkrieg.“ Nach kurzer Zeit erhalte ich einen Text zurück. Die Ergebnisse sind erstaunlich gut. Der Text ist flüssig und in akzeptablem Deutsch geschrieben. Er umfasst alle für den normalen Verbraucher relevanten Punkte zum Thema.
Wahrscheinlich nicht mehr lange und ich kann „Chat GPT“ beauftragen, mein Leben zu ordnen: Die Software würde nun meinen Kalender, meine Fotos, meine Mails, meine Internetaktivitäten durchforsten. Sie würde mir meine optimale Zeit zum Schlafen ausrechnen, mich daran erinnern, bei wem ich mich einmal wieder melden sollte, meine Finanzen im Blick behalten, mir Tipps zur Ernährung und zur Optimierung meines Lebensstils geben und mir wahrscheinlich jeden Tag sagen, dass ich mit dem Rauchen aufhören soll. Vor allem aber würde mir die Software vorschlagen, was ich als nächstes lesen könnte, welchen Film ich anschauen sollte, welches Theaterstück besuchen. Sie würde mir Sonderangebote für Kleidung oder Reisen schicken.
Das kann alles sehr hilfreich sein. Es gibt nur ein Problem. Die Software weiß nur das, was an Daten da ist. Sie kann nicht mehr, als mein derzeitiges oder bisheriges digital erfassbares Leben zu analysieren. Was aber wäre, wenn ich einmal etwas ganz Unkalkulierbares tun möchte? Was passiert, wenn ich einmal ganz zufällig auf einen neuen Gedanken komme? Was ist mit den Menschen oder Tätigkeiten, die ich rein analog kenne und ausführe? Die Software und ihr verborgener Algorithmus machen nichts anderes als Sammeln, Zusammenstellen und neu arrangieren, also etwas, dass man im Englischen „samplen“ nennt.
Was wäre, wenn „Chat GPT“ die Welt erschaffen sollte? Am Anfang, so sagt es ja der Schöpfungsbericht, war das Chaos, die ungeordnete Materie. Die Software würde das Chaos erfassen und es ordnen. Immer neue Versionen vom Chaos. Immer neue Samples des Vorhandenen. Man kann sich Millionen Varianten von Chaos vorstellen. Es bleibt aber immer Chaos. Die Naturwissenschaften sagen, dass die Entstehung des Weltalls das Ergebnis eines unglaublich unwahrscheinlichen Samples von Materie sein könnte. Die Bibel sagt es anders. Sie sagt, dass die Schöpfung kein unglaublicher Zufall ist, sondern aus Wort und Geist Gottes entsteht. Die schöpferische Kraft Gottes besteht in einer unglaublichen Kraft, nämlich in der Kraft etwas völlig Neues zu schaffen.
Die Texte der Osternacht erzählen von genau dieser Kraft des unerwarteten Neuen. Sie beginnen mit dem großen Wunder der Schöpfung selbst. Dann kommt die Befreiung Israels, eines in Ägypten unterdrückten und marginalisierten Volkes, das durch wunderbare Errettung befreit und zu Gottes eigenem Volk erhoben wird. Jesaja erzählt von der verwüsteten Stadt Jerusalem, vom Ort ohne Zukunft, dem auf einmal ein völlig unerwartbares Neuentstehen verheißen wird. Ezechiel verheißt die Macht Gottes, die sogar das menschliche Herz erneuern kann. Aus dem toten, abgestumpften Leben soll wieder ein lebendiges, empfindsames, aufnahmefähiges werden. Und die Auferstehung ist nach der Schöpfung der Welt der zweite große und universale Schöpfungsakt Gottes, in dem die Grenzen des Lebens überwunden werden. Es bleibt nicht so wie es ist. Das Leben ist keine beständige Variation des ewig Gleichen, kein Sample.
Wir glauben, dass dem Menschen etwas von dieser schöpferischen Kraft Gottes gegeben wurde, dass sich in ihm etwas von Gott abbildet. „Schöpfen“, „Erschaffen“ heißt „creare“. Der Mensch ist „Kreatur“, insofern er geschaffen ist, aber auch, insofern er die Fähigkeit zum Erschaffen hat. Er verfügt über Kreativität, die Fähigkeit etwas Neues hervorzubringen. Es wäre ein Fehler, das „Samplen“, also das Zusammenstellen des Bekannten bereits als Ende der Kreativität zu verstehen. Die Schöpfungskraft geht darüber hinaus. Sie ist Improvisation, freies Spiel. Sie ist in einem Gedanken, den ich ganz aus mir selbst finde, sie ist in der Begegnung zu Menschen, die ich vorher nicht gekannt habe, in der Überschreitung einer Grenze, die mir gesetzt zu sein schien, im Durchbrechen einer Konvention, das nicht schon hundertfach wiederholt wurde, in der Befreiung aus der schlichten Nachahmung.
Als die Frauen am Morgen zum Grab kommen und es leer finden, heißt es: Sie „verließen […] das Grab und eilten voll Furcht und großer Freude zu seinen Jüngern, um ihnen die Botschaft zu verkünden.“ (Mt 28,9). Furcht und Freude zugleich. Das Neue, das eingetreten ist, verstört zunächst noch, ist nicht gleich verständlich, will erst langsam begriffen werden. Das Neue ist neu, unerhört und ungesehen, wie es jede wirkliche Neuschöpfung ist. Wer „samplet“, will verstanden und anerkannt werden. Wer wahrhaft schöpferisch ist, wird dadurch unverstanden und abgelehnt. Es braucht eine ganze Weile, bis die Osterbotschaft verstanden wird. Der Osterjubel bricht zunächst zögerlich und erst im Laufe der Zeit laut hervor. Schauen wir das Neue, versuchen wir es zu verstehen. Gott ist am Werk. Etwas Neues ist entstanden. Das Leben hat den Tod besiegt.
Beitragsbild: Eingangsportal von Le Corbusier an der Pilgerkirche von Ronchamp (Frankreich)
Wunderbar
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Guten Tag Herr Bergner,
…Die Bibel sagt es anders. Sie sagt, dass die Schöpfung kein unglaublicher Zufall ist, sondern aus Wort und Geist Gottes entsteht. Die schöpferische Kraft Gottes besteht in einer unglaublichen Kraft, nämlich in der Kraft etwas völlig Neues zu schaffen.
…. und ihrem, der Losung Wort…“Die Schöpfungskraft geht darüber hinaus. Sie ist Improvisation, freies Spiel. Sie ist in einem Gedanken, den ich ganz aus mir selbst finde, …“
Das Unnahbare in uns, im Kern, zum Menschen, zu seiner Geburt, in seiner unteilbaren Würde.
Das Unnahbare mit seinem „Auge“ schaut jeden Menschen, als gäbe es nur ihn und keinen anderen.
Die Seele, der Geist ist in uns, nicht da draussen.
mit freundlichen Grüßen
Hans Gamma
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Fundamentum rei et veritatis
nam umbraticis et velit
est anima
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