Das Wiedersehen

Wie kann ein Wiedersehen aussehen? Im Internet stoße ich immer einmal wieder auf kleine Videos, in denen ein Wiedersehen inszeniert wird. Eines dieser Videos zeigte das Folgende:

Ort ist eine Schule in den Vereinigten Staaten. Eine Schulklasse befindet sich im Unterricht. Der Direktor kommt unversehens in den Klassenraum. Er ruft einen Schüler aus, Brendon, und bittet ihn, zu sich zu kommen. Der Angesprochene, ein schlaksiger Jugendlicher von vielleicht 16 Jahren sieht sich fragend im Raum um. „Kannst du dir vorstellen, weswegen ich mit dir sprechen muss?“ Der Schüler schüttelt verunsichert den Kopf. „Es ist etwas sehr Wichtiges passiert.“ Der Direktor macht eine ernste Miene. Er weist den Schüler an, seine Sachen zu packen und mit ihm zu kommen. Der Junge, der gerade offensichtlich nicht versteht, was mit ihm geschieht packt seine Hefte und Bücher in seinen Rucksack und folgt dem Direktor mit hängenden Schultern. Draußen auf dem Flur halten die beiden an. Im Hintergrund öffnet sich eine Tür und ein Soldat kommt mit langsamen Schritten im Rücken des Schülers in den Raum. Im Video wird eine Schrift eingeblendet: „Brendon weiß noch nicht, was gleich passiert. Sein Bruder war für zwei Jahre in Afghanistan stationiert und ist wieder zurück gekommen.“ „Sieh dich um“, sagt der Direktor. Brendon, der verunsicherte Junge dreht sich zögerlich nach hinten, erblickt seinen Bruder und fällt ihm weinend um den Hals. In diesem Moment liegt offenbar nicht bloß reine Freude. Vielmehr löst sich in ihm die Sorge und Angst um den Bruder. Er hat den Krieg heil überstanden.

Von den ersten Begegnungen Jesu mit seinen Jüngern haben wir keine Videos. Die Evangelisten schildern diese Begegnungen allerdings so, dass sie die Leser mit in das Geschehen hinein nehmen. Wie ist es damals gewesen? Da ist ein verschlossener Raum. Die Jünger haben sich abgeschottet. Sie haben Angst vor der Menge, Angst vor dem Spott der Leute. Die Gruppe der Jünger erscheint als eine Schar der Gescheiterten. Trauer, Angst und Ratlosigkeit sind im Raum versammelt. Als Jesus eintritt, kommt er durch die verschlossenen Türen. Auf einmal ist er da. Die Jünger geraten in Furcht. Sie wissen die Erscheinung nicht zu deuten. Jesus spricht mit ihnen. Er zeigt ihnen seine Wunden und erst langsam löst sich die Angst in Freude und die Ratlosigkeit in neue Hoffnung auf. Mit Thomas, der beim ersten Treffen nicht dabei war, wiederholt sich das Geschehen.

Ernst Barlach, der berühmte Bildhauer, hat für diese Begegnung zwischen Thomas und Jesus eine ganz eigene Bildsprache gefunden. [Das Bild hier]. Sein Thomas ist ein alter, gebrochener Mann. Er kann sich kaum auf den eigenen Beinen halten, ist gebeugt und gebrechlich. Barlach gibt ihm das Aussehen eines armen Menschen seiner Zeit. Sein Thomas könnte ein Kriegsheimkehrer sein. Er könnte ein Verwundeter sein, oder ein Bettler auf der Straße. Dieser Thomas kommt nun Jesus ganz nah. Seine großen Hände umgreifen die Schultern Jesu. Dieser Jesus steht aufrecht. Aber auch er scheint Versehrter zu sein. Mit seinen Armen umgreift er den gebeugten Leib des Thomas und hält ihn aufrecht.

Barlach nannte seine Figurengruppe „Das Wiedersehen“. Hier begegnen sich zwei Menschen, denen das Leben schwer mitgespielt hat. Sie treffen sich wieder wie zwei alte Freunde nach einer langen Zeit der Entbehrung und des Leidens. Thomas schaut Jesus mit großen Augen an. Diesem Thomas mag man glauben, dass er Jesus zuerst nach seinen Wunden fragt. „Zeig mir deine Wunden und ich zeige dir meine“. In dieser Begegnung liegt die Hoffnung auf Heilung und die Hoffnung auf Frieden.

Die österliche Szene des Wiedersehens zwischen Thomas und Jesus wird hier, in Barlachs Deutung, eine Begegnung der stillen Art. Es geht in ihr um Erlösung. Hier heißt es nicht „Triumph, der Tod ist überwunden“, sondern eher „Durch seine Wunden sind wir geheilt“. Wir können in das österliche Bild die Gebeugten und Beschwerten unserer Zeit hineindeuten. Wir können auch uns selbst darin erblicken. Die Begegnung mit Jesus ist eine heilende Begegnung. Der Auferstandene ist hier derjenige, der mich umgreift und aufrichtet, der mein Leiden annimmt und mich wieder gerade stehen lässt. Eine feste Hand hält mich.

Vielleicht ist es ganz gut, gerade in den Zeiten des Krieges und der Bedrängnis dieses Osterbild zu betrachten. Das Übel ist nicht einfach weggewischt. Es wird nicht durch den österlichen Jubel übertönt. Vielmehr ist es angenommen von einem, der selbst verwundet ist. Das Leid ist hineingenommen in eine Begegnung, die trägt und stärkt, die aufrichtet und ermutigt. In der Stille des Raumes, in dem die Jünger sind, soll Befreiung sein und Hoffnung. Ostern wird hier ganz still, aber so, dass aus dieser Stille Erlösung spricht. Er, Jesus, ist da.

Beitragsbild: Säulenumgang mit Christusstatue vor der Friedenskirche, Potsdam

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