Die Feier des Palmsonntags

„Wo sind wir den hier hineingeraten?“ – Die Frage mag sich so mancher Teilnehmer an einer katholischen Palmsonntagsfeier gedacht haben, nachdem die Gemeinde in die Kirche eingezogen ist. Die festliche Stimmung schlägt mit einem Mal um. Mit den Palmzweigen in den Händen wurden eben noch Jubelrufe gesungen. Dann jedoch wird die erste Lesung vorgetragen, ein Ausschnitt aus dem dritten Gottesknechtslied aus dem Jesaja-Buch, eine dramatische Schilderung des Leidens. Es folgt der „Kreuzigungspsalm“ 22 („Mein Gott, warum hast du mich verlassen“), anschließend der Christushymnus aus dem Philipperbrief, der die Kreuzigung Jesu theologisch ausdeutet. Daran schließt sich dann die Passion an. Aus dem Palmsonntag wird mit einem Mal Karfreitag. Die beiden Abschnitte der Liturgie scheinen nicht recht zueinander zu passen. Wie hat sich diese Gottesdienstform entwickelt?[1]

Alles beginnt zu frühchristlichen Zeiten in Jerusalem. Die Pilger, die über die Kar- und Ostertage in die Heilige Stadt kamen, versetzten sich in die Tage des Leidens und Sterbens Christi zurück. Man ging an den Tagen in verschiedenen Gottesdiensten und Prozessionen zu den Heiligen Stätten. Der Pilgerbericht der Egeria aus dem 5. Jahrhundert schildert dies sehr eindrücklich:

„Um die 11. Stunde las man den Abschnitt aus dem Evangelium in dem es heißt, die Kinder wären mit Zweigen und Palmen dem Herrn entgegengezogen und hätten dabei gerufen: Gesegnet sei er, der im Namen des Herrn kommt. Bei diesem Ruf erhob sich der Bischof und mit ihm das ganze Volk. Danach begann man, vom Ölberg aus die ganze Strecke des Einzugs abzugehen. Das ganze Volk ging in Prozession hinter dem Bischof mit Hymnen und anderen Gesängen, und antwortete immer: Gesegnet sei, der im Namen des Herrn kommt. Alle Kinder des Ortes, auch die , die noch zu klein zum Laufen waren und auf den Schultern der Eltern getragen wurden, hatten Zweige in den Händen, sei es vom Ölbaum oder den Palmen; so begleitete die Menge den Bischof so, wie in jenen Tagen der Herr begleitet worden war. Von der Höhe des Berges bis in die Stadt und dort bis zur Anastasis (Grabeskirche), machten alle den Weg zu Fuß, auch die Damen und hohen Herrschaften. […] Gegen Abend kam man an der Grabeskirche an. Dort feiert man, weil es schon spät war, das Lucernarium (Lichtergottesdienst), machte noch ein Gebet am Kreuz und schickte dann das Volk nach Hause.“

Die Prozession reinszenierte somit den historischen Einzug Jesu nach Jerusalem. Egeria lässt keinen Zweifel an den Mühen, die der Palmsonntag, aber auch die weiteren Tage der Karwoche kosteten, da sie von langen Gebeten und Prozessionen begleitet waren. Man nahm also emotional, aber auch körperlich an den letzten Stunden Anteil an Jesu Leiden. Die Form der Palmsonntagsprozession wurde im Lauf der Zeit auch in einigen westlichen Ortskirchen des römischen Reiches übernommen und teilweise ausgeschmückt. Die mittelalterliche Tradition des Palmesels, einer auf einem Holzesel sitzenden Christusfigur, die bei der Prozession mitgeführt wurde, gibt Ausdruck von der Popularität der „inszenierten“ Feier. Man fühlte sich als Teilnehmer der Liturgie in die Zeit Jesu und in die geschichtlichen Ereignisse zurückversetzt.

In Rom ist hingegen eine andere Tradition entstanden. Der Palmsonntag hieß bis ins 8. Jahrhundert hinein schlicht „Passionssonntag“. Die Fastenzeit wurde in zwei Teile unterteilt. Die ersten vier Wochen hießen „Quadragesima“ („Vierzig“- als Hinweis auf die vierzig Fastentage). Der heutige 5. Fastensonntag trug bis 1972 den Namen „Erster Sonntag der Passionszeit“, der Palmsonntag „Zweiter Sonntag der Passionszeit“ und erhielt lediglich den Namenszusatz „Palmsonntag“. Im frühchristlichen Rom stand also die Passion, die Leidensgeschichte Jesu im Vordergrund der liturgischen Geschehens. So wurde das Passionsevangelium am Palmsonntag das erste Mal gelesen und später im Laufe der Woche vor dem Karfreitag auch noch einmal wiederholt. Erst für das frühe Mittelalter ist auch in Rom der Brauch der Palmprozession nachweisbar. Die liturgischen Bücher weisen für die Papstliturgie aus, dass der Papst als Bischof von Rom in seiner Privatkapelle eine Segnung von Palmzweigen vornahm, die dann an die wartenden Gläubigen in der Vorhalle der Lateranbasilika ausgeteilt wurden. Von dort zog man gemeinsam in die Kirche ein. Verbindlich festgelegt wurde dieser Ritus gesamtkirchlich erst 1570.

Mit der Zeit sind also zwei ursprünglich getrennte Gottesdienstformen zusammengewachsen, die sich bis heute nicht ganz harmonisch miteinander verbinden. Als Papst Pius XII. in den 1950er-Jahren die Feier der Heiligen Woche neu ordnete, wurden einige Aspekte der Jerusalemer Traditionen übernommen. Pius XII. legte zum Beispiel die Uhrzeiten für die Feierlichkeiten neu fest und orientierte sich damit an den „biblischen“ Zeiten des Geschehens. Der Palmsonntag sollte vormittags gefeiert werden, der Gründonnerstag am Abend, die Karfreitagsliturgie am Nachmittag und die Ostervigil (Osternacht) nicht wie zuvor am Karsamstagmorgen, sondern in der Nacht von Karsamstag auf Ostersonntag. Der Gedanke der „Reinszenierung“ im Sinne auch einer emotionalen Teilhabe am historischen Geschehen wurde somit in die römische Tradition wieder verstärkt aufgenommen.

Für den Palmsonntag legte das Messbuch von 1962 fest, dass die Liturgie mit der Segnung der Palmzweige in der Kirche beginnt. Es folgten das Palmsonntagsevangelium und eine Prozession, bei der empfohlen wurde, einen längeren Weg zu gehen, also durchaus auch das Kirchengebäude zu verlassen. Alternativ wurde angeregt, mit der Segnung der Palmzweige in einer der Hauptkirche nahegelegenen Kirche zu beginnen. So wurde die Trennung der Orte Ölberg / Stadt Jerusalem noch sinnenfälliger gemacht. Es wurde verboten, Palmprozession und Heilige Messe zeitlich voneinander zu trennen. Der Bruch zwischen den ursprünglich eigenständigen Liturgien blieb aber trotzdem sichtbar. Zur Segnung und Prozession trug der Priester einen roten Chormantel, der beim Einzug in die Kirche zur Eucharistiefeier dann durch das violette Messgewand ersetzt wurde. Der Palmsonntag wurde hier wieder zum römischen Passionssonntag. Auf Letzterem lag der Schwerpunkt. Eine kleine Rubrik im Missale von 1962 gibt den Hinweis, dass dort, wo eine Segnung der Palmzweige und eine Prozession nicht möglich sind, erst am Ende der Messfeier als Schlussevangelium ein Ausschnitt aus dem Palmsonntagsbericht gelesen wird.

In dem nach der Liturgiereform entstandenen Messbuch von 1972 ist an der Grundordnung für den Festtag eher wenig verändert worden. Die Prozession zu Beginn mit der Segnung und dem Evangelium wird empfohlen. In den Rubriken (Anweisungen für die Liturgie) steht: „Zur festgesetzten Zeit versammelt sich die Gemeinde in einer Nebenkirche oder an einem anderen passenden Ort außerhalb jener Kirche, die das Ziel der Prozession ist.“ Bei der Begrüßung soll der Zelebrant auf den Aspekt der bewussten Mitfeier der Gläubigen hinweisen. Im Mustertext zur Einladung zur Prozession nach der Verkündigung des Evangeliums heißt es: „Wie einst das Volk von Jerusalem Jesus zujubelte, so begleiten auch wir jetzt den Herrn und singen ihm Lieder.“ In Erinnerung an die Jerusalemer Liturgie fügt es sich dabei heute übrigens sehr gut, dass beim Prozessionsgottesdienst den Kindern eine besondere Bedeutung eingeräumt wird. An vielen Orten kommen gerade sie mit geschmückten Zweigen zum Palmsonntagsgottesdienst. Die Prozessionsgesänge orientieren sich dabei an den biblischen Königspsalmen, Ps 24 und 47. Während der ganzen Liturgie trägt der Priester im erneuerten Ritus nun das rote Messgewand, so dass der genuine Palmsonntagsgedanke (Christus der König in der Königsfarbe Purpur) stärker hervortritt. Auch heute noch kann im Eingangsteil das Messgewand durch einen Chormantel ersetzt werden. Alternativ zur Prozession werden zwei Formen einer „kleineren“ Einzugsfeier vorgeschlagen. Nach dem Einzug wird die Messe dann mit den Passionslesungen weitergeführt. Am Palmsonntag ist übrigens keine Predigt vorgeschrieben. Das Messbuch sagt, dass es entweder nach dem Palmsonntagsevangelium oder nach der Passion Gelegenheit zu einer kurzen Ansprache gibt.

Der Eindruck des Bruchs mitten in der Palmsonntagsliturgie bleibt leider bestehen und kann derzeit auch nicht aufgehoben werden. Eine Brücke zum Verständnis kann das „Rollenspiel“ bieten, in das die Gemeinde mit einbezogen ist. Wenn sie sich mit den Menschen identifiziert, die Jesus nach seinem Einzug in Jerusalem zugejubelt haben, so kann die Kirche als „Jerusalem“ dann der Schauplatz für das weitere Geschehen bilden. Sinnvoll wäre es dann, die Passion ganz zu lesen, also mit Schilderung des Abendmahlsberichtes, so dass eine durchgängige Erzählung entsteht. Der Palmsonntag enthält gewissermaßen die ganze Karwoche bereits in sich.[2]  

Beitragsbild: Blick vom Ölberg auf die Stadt Jerusalem  


[1] S. zum Folgenden: A. Nocet, La settimana Santa, in: Augé u.a. (Hg.), L’anno Liturgico, Genua 2002, 118ff. (von dort stammt auch das Zitat des Egeria-Berichts, Alex Stock, PoetischeDogmatik, Christologie Bd. 3, Paderborn 1998, 125ff., Messbüpcher von 1962 und 1972.

[2] Diesen Gedanken habe ich ausführlicher hier dargestellt: Zur Einführung in die Karwoche – Sensus fidei

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