Das Schweriner Schloss ist ein beliebtes Fotomotiv. Das Schweriner Schloss hat allerdings ein Problem. Ich habe es noch nie ohne Gerüst gesehen. Jedes Foto hat somit immer einen Schönheitsfehler. Der Zustand in dem alles heil und unversehrt und in Ordnung ist, gibt es offenbar bei einem solchen Bauwerk nur sehr selten. Das Gleiche gilt für mein Leben, aber auch für eine Gesellschaft. Der optimale Zustand wird nie erreicht. Immer gibt es irgendeine Baustelle.
Dabei haben Baustellen durchaus ihren Reiz. Es fasziniert nicht nur Kinder, wenn Häuser gebaut, Grundrenovierungen durchgeführt oder Straßen aufgegraben werden. Man sieht auf Baustellen Dinge, die man sonst nicht sehen würde. Wenn die Verkleidung abgenommen, der Putz abgeschlagen oder der Asphalt aufgegraben wird, kann man sehen was darunter liegt. Es sind die Eingeweide der Baustruktur: Ich sehe den Dachstuhl, die tragenden Konstruktionen, die Leitungen und Kanäle, die Abluftschächte, Dämmschichten, Heizungsrohre oder Kabeltrassen. Es sind die Dinge, die ein Haus, oder eine Stadt funktionsfähig machen. Die verborgenen Dinge sorgen dafür, dass Menschen sicher leben können und mit allem Notwendigen versorgt sind.
Was passiert, wenn plötzlich das ganze Land zu einer Baustelle wird? Wir erleben es gerade. Die Vorsorge zum Gesundheitsschutz macht es notwendig an allen Systemen gleichzeitig umzubauen. Die Veränderungen durchziehen alle Lebensbereiche, von der Urlaubsreise zum täglichen Einkauf, von der privaten Feier bis zum Theaterbesuch, von der Universität bis zum Kindergarten. Selbst die Friedhöfe sind betroffen. Und ähnlich wie bei der Baustelle werden auch jetzt gesellschaftlich die verborgenen Strukturen offengelegt. Wir sehen das, was wir vorher meist nicht gesehen haben. Es kommt ans Licht, was sonst häufig verborgen ist, die Lebensadern einer Gesellschaft, die sich häufig mit der Ansicht der Oberflächen oder der Verzierungen aufhält. Wer hat sich in den letzten Monaten mit den Arbeitsweisen und Bedingungen auf Intensivstationen beschäftigt, wer hatte vorher mit dem Gesundheitsamt zu tun, wer hat sich Gedanken über Pflegeheime gemacht oder darüber, wie die Lebensmittel in unsere Supermärkte kommen? Wer wusste, dass es die Telefonseelsorge gibt? Wer hätte geahnt, dass ein guter Internetanschluss einmal so wichtig werden würde und wer hätte gedacht, wie wichtig für Kinder der Schulbesuch sein kann?
Aber da ist noch mehr. Die Gesellschaft lebt nicht nur vom Funktionieren der Institutionen. Sie braucht viel mehr. Die Krise lässt sich nicht allein technisch lösen. Sie braucht ein Verständnis für die natürlichen Lebensadern menschlicher Beziehungen. Seit April war es ein langer Lernweg. Es ist klar geworden, dass Menschen in Pflegeheimen ihre Angehörigen brauchen, Kinder und Jugendliche ihre Freunde, Angehörige von Verstorbenen den Abschied auf dem Friedhof oder gläubige Menschen ihre Gottesdienste.
Die größte Herausforderung in der Krise bin ich allerdings immer noch selbst. Welche geistigen, geistlichen und emotionalen Ressourcen helfen mir, mit der Krise umzugehen? Was tue ich, wenn plötzlich mein sonst so durchstrukturiertes Leben nicht mehr funktioniert? Von Blaise Pascal gibt es die Behauptung, alles Unglück der Menschen rühre aus einem einzigen Umstand her, nämlich, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können.[1] Da ist etwas dran. Wer dieses Jahr einmal in Quarantäne war, kann das sicher bestätigen. Das Eingeschränkt-Sein, die Isolation, die Langeweile, die Hilflosigkeit sind ein Härtetest für die Konstruktion meines Lebensentwurfs. In dieser Situation neigen Menschen dazu, sich entweder zu betäuben, werden hyperaktiv, rebellieren oder verzweifeln. Was hält mich in einer solchen Situation? Was gibt mir innere Stärke? Was baut mich auf? Was gibt mir die nötige Gelassenheit?
Ich erzähle das heute alles am Heiligabend. Ich glaube nicht, dass das Weihnachtsfest die offenen Fragen lösen kann. An manchen Stellen wird es sie vielleicht noch verstärken. Das Fest ist sicher eine Unterbrechung, ein Augenblick, der mich auf andere Gedanken bringt. Aber es darf keine Pappwand sein, die ich (im Bild der Baustelle gesprochen) für ein paar Tage vor die offenliegenden Rohre und Schächte stelle, kein Beruhigungsmittel, dass mein gereiztes Nervenkostüm für eine gewisse Zeit beruhigt. Wir sind auf einer Etappe einer langen Reise, an einem Haltepunkt, mehr aber auch nicht.
Die weihnachtliche Botschaft ist aber viel tiefer, viel grundlegender. Die zentrale Aussage des Festes ist: Gott sendet seinen Sohn um die Menschen zu versöhnen. Er zeigt seine Präsenz mitten in einer dunklen Welt. Er hat die Menschen nicht verlassen und er wird sie nicht verlassen. Er schreibt in Jesus Christus sein Wort in die Weltgeschichte ein. Und dieses Wort offenbart die innere Struktur dieser Welt, eine Struktur, die manchmal vergessen ist. Diese Welt, jeder Mensch ist zum Guten hin geschaffen. Die Gegenmittel der Krise sind Versöhnung, Glaube, Hoffnung und Liebe. Die falschen Gegenmittel sind Zorn, Ablenkung und Verzweiflung. Der Glaube ist kein schmückendes Beiwerk unserer Existenz, sondern eine verborgene Lebensader. Es braucht sie, gerade in der Krise. Es braucht das Vertrauen in einen Gott, der mich zum Guten führen möchte. Es braucht das Gebet, in dem ich mich mit ihm verbinde. Es braucht die Nächstenliebe, die mich antreibt das Gute zu tun, es braucht die Vernunft, um die Realität klar und nüchtern zu sehen. Es braucht die Liebe zum Frieden und die Bereitschaft zur Vergebung.
Es mag sein, dass uns diese Zeit wie eine einzige Baustelle vorkommt. Baustellen nerven. Aber an einer Baustelle kann man arbeiten. Es braucht lange Zeit aber es braucht Menschen die sich von der Herausforderung nicht entmutigen lassen. Es braucht die richtigen Werkzeuge. Vor allem aber braucht es Selbstvertrauen und Mut. „Fürchtet euch nicht“ singen die Engel auf den Hirtenfeldern. Es mag sein, dass dieser Ruf in diesem Jahr viel kräftiger klingt als sonst.
Die Weihnachtspredigt gibt es in diesem Jahr als Video unter: https://www.youtube.com/watch?fbclid=IwAR299xdqCaFG-v2g7BDUEuKQfi0OQ929dj7EvoU8YyhZtyeexdnd2IdFbuI&v=lxDjeEYqlSs&feature=youtu.be
[1] Pascal, Gedanken, Stuttgart 1987, Nr. 136/139.
Danke für die Predigt am Heiligabend! Sie macht Mut und mit der Baustelle so gut zu verstehen.
Arbeiten wir also weiter, auch wenn noch lange kein Ende zu sehen ist. Danke für den Mutmacher!
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