Gekreuzigt – Zur Kernbotschaft der Kartage

Auf der Suche nach einer Geburtstagskarte stieß ich auf eine Sammlung von Ansichtskarten, die ich einmal im Filmmuseum in Potsdam erworben hatte. Sie zeigten Plakate und Filmszenen aus Fritz Langs Film „Metropolis“ von 1926. Auf einem Bild ist ein Schauspieler zu sehen, der sich verzweifelt an die Zeiger einer großen Uhr klammert. Die Bildbeschreibung auf der Rückseite der Karte lautete: „Freder am Ziffernblatt gekreuzigt“. Ob dieser merkwürdige Titel auf die Kartengestalter zurückgeht oder eine Bezeichnung des Regisseurs Fritz Lang ist, habe ich nicht ermitteln können. Auf jeden Fall weckte diese merkwürdige „Kreuzigungsszene“ mein Interesse.

Der filmische Zusammenhang ist der folgende: Der hier an der Uhr abgebildete „Freder“ ist der Sohn des Herrschers von Metropolis, einer gewaltigen, modernen Stadt. Die Stadt hat mehrere „Stockwerke“. Oben wohnt die Oberschicht, unten schuften die Heerscharen der Arbeiter. Freder, der Sohn des Herrschers, der durch einen Zufall der Arbeiterführerin Maria begegnet und sich verliebt, steigt in die Welt der Arbeiter hinab, um Maria wiederzufinden. Dabei wird ihm bewusst, welche harte Arbeit die Menschen „unten“ zu verrichten haben. In langen Schichten arbeiten sie bis zur Erschöpfung daran, dass Metropolis existieren kann. Einer der Schichtarbeiter steuert eine Maschine an einem großen, kreisrunden Bedienfeld. Er muss die auf dem Feld angebrachten schweren Zeiger immer in Richtung der an der Seite aufblinkenden Lichter schieben. Der Arbeiter bricht unter der Last zusammen und Freder bietet sich an, seine Schicht zu übernehmen. Stunde um Stunde verstellt er die Zeiger. Als er selbst kurz vor dem Ende seiner Kräfte ist, ruft er aus „Vater, wie lange können diese zehn Stunden [der Arbeitsschicht] nur sein?“ Von dieser Szene stammt das Bild auf meiner Karte. Das kreisrunde Bedienfeld verwandelt sich in dem Augenblick des Ausrufs in eine Uhr, die zehn Stunden anzeigt. Eine Pfeife verkündet das Ende der Schicht und Freder schleppt sich mit den anderen Arbeitern ausgelaugt, mit hängenden Schultern dem Ausgang der Fabrik entgegen.

„Metropolis“ lässt keinen Zweifel daran, dass es eine moderne Variante des christlichen Erlösungsgeschehen erzählen möchte. Die Anspielungen sind zahlreich. Das „Hinabsteigen“ des Sohnes auf die Erde ist dabei ein Element, dass dieser „Sohn“ dann auch das Schicksal der unten arbeitenden Menschen teilt, ein zweites. Die eben beschriebene „Kreuzigungsszene“ passt ebenfalls ins Bild. Der Sohn geht an dem zugrunde, was die Menschen quält. Bibeltheologisch ist dies die Sünde, die hier im Film als „strukturelle“ Sünde, als Leben in einem ausbeuterischen kapitalistischen System dargestellt wird. Jesu Tod am Kreuz erfolgt in den Evangelien in der neunten Stunde des Tages (nach jüdischer Rechnung um 15 Uhr nachmittags). Die zehnte Stunde ist für ihn nicht mehr erreichbar.

Bleiben wir für einen Moment an dieser Szene stehen. Die Kreuzigung an der Maschine, bzw. Uhr stellt die Frage nach der Realität des Kreuzes auf eine moderne Weise neu. Da das Kreuz als Herrschaftsinstrument der römischen Staatsmacht nicht mehr sichtbar oder nur schwer zu verstehen ist, darf in anderer Weise nach der Symbolik der Herrschaft in unserer Zeit gefragt werden. Wovon muss der Mensch heute erlöst werden? Was sind die Symbole der ungerechten Herrschaft heute? Wessen Macht knechtet mich und soll zerbrochen werden? Wo würde ich mir die Ablösung von meiner Last wünschen? Die Knechtschaft menschenunwürdiger Arbeitsbedingungen war zur Zeit, in der „Metropolis“ entstand, ein veritables soziales Problem. Die Knechtschaft durch die Zeit, deren Vergehen der Mensch ausgesetzt ist, ist ein gesamtmenschliches. Dazwischen wird es individuell gefärbt viele andere Antworten auf die Fragen geben. Das Grundaussage des Kreuzestodes ist schließlich: Hier trägt einer für dich deine Last. Hier ist einer, der mit dir unter den ungerechten Bedingungen des heutigen Lebens leidet. Hier ist einer, der dir Erlösung bringen möchte. Was theologisch klassisch dabei „Erbsünde“ heißt, also die ungewollte Verstrickung in den sündhaften Zusammenhang der Menschen und der Geschichte, erlebt unter dem Begriff „strukturelle Sünde“ wieder neue Beachtung. Der südamerikanische Theologe Ignacio Ellacuría spricht daher von einer realen sozialen Erlösungsbedürftigkeit, die im Osterglauben ausgedrückt wird und nennt die marginalisierten Unterschichten seiner Heimat dann auch das „gekreuzigte Volk“.

Die Transformation des Kreuzesgeschehens in eine moderne mythische Erzählung, die Fritz Lang, bzw. die Autorin Thea von Harbou, die die literarische Vorlage zu „Metropolis“ verfasst hat, vornimmt, ist ihrer Zeit in gewisser Weise voraus. Der französische Philosoph Michel Foucault, der im Erscheinungsjahr des Films geboren wurde, veröffentlichte 1975 seine Studie „Überwachen und Strafen“, in der er eine für die heutige Gesellschaftsanalyse gängig gewordene Theorie vorlegte. Er ging der Frage nach, wieso die Praxis der öffentlichen Strafen (Folterungen, Hinrichtungen), zu denen in antiker Zeit auch die Kreuzigung gehörte, Ende des 18. Jahrhunderts zu Ende geht. Seine These (ganz kurz und grob gesagt) ist, dass die öffentliche, abschreckende Strafe umgewandelt wird, indem man staatlicherseits versucht, die Straftat durch Überwachung und Erziehung des Menschen zu verhindern. Der Staat errichtet also nach Foucault ein System von Regeln und Gesetzen, von Bildungs- und Polizeiwesen, das die Bürger in bestimmte Vorgaben der Lebensführung zwingt. Die Herrschaft wird somit vor allem eine moralische Herrschaft, die in der Demokratie dann durch gesellschaftliche Aushandlungsprozesse verändert werden kann. Um einen ähnlichen Prozess geht es in „Metropolis“. Die unerbittliche Oberschicht weist der arbeitenden Bevölkerung ihren Platz und ihre Regeln zu. Der Ausweg aus dieser Form der Herrschaft besteht im Film in einer Änderung der Verhältnisse. Das Interessante dabei ist, dass Lang nicht den „kommunistischen“ Ausweg zeigt, also die Revolution und die Entmachtung der Besitzenden, sondern seine Anleihen im Christentum nimmt. Es braucht einen Erlöser.

Nachdem der Hauptprotagonist Freder „an der Uhr gekreuzigt“ wurde, schleppt er sich, wie bereits erwähnt, mit den anderen Arbeitern dem Ausgang entgegen. Ihr gemeinsamer Weg führt in die Unterwelt, in die Katakomben unter der Fabrik. Dort angekommen zeigt der Film das große Panorama einer Höhle, in der leere Kreuze aufgestellt sind. Die Anordnung erinnert an einen Friedhof (die Totenwelt), die Unterwelt und zugleich an den Karsamstag des leeren Kreuzes. Vor den Kreuzen ist ein Hochaltar errichtet. Dort steht Maria, die Arbeiterführerin, und verkündet als Prophetin den Ausweg aus der Knechtschaft. Sie berichtet den ergriffen lauschenden Arbeitern ihre Version vom Turmbau zu Babel. Die Stadt Babel ist hier ein historisches Vorausbild der Stadt Metropolis. In Babel, so sagt Maria, habe es einen mächtigen Anführer gegeben, der die Idee und den Plan zum Bau des Turmes entwickelte. Weil es ihm aber nicht möglich war, mit den Tausenden der Arbeiter, die zum Bau des Turms herangezogen wurden, angemessen zu kommunizieren (sie hatten nicht die gleiche Sprache), erhoben sich die Arbeiter gegen den Herrn und zerstörten dabei das große Werk. „Metropolis“ verwirft hier die kommunistische Idee. Eine reine Umwälzung der Verhältnisse würde das Werk zerstören. Es braucht sowohl die eine, als auch die andere Seite. Um die beiden Seiten miteinander zum gemeinsamen Werk zusammenzuführen, bedarf es eines Mittlers, der beide Seiten versteht. Hier erscheint in Metropolis nun das Leitwort des ganzen Films: „Der Mittler zwischen Hirn und Händen muss das Herz sein.“ Der Ausgang der Geschichte ist leicht zu erraten. Maria wird zur Lehrerin des neuen Mittlers, des „Sohnes“ Freder, der durch sein Mitgefühl gegenüber den Arbeitern schließlich die Welt von Metropolis einen und verbinden kann. Im letzten bleibt also, christlich gewendet, das Herz des Erlösers als zentrales Symbol des Versöhnungsgeschehens bestehen. Dies ist nicht ganz verwunderlich, schon allein deshalb, weil die Herz-Jesu-Verehrung zur Zeit der Entstehung des Films in der katholischen Kirche eine herausragende Rolle spielte. Das durchstoßene Herz Jesu fasst das Leiden und die Erlösung zusammen. Die Botschaft der Liebe Gottes, die Jesus bis in seinen Tod hinein sakramental verkörpert und aussagt, wird zur Grundlage einer neuen Versöhnung auch der Menschen untereinander. Dieser Kerngedanke der christlichen Botschaft bleibt auch jenseits der für heutigen Geschmack allzu plakativen und in Teilen auch theologisch problematischen Ausdeutung in einem alten Film wie „Metropolis“ bestehen. Es ist an uns, sie wieder in neuen Bildern verständlich zu machen, sie auf die Leiden unserer Zeit hin anzuwenden und für uns zu deklinieren, was Sünde, Erlösung und Nächstenliebe für mich persönlich und unsere Zeit heißen. Die Kartage führen uns in die Passion und Auferstehung Christi und stellen uns die zentrale Botschaft des Christentums neu vor Augen. Sie öffnen den Deutungshorizont für mein eigenes Leben, das aufgerufen ist zur Teilhabe, zum Mitleiden und zur Hoffnung.

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