Die alte Heimat

Wenn ich bei unseren älteren Gemeindemitgliedern nach ihrer Herkunft frage, zählen sie Ortsnamen aus einer vergangenen Zeit auf. Ich höre von Hindenburg, Schneidemühl, Beuthen, Reichenberg oder Neumark. Die Orte gibt es noch, die Namen nicht mehr. Viele unserer katholischen Familien hier in der Diaspora kommen ursprünglich aus Schlesien, dem Sudetenland, aus Danzig, Pommern oder Ostpreußen. Sie alle eint, dass sie zwischen 1944 und 1946 in der Folge des von Nazi-Deutschland verantworteten Krieges aus ihrer Heimat geflohen sind oder vertrieben wurden. Fragt man danach, was die alte Heimat ihnen bedeutet, erhält man sehr unterschiedliche Antworten. Für einige ist diese Zeit längst hinter den Erfahrungen des weiteren Lebens verblasst. Sie spielt keine Rolle mehr. Bei anderen verbindet sich mit den alten Namen bis heute die Erinnerung an das ehemalige zu Hause mit Sehnsucht und Heimweh. Einige haben in den letzten Jahrzehnten die alten Orte wieder besucht, um sich zu erinnern oder auch, um mit einer Episode ihres Lebens innerlich abzuschließen. Andere nutzten die alten Verbindung zu vor Ort gebliebenen Freunden und Verwandten für den Urlaub. Wieder andere möchten nie wieder an diese Orte zurück, einmal, weil sie die Begegnung mit der Vergangenheit als schmerzhaft empfinden, zum anderen, weil sie das sichere Gefühl haben, dass das, was sie dort sehen würden, nicht mehr ihre Heimat ist. Diese besteht ja nicht bloß aus Häusern, Straßen, Plätzen und Kirchen, sondern ist mit einem bestimmten Lebensgefühl verbunden, vor allem aber mit den Menschen, mit denen sie dort lebten. Die alte Heimat gibt es so nicht mehr. Niemand kann in seine Kindheit und Jugend zurückreisen. Es gibt keine Gewähr dafür, dass mich die Heimat mit offenen Armen wieder aufnehmen würde.

Heute befinden wir uns angesichts der Fluchtwelle von Menschen, die dem Krieg in der Ukraine entkommen wollen, wieder im Kontakt mit Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten. Sie hoffen, dass dies nicht für lange sein muss und sie hoffen, bald wieder zurückkehren zu können. Aber auch bei ihnen ist jetzt schon jetzt die bange Frage, was sie vorfinden werden, wenn sie eines Tages zurückkehren. Welcher Verwüstung und Zerstörung werden sie begegnen, wen aus ihrer Verwandtschaft, von ihren Freunden und Nachbarn werden sie wiedertreffen, welche politischen Verhältnisse werden sie vorfinden? Ist das noch die alte Heimat oder muss die Heimat nicht eigentlich neu entstehen?

Das Gleichnis von den beiden Brüdern (Lk 13,11-32) erzählt vor diesem Hintergrund vom Verlieren der Heimat. Beim ersten Sohn ist das ganz offensichtlich. Er lässt sich in Akt jugendlicher Rebellion oder in einem Anflug von Abenteuerlust das Erbe auszahlen und verlässt aus eigenem Antrieb den heimatliche Hof. Er verliert sich in der Fremde und denkt dort an seine Heimat zurück. Er stellt sie sich vor, wie sie damals gewesen ist. Nach den Regeln der damaligen Zeit würde er sich jetzt mit Schimpf und Schande an der letzten Stelle der Familie wieder eingliedern müssen. Doch die Heimat ersteht neu, als der Vater die alten Regeln außer Kraft setzt, ihn mit offenen Armen empfängt und einen Neuanfang verkündet: „Mein Sohn war tot, doch jetzt lebt er wieder”. Diese Wirklichkeit verändert alles. Das Fest, das nun gefeiert wird ist kein nostalgisches, das die alten Zeiten wieder aufleben lässt, sondern das Gründungsfest einer neuen Zeit.

Beim anderen Sohn geschieht der Verlust der Heimat genau in diesem Moment. Die bisherige Ordnung wird mit der Wiederkunft des Bruders aufgehoben. Er findet sich von einer auf die nächste Stunde in einer neuen Heimat wieder und das, obwohl er nie vom heimischen Hof aufgebrochen ist.

Es gibt Ereignisse, die alles verändern. Theologisch ist die Sinnspitze des Gleichnisses klar. Der alte Bund Gottes mit seinem Volk soll neu begründet werden. Gott setzt das alte Gesetz nicht außer Kraft, aber er gibt ihm eine ganz neue Wendung. Die Geschichte Gottes mit den Menschen schreibt sich von diesem Wendepunkt des Sohnes, der verloren ging, starb und wieder lebt, neu.

Es gibt kein zurück in die alte Heimat. Die Geschichte schreibt sich immer wieder neu. Wir können angesichts der umwälzenden und bedrängenden Erfahrungen dieser Tag nur hoffen, dass sich nicht einfach alles nur zum Schlechteren hinneigt. Das Gleichnis der beiden Brüder zeigt mit der Treue, Vergebungsbereitschaft und Liebe des Vaters die entscheidende Kraft gegen das schiere Verlieren an. Sie ermöglicht das Neue unter einem guten Vorzeichen der Hilfe, Aufnahme, Heilung und Vergebung. Bis dahin ist es ein weiter Weg. Wir werden die Heimat neu finden, auch wenn es lange dauern wird. Bis dahin sollten wir mit unseren Möglichkeiten darauf hinwirken, dass es eine gute Heimat werden kann.

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