Einen Menschen beurteilen

„In der Kirche geht es ja darum Gutes zu tun. Aber es ist nicht gerne gesehen, wenn man allzu laut darüber spricht. Das gilt als unfein. In der Politik ist das anders. Man muss über das Gute, das man tut, ständig sprechen, damit es auch alle mitbekommen.“

Dieses Zitat ist mir aus meiner Studienzeit von einem Gesprächsabend mit einem führenden Politiker hängengeblieben (ich meine, es war Hans-Gert Pöttering, der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments). Das Zitat ist mir beim Lesen des Sonntagsevangeliums wieder eingefallen:

„In jener Zeit erzählte Jesus einigen, die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt waren und die anderen verachteten, dieses Beispiel: Zwei Männer gingen zum Tempel hinauf, um zu beten; der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stellte sich hin und sprach leise dieses Gebet: Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort. Ich faste zweimal in der Woche und gebe dem Tempel den zehnten Teil meines ganzen Einkommens. Der Zöllner aber blieb ganz hinten stehen und wagte nicht einmal, seine Augen zum Himmel zu erheben, sondern schlug sich an die Brust und betete: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser kehrte als Gerechter nach Hause zurück, der andere nicht. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ (Lk 18, 9-14)

In dem Gleichnis werden zwei Verhaltensweisen einander gegenüber gestellt, die klassisch als Beispiele für „Hochmut“ und „Demut“ gelten können. Und fast ist man geneigt, die Verhaltensweise des Pharisäers mit der des Politikers zu vergleichen. Neben dem ständigen Sprechen über die eigenen politischen Großtaten und Ideen tritt nämlich auch hier das zweite Element gerne hinzu – das eigene Handeln von den Irrwegen der anderen abzusetzen: „Meine Partei will es so und liegt damit richtig, die anderen Parteien irren mit ihren Ansätzen“. Ein solches Sprechen gehört zum politischen Alltag. Es ist Teil der Auseinandersetzung um gute und tragfähige Lösungen für gesellschaftliche Probleme. Wollte man also das Gleichnis auf die Politik beziehen, wird man ihm nicht gerecht.

Im Kern geht es im Evangelium um zwei Dinge, die Jesus mit seiner Beispielgeschichte illustrieren möchte. Es geht um die richtige Haltung im Gebet, also im Gespräch mit Gott. Und es geht um das was in theologischer Sprache als das „Gerecht-Sein vor Gott“ bezeichnet wird. Man kann es übersetzen mit: „Von Gott anerkannt sein“, „Sich Gottes Liebe zu vergewissern“, „Ansehen und Trost von Gott erfahren.“ So abstrakt dies zunächst klingen mag: Dahinter steckt ein ganz elementarisches menschliches Bedürfnis. Und es scheint mir überdies so zu sein, dass gerade dieses Gleichnis auf einen ganz zentralen Denkfehler aufmerksam macht, der in unserer Zeit (auch in der politischen Diskussion) weit verbreitet ist. Über diesen Fehler möchte ich gerne etwas ausführlicher sprechen.

Ich erinnere mich an eine Jugendliche, die ich im Rahmen der Jugendarbeit kennengelernt hatte. Sie gehörte eher zu den unauffälligen Mitgliedern ihrer Gruppe. Eines Tages allerdings entdeckte sie für sich eine große Leidenschaft. Das Mädchen war in der Schule in eine „Musical-AG“ eingetreten. In einem Stück der Gruppe hatte sie eine Hauptrolle erhalten und durfte, offenbar mit gutem Publikumserfolg, in einem Musical auf der Bühne singen und schauspielern. Begeistert berichtete sie auf „facebook“ von dieser Erfahrung. Sie habe, so schrieb sie, als Sängerin und Schauspielerin ihre große Leidenschaft gefunden. In den Kommentaren unter dem geposteten Video schrieben ihre Freunde nette Kommentare: „Super Performance“, oder „Stark, wie du singen kannst“, oder „Mach weiter so“, oder „Du siehst toll aus“ – so in dem Stil. Ich sah mir das Video an. Abgesehen davon, dass mir die seichte Musicalmusik in ihrer schlagerhaften Vorhersehbarkeit überhaupt nicht gefiel, fand ich den Gesang der Jugendlichen, die hier begeistert von ihrem Auftritt berichtete, war nicht besonders gut, eher durchschnittlich. Zumindest konnte ich bei nüchterner Betrachtung keine besondere Begabung erkennen. Sollte ich ihr das nun schreiben? Ich habe  natürlich nicht getan. Denn hier ging es um etwas anderes. Das Mädchen freute sich über die Anerkennung, die es erhielt. Das Publikum und die Freunde taten ihr mit ihrem Beifall gut. Es ging bei den Kommentaren nicht um eine sachliche Beurteilung ihrer Leistung, sondern um Sympathie. Es ging darum, der Jugendlichen zu zeigen, dass man sie mag. Eine Kritik, besonders eine in ein paar Zeilen auf „facebook“ hätte sie wahrscheinlich schwer getroffen. Sie hätte vermutlich gedacht, dass ich sie persönlich nicht mag, sie ablehne oder ihr etwas Schlechtes wünsche. Dabei wäre eine Kritik durchaus wichtig gewesen. Angenommen, das Mädchen hätte nun den Wunsch gehabt, später als Musicalsängerin zu arbeiten. Beflügelt durch die Anerkennung hätte sie sich vielleicht nicht richtig einschätzen können, nicht gewusst, wo sie sich verbessern müsste.

Was ich eben beschrieben habe, ist ein sehr verbreitetes Dilemma. Ich habe den Eindruck, dass in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen die Differenzierung zwischen einer sachlichen und einer persönlichen Ebene nicht mehr gelingt. In der Schule wird eine schlechte Note, die erst einmal eine Bewertung einer Leistung ist schnell als persönlicher Konflikt aufgefasst: „Unser Lehrer mag mich nicht, deshalb gibt er mir schlechte Noten.“, oder „Ich habe doch so gut gelernt – diese Mühe allein müsste doch schon durch eine gute Note belohnt werden.“ In Arbeitsbeziehungen habe ich Ähnliches erfahren. Wenn mir ein Vorgesetzter eine schlechte Leistung bescheinigt oder Kritik an meiner Arbeitsbereitschaft hat, werte ich das ungern als sachliche Kritik, die ich dann auf ihre Berechtigung prüfen kann, sondern flüchte mich schnell in die Ablehnung des Vorgesetzten dem offenbar aus irgendeinem Grund „meine Nase nicht passt“. Für diese Vermischung sachlicher und persönlicher Kritik gibt es das von mir so ungeliebte schmierige Wort „Wertschätzung“. Mit diesem Begriff werden die Grenzen zwischen sachbezogener und persönlicher Kritik unzulässig verwischt. In der politischen Diskussion erlebe ich, dass eine bestimmte politische Entscheidung nicht als solche bewertet und als „richtig“ oder „falsch“ bezeichnet wird (dazu kann ich ja Gegenvorschläge machen oder eine andere Partei wählen), sondern dass schnell der oder „die Politiker“ insgesamt als „Idioten bezeichnet werden oder das politische System gleich ganz als „Schwachsinn“ abgetan wird.

Im Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner geht es um die Unterscheidung der „sachlichen“ und der „persönlichen“ Ebene. Der Pharisäer versucht, durch gute religiöse „Leistungen“ die Anerkennung Gottes zu erzwingen. „Wer so handelt wie ich es tue, den kann Gott nicht zurückweisen.“ Die Wirklichkeit sieht allerdings anders aus. Jesus gibt seiner Erzählung eine andere Sinnspitze: Über den Pharisäer ist gesagt: „Sachlich ist sein Tun zu loben. Er bemüht sich nach Kräften um ein gute Leben und beachtet die Gebote. Menschlich allerdings erfährt er durch sein arrogantes Verhalten Ablehnung.“ Man kann Gott zu nichts zwingen. Liebe ist immer ungeschuldet. Die Art, wie sich der Pharisäer selbstgerecht über den Zöllner erhebt, erfährt eben keine Anerkennung. Beim Zöllner ist es umgekehrt. Sachlich ist sein Verhalten zu tadeln. Er führt ein sündiges, gottloses Leben. Menschlich allerdings erfährt er Anerkennung, weil er sich zu seiner Schwäche bekennt und Umkehrbereitschaft signalisiert.  

Damit sind wir (passend zum nahenden Reformationstag) beim zentralen Gedanken Luthers angekommen. Er besagt im Kern: Alle unsere Bemühungen, durch bestimmte Leistungen im Gebetsleben und in der Beachtung der Gebote uns die Anerkennung Gottes erzwingen zu wollen, laufen ins Leere. Gemessen an Gottes Größe haben unsere menschlichen Bemühungen keine besondere Bedeutung. Daher kommt es darauf an, sich selbst in seiner Fehlerhaftigkeit vor Gott zu stellen und zu verstehen, dass er uns trotzdem annimmt. In Christus hat Gott seine Liebe und seinen Willen zur Erlösung für alle Menschen gezeigt. Diese gläubige Gewissheit ist der Kern der christlichen Existenz. Die „guten Werke“ sind deswegen nicht unnütz. Wer nämlich Annahme und Liebe von Gott erfahren hat, der wird sich bemühen, im Leben, dieser Liebe auch gerecht zu werden. Sie ist gewissermaßen ein Ansporn, eine Motivation zu einem guten Leben, das eben auch die Gebote und die Frömmigkeit umfasst. Dass einige reformatorische, aber auch innerkatholische Bewegungen Gefahr liefen, diesen zweiten Gedanken zu vergessen und dem äußeren Tun des Menschen irgendwann gar keine Bedeutung mehr zumaßen, kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Den zentralen Gedanken Luthers bestätigt mit einigen Variationen das Trienter Konzil (1547). Es sagt im „Dekret über die Rechtfertigung“, dass selbstverständlich das „Gerecht-Werden“ des Sünders allein aufgrund der Gnade Gottes erfolgt. Man kann es sich nicht verdienen. Allerdings sind die „guten Werke“ dann Folge der ursprünglichen Rechtfertigung, weil Gottes Gnade den Menschen zu ihnen befähigt und anleitet. Das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner hat uns also zu einer aktuellen Diskussion und in das Zentrum einer theologischen Auseinandersetzung geführt. Der eingangs zitierte Satz des Politikers erhält nun vielleicht noch etwas mehr Tiefe. Natürlich geht es darum, das Gute zu tun. Aber es geht gleichzeitig darum, das Getane nicht als Mittel zur Selbstrechtfertigung zu verwenden. Es bleibt immer der Verweis auf die größere Gerechtigkeit, vor allem aber die Vergebungsbereitschaft und Liebe Gottes. Dieser Grundsatz dürfte in allen Bereichen menschlichen Lebens wichtig sein, besonders dort, wo wir in die Situation geraten, einen Menschen beurteilen zu müssen.

Beitragsbild: Betende Heilige, Bild in der Klosterkirche von Tomar (Portugal)

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