Vor dem Gesetz

Die „Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen“ in Prag beschäftigte von 1908-1922 den Mitarbeiter Franz Kafka. Seine Aufgaben bestanden unter anderem darin, in fünfjährigen Abständen die versicherten Betriebe zu begutachten und die Einteilung in Gefahrenklassen vorzunehmen. Zudem schrieb er technische Gebrauchsanleitungen oder vertrat die Versicherung bei Arbeitsgerichtsprozessen. Kafka erfuhr sich als Mitarbeiter eines großen bürokratischen Apparates, der tagtäglich mit der Anwendung von Vorschriften, Standards und Gesetzen beschäftigt war. In der Freizeit schrieb er Erzählungen und Romane. Es ist kein Wunder, dass in seinen Werken die Erfahrungen und Beobachtungen seiner täglichen Büroarbeit eine große Rolle spielen. Der Mensch, der sich als Rädchen in einer großen Bürokratie widerfindet, deren Regeln er eigentlich nicht versteht, auch wenn sie laufend auf ihn angewendet werden – das ist das Hauptmotiv seiner Romane „Der Process“ und „Das Schloss“. Es war allerdings eine kleine zweiseitige Erzählung, die ihm selbst als Schlüssel zu seinen größeren Werken diente. Diese Erzählung heißt „Vor dem Gesetz“:

Ein einfacher Mann vom Land gelangt vor das Gesetz. Als er durch die Tür eintreten möchte, versperrt ihm ein Türhüter den Weg und verbietet ihm den Zugang. Er weist den Mann darauf hin, dass er wohl versuchen könne, an ihm vorbei illegal durch die Tür zu schlüpfen. Allerdings warteten dahinter weitere Türhüter, jeder mächtiger als der jeweils vorherige. Der Mann bleibt also vor der Tür, er wartet ein ganzes Leben. Führt er eingangs noch Gespräche mit dem Türhüter, so ergibt es sich im Laufe der Zeit, dass er vor diesem immer kleiner und unbedeutender wird. Am Ende schließt der Türhüter die Tür, die, wie er sagt, nur für ihn, den Mann bestimmt gewesen sei.

Jenseits aller existentiellen Deutung erfasst Kafka in dieser Erzählung des Wesen des Gesetzes, verstanden als undurchdringlichen Apparat erstaunlich gut. Das Gesetz steht dem Mann als unpersönliche Struktur gegenüber. Je weiter man versucht, in das Gesetz vorzudringen, desto auswegloser wird dieses Unterfangen. Jedes Urteil wird aufgrund eines Gesetzes gefällt, es ist dessen Auslegung, die zur Anwendung kommt. Ein Urteil allerdings kann mit Berufung auf das gleiche Gesetz angefochten werden, so dass der Prozess der Rechtsprechung neu beginnt. Verschiedene Urteile beziehen sich aufeinander und bilden eine eigene Auslegungsgeschichte. Der Urheber des Gesetzes bleibt unbekannt. Das Gesetz wird in Parlamenten gemacht, allerdings immer mit Berufung auf andere, vorhergehende Gesetze. Diese sind auf die Verfassung, ein weiteres Gesetz bezogen, das wiederum von einer Gemeinschaft erarbeitet wurde, die sich auf andere Rechtstraditionen, vor allem aber auf ungeschriebene Gesetze beruft. Woher die ungeschriebenen Gesetze stammen, kann im Einzelnen meist nicht gesagt werden. Wer sie in Kraft gesetzt hat, weiß man nicht.

Das Evangelium (Joh 8,1-11) berichtet über einen Akt der Rechtsprechung, der ganz ähnlichen Dynamiken folgt, allerdings ein anderes Ende nimmt. Eine Frau soll zum Tod verurteilt werden. Das Todesurteil kann von einem Richter verhängt werden, der damit einer bestimmten Auslegungstradition des jüdischen Gesetzes folgt. Der oberste Gesetzeswächter, Mose, der zum Übermittler und Richter eingesetzt wurde, kann hierzu nicht mehr befragt werden. Allerdings ist anders als bei Kafka der Prozess der Nachverfolgung endlich. Im letzten, so die Überzeugung, hat Gott dieses Gesetz erlassen. Er selbst kann es also vollstrecken oder es außer Kraft setzen. Aber wie sollte man Gottes Willen wissen? Wohl nicht anders als durch das geschriebene Gesetz. Die Richter und Schriftgelehrten sind also in einem bürokratischen Kreislauf gefangen.

Als die Frau zu Jesus geführt wird, verändert sich allerdings ihre Lage fundamental. Sie steht hier eben keinem anderen Richter gegenüber, der das Gesetz auf seine Weise auslegt. Jesus beteiligt sich nicht an der positiven Rechtssprechung, fällt also nicht aufgrund einer geltenden Vorschrift einfach ein alternatives Urteil. Es ist im Bild der Erzählung Kafkas eher so: Die Frau vor dem Gesetz entwischt nicht einfach nur ihrem Türhüter, sondern gelangt durch einen glücklichen Zufall in die Herzkammer des Gesetzes. Hier begegnet sie in Jesus einem Menschen, der außerhalb der unpersönlichen Ordnung der Bürokratie steht. Er ist mehr als Mose, mehr als eine letzte richterliche Instanz. Das Johannesevangelium lässt keinen Zweifel daran, dass Jesus „logos“, also „Wort“ oder „Weisheit“ Gottes selbst ist. Er ist damit gleichzeitig Urheber und Ausleger des Gesetzes, in göttlicher Vollmacht befugt, das Gesetz außer Kraft zu setzen. All das Schriftwerk und die Auslegung des Gesetzes gipfelt in einem einfachen Imperativ: Sündige nicht wieder. Unter diesem Versprechen wird die Last des Gesetzes von der Frau genommen.

Was hier geschieht, ist die Erfahrung der Gnade. Kafka kennt in seinen Werken die Gnade nicht. Er schildert die Macht der Herrschaft eines gottlosen Gesetzes, das keine Ausnahme, keine Begnadigung, keine Befreiung kennt. Unter einem solchen Gesetz geht der Mensch zugrunde. Es fängt ihn in seinen Maschen ein.

Als Jesus einmal von einem Schriftgelehrten nach dem wichtigsten Gebot gefragt wird, nennt der das Doppelgebot der Liebe zu Gott und zum Nächsten. Er beschreibt damit die Liebe als freie Zuwendung. Die Liebe ermöglicht die Gnade, also die Befreiung auch dort, wo das Gesetz mich verurteilt. Die Gnade ist ein Geschenk. Sie ist nie voraussetzungslos und sie soll auch nie ohne Konsequenzen sein. Wer gnädig behandelt wurde, von dem wird verlangt, ebenso gnädig zu sein.

Beitragsbild: Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe

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