Während in Deutschland der „Synodale Weg“ über lange Zeit die innerkirchlichen Nachrichten dominierte, ist ein wenig in Vergessenheit geraten, dass Papst Franziskus 2021 zu einem weltweiten „Synodalen Weg“ aufgerufen hat. Was anfangs aus deutscher Perspektive ein wenig als „Ablenkungsmanöver“ gedeutet wurde, durch das der Papst die eilig voranschreitenden deutschen Katholiken ausbremsen und in die weltkirchliche Gemeinschaft zurückholen wollte, entfaltet nun langsam eine höhere Wirksamkeit, als Kritiker befürchtet hatten. Das nun veröffentlichte Arbeitspapier nach Abschluss der ersten Synodenphase adressiert mit einer erstaunlichen Offenheit und Klarheit die Punkte, an denen die weltweite Gemeinschaft der Katholischen Kirche eine Fortentwicklung, von Lehre, Struktur und Spiritualität wünscht.[1] Darin enthalten sind auch die im deutschen „Synodalen Weg“ geäußerten Positionen bezüglich Machtverteilung, Sexualmoral, Teilhabe von Frauen in der Kirche und Priesterlicher Lebensweise enthalten. Das Papier, in das die Ergebnisse aller Bischofskonferenzen weltweit eingeflossen sind, zeigt nun ein überregionales Panorama und gibt Anstoß zu einem weltweiten Reformprogramm.[2]
Hat der Papst hier unter anderem Namen in gewisser Weise ein „III. Vatikanisches Konzil“ einberufen? Vieles deutet darauf hin. Ein Konzil ist die höchste Beratungsinstanz der Weltkirche. Es kann, wie z.B. im Trienter Konzil, im Ersten und Zweiten Vatikanischen Konzil als „gesetzgebende“ Versammlung wirken und die Lehre der Kirche weiterentwickeln und anpassen. Die Bischofssynode, die angestoßen durch das II. Vatikanum in regelmäßigen Abständen zu bestimmten Themen zusammenkommt, war bislang eher ein Besprechungsgremium. Abgesandte Bischöfe aus den lokalen Bischofskonferenzen diskutierten miteinander anhand eines vorher erstellten „Reports“, dem sogenannten „Instrumentum laboris“ (Arbeitsinstrument). Die Bischofssynode verfasste nach den Beratungen ein Abschlussdokument, das dem Papst übergeben wurde. Dieser antwortete darauf in der Regel mit einem „Nachsynodalen Schreiben“ und legte so die künftige Linie im Umgang mit bestimmten Themengebieten fest. Das „Nachsynodale Schreiben“ hat in etwa die lehramtliche Verbindlichkeit wie eine „Enzyklika“, rangiert also in der Verbindlichkeit noch unterhalb eines Synodenbeschlusses oder einer „Ex Cathedra“-Entscheidung. Bislang galt: Verbindliche Entscheidungen bezüglich der Glaubenslehre, der Sitten, aber auch der strukturellen Verfassung der Kirche müssen durch einen Konzilsbeschluss oder eine vergleichbare Entscheidung des Papstes als Letztinstanz getroffen werden.
Der Weg von Papst Franziskus ist anders. Er verpflichtet (übrigens seit Beginn seines Pontifikats) die Weltkirche auf einen anderen Entscheidungsweg. Dies ist für europäische Theologen und Bischöfe eher ungewohnt.[3] Der Grundansatz stammt aus der amerikanischen Befreiungstheologie. Hier entwickelte sich zunächst in der Jugendarbeit der Grundsatz „Sehen-Urteilen-Handeln“. Um kirchliche eine Antwort auf eine drängende Frage zu finden, ist es nötig, mit den Beteiligten zu sprechen, das Problem nicht theoretisch, also aus theologischen Überlegungen heraus anzugehen, sondern sich im Dialog, in der Praxis ein Urteil zu bilden. Dieses Urteil entsteht in einer Reflexion auf die konkrete Situation, in das dann die Schrift und die Lehre der Kirche als Unterscheidungshilfen genutzt werden. Nach erfolgter Unterscheidung, also einer geistlichen Urteilsbildung folgt darauf eine Handlungsanweisung für die Praxis. Der ganze Prozess wiederholt sich immer wieder. Jede Handlungsanweisung hat schließlich Auswirkungen auf die Praxis, also das konkrete Handeln der Kirche und damit auf die Kirchenmitglieder. Diese neue, oder auch „reformierte“ Praxis muss dann wiederum neu reflektiert werden, führt zu neuen Handlungsmaximen usw.. Die Kirche entwickelt sich so organisch weiter, ohne dass beständig durch „hochoffizielle“ Entscheidungen oder Gesetzestexte Dinge „ein für alle Mal“ festgeschrieben werden. Tatsächlich sind durch Franziskus bislang keine lehramtlich verbindlichen Entscheidungen getroffen worden. In Franziskus’ argentinischer Tradition wurde dieses lateinamerikanische Grundprinzip noch einmal erweitertet. Es bekommt eine „kulturelle“ Note. Das Handeln und Denken der Christen wächst auf ihrem kulturellen Hintergrund. Die Vielfalt der Kulturen ist dabei wichtig. Von dieser Vielfalt, so die Überzeugung der argentinischen Theologen, kann die Weltkirche profitieren, indem sie von der Vorstellung der „Einheitlichkeit“ zu einer gewissen „Pluralität“ kirchlichen Lebens fortschreitet. Entscheidungen sollen nicht von einer spezifischen Denktradition (klassisch der westlich-europäischen) dominiert werden. In das weltweite Gespräch und damit in einer weltweite „Unterscheidung“ sollen gemäß der Methode „Sehen-Urteilen-Handeln“ alle Stimmen der Weltkirche einbezogen werden, und zwar bewusst nicht nur der Bischöfe und Theologen, sondern gerade auch die der „einfachen Gläubigen“.
Papst Franziskus macht dies in seiner Konstitution über die Bischofssynode von 2018 sehr deutlich.[4] Die Synodalität, also das Prinzip des umfänglichen Beratens, Wertens, Urteilens, Unterscheidens und Handelns ist für ihn von allerhöchster Bedeutung. Dafür ist er bereit, seine eigene Person als „Letztentscheider“ zurückzunehmen. Er schreibt in einer sehr grundlegenden Passagen des Dokuments (Nr.5f.):
Es ist gewiss wahr, was das Zweite Vatikanische Konzil lehrt: »Die Bischöfe, die in Gemeinschaft mit dem römischen Bischof lehren, sind von allen als Zeugen der göttlichen und katholischen Wahrheit zu verehren. Die Gläubigen aber müssen mit einem im Namen Christi vorgetragenen Spruch ihres Bischofs in Glaubens- und Sittenfragen übereinkommen und ihm mit religiös gegründetem Gehorsam anhangen«. Aber es ist ebenso wahr, dass »das Leben der Kirche und das Leben in der Kirche für jeden Bischof die Voraussetzung für die Ausübung seines Lehramtes « ist. So ist der Bischof gleichzeitig Lehrer und Lernender. Er ist Lehrer, wenn er unter dem besonderen Beistand des Heiligen Geistes den Gläubigen das Wort der Wahrheit im Namen Christi, des Hauptes und Hirten, verkündet. Aber er ist auch ein Lernender, wenn er in dem Wissen, dass der Geist jedem Getauften geschenkt ist, auf die Stimme Christi hört, die durch das ganze Volk Gottes spricht und es „in credendo“ unfehlbar macht. Denn »die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben (vgl. 1 Joh 2, 20 u. 27), kann im Glauben nicht irren. Und diese ihre besondere Eigenschaft macht sie durch den übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen Volkes dann kund, wenn sie „von den Bischöfen bis zu den letzten gläubigen Laien“ ihre allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert«. Aus diesem Grund soll der Bischof vor dem Volk »gehen und den Weg weisen; mitten unter ihm gehen, um es in der Einheit zu stärken; hinter ihm gehen, sowohl damit niemand zurückbleibt, aber vor allem, um dem Spürsinn zu folgen, den das Volk Gottes hat, um neue Wege zu finden. Ein Bischof, der mitten unter seinen Gläubigen lebt, hat offene Ohren, um zu hören, „was der Geist den Gemeinden sagt“ (Offb 2,7) und die „Stimme der Schafe“, auch durch jene diözesanen Einrichtungen, die die Aufgabe haben, den Bischof zu beraten, indem er einen loyalen und konstruktiven Dialog fördert“. Auch die Bischofssynode muss immer mehr zu einem bevorzugten Instrument des Hörens auf das Volk Gottes werden: »Vom Heiligen Geist erbitten wir für die Synodenväter vor allem die Gabe des Hörens: des Hörens auf Gott, so dass wir mit Ihm den Schrei des Volkes hören; des Hörens auf das Volk, so dass wir dort den Willen wahrnehmen, zu dem Gott uns ruft. «
Die Bischöfe sind in dieser Deutung vor allem Anwälte und Promulgatoren des gelebten und lebendigen Glaubens der Christen der jeweiligen Weltgegend. Während das Konzil als Institution bislang eher ein Ort der Theologen gewesen ist und weltkirchliche Fragen anhand von theoretischen Antworten und Konzepten behandelte (die natürlich auch aus gesellschaftlichen Bewegungen hervorgegangen waren), so scheint dem Papst die „Synode“ als dialogischere, pluralere und „basisnähere“ Institution in ihrer Bedeutung mittlerweile fast gleichwertig zu sein. Ausdrücklich spricht er 2018 in der erwähnten Konstitution in Nr. 8 davon, dass die Bischofssynode „in gewisser Weise ein Abbild des ökumenischen Konzils“ sei.
In seiner Predigt zum Beginn des Synodalen Prozesses sagt Franziskus den anwesenden Bischöfen:
Auch wir, die wir diesen synodalen Weg beginnen, sind aufgerufen, Experten in der Kunst der Begegnung zu werden. Es geht nicht darum, Veranstaltungen zu organisieren oder theoretische Überlegungen zu den Problemen anzustellen, sondern vor allem darum, uns Zeit zu nehmen, um dem Herrn zu begegnen und die Begegnung unter uns zu fördern. Eine Zeit, um dem Gebet, der Anbetung – diesem Gebet, das wir so sehr vernachlässigen: anbeten, der Anbetung Raum geben – und dem, was der Geist der Kirche sagen will, Raum zu geben; sich dem Gesicht und dem Wort des anderen zuzuwenden, uns von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, uns von den Fragen der Schwestern und Brüder berühren zu lassen, uns gegenseitig dabei zu helfen, dass die Vielfalt der Charismen, der Berufungen und der Ämter uns bereichert. Jede Begegnung erfordert – wie wir wissen – Offenheit, Mut und die Bereitschaft, sich vom Gesicht und von der Geschichte des anderen herausfordern zu lassen. Während wir es manchmal vorziehen, uns in formale Beziehungen zu flüchten oder Masken der Konvention zu tragen – der klerikale Geist ist höfisch: das sind eher monsieur l’abbé als väterliche Priestergestalten – verändert uns die Begegnung und zeigt uns oft neue Wege auf, die wir nicht für möglich gehalten hätten.[5]
Der synodale Prozess besteht darin, den gelebten Glauben der Christen und seine Praxis im Gebet und vor dem Hintergrund der Schrift und Tradition zu reflektieren und in die Offenheit für neue Entscheidungen zu bringen.
Insofern kann gerade bei der jetzigen „Synode“ in gewisser Weise von einem „Konzil unter anderem Namen“ gesprochen werden. Das zu lösende Problem ist das der Verbindlichkeit. Irgendwann müssen die Beratungen in Beschlüsse und diese in geltende Lehre und geltendes Recht überführt werden. Bislang ist Papst Franziskus vor diesem letzten Schritt noch zurückgeschreckt. Er setzt auf eine sich organisch verändernde Kirche, die sich mit der Zeit wandelt. 2024 werden die Bischöfe nach vorherigen kontinentalen Zusammenkünften zur Beratung des jetzt vorgelegten Zwischenberichts in Rom zur Synode zusammenkommen. Vielleicht wird man dann auch von einem „(Quasi-)Konzil“ sprechen.
[1] Das Synodanpapier zum Nachlesen (Englisch, eine deutsche Übersetzung liegt noch nicht vor): Documento-Tappa-Continentale-EN.pdf (synod.va).
[2] Ein Bericht mit einem kurzen Überblick über die Inhalte hier: „Synthese der Synthesen“: Phase 1 der Weltsynode im Konzentrat – Vatican News
[3] Die theologischen Grundlinien des aktuellen Papstes habe ich hier ausführlicher dargestellt: Papst Franziskus – theologische Grundlinien – Sensus fidei
[4] Der Text hier: Apostolische Konstitution Episcopalis communio (15. September 2018) | Franziskus (vatican.va)
[5] Predigt im Petersdom, 10. Oktober 2021. Im Wortlaut hier: https://www.vatican.va/content/francesco/de/homilies/2021/documents/20211010-omelia-sinodo-vescovi.html.