Wer hätte das gedacht? Als vor einigen Wochen die ersten Berichte über den Ausbruch einer neuen Krankheit in China eintrafen, hatte ich es nicht für möglich gehalten, dass hier etwas geschehen war, das den ganzen Planeten in Atem halten würde. Ich mühe mich derzeit mit der Schwierigkeit der „Anerkennung“. Ich gebe zu, dass ich zu denen gehöre, die die mögliche Bedrohung durch ein Grippe-Virus als nicht so gravierend eingeschätzt haben. In den letzten Wochen ist viel passiert. Mittlerweile muss ich anerkennen, dass ich damals falsch gelegen habe. Dieser Prozess vollzog sich stufenweise. Ich sah viele Schritte, die heute zur Eindämmung des Virus unternommen wurden, als zu weitreichend an. War es wirklich nötig, die Schulen zu schließen? War es nötig, die wirtschaftlichen Folgen der Einschränkungen betrieblicher Tätigkeiten in Kauf zu nehmen? War es sinnvoll, die persönlichen Freiheiten in dem jetzigen Maß einzuschränken? Und vor allem: War es nötig, auch das kirchliche Leben quasi auf Null zu fahren? Im Augenblick hadere ich mit der Entscheidung des Erzbistums, auch die öffentlichen Osterfeierlichkeiten gänzlich entfallen zu lassen. Ich bin hin- und hergerissen: Sehe ich die Nachrichten, scheint mir all dies richtig zu sein. Spreche ich mit kritischen Geistern, habe ich den Eindruck, dass es ausreichend Grund zum Zweifeln an der Richtigkeit der Maßnahmen gibt. Zur Zeit muss ich anerkennen, dass andere über mich bestimmen und ich viele Entscheidungen nicht mehr in der eigenen Hand habe. Zur Anerkennung gehören nicht nur Evidenzen, die sich etwa durch Berichte aus Krankenhäusern weltweit ergeben. Es gehört dazu auch ein gehöriges Maß an Vertrauen den Personen gegenüber, die die Entscheidungen zum richtigen Umgang mit der Epidemie treffen, Experten, Politikern und im kirchlichen Bereich auch den Bischöfen. Ich weiß, dass es vielen ähnlich geht. Und doch: Die Zahl der Zweifler ist kleiner geworden. Die Berichte in den Medien sagen: Die Menschen halten sich an die Beschränkungen, sie sind vorsichtig geworden. So etwas geht nicht allein durch Zwang. Es braucht dafür eine langsam gewachsene Einsicht. Viele haben anerkannt, dass es zur Zeit nicht anders geht.
Jetzt beginnt die Karwoche. Wir reflektieren in ihr Geschehnisse, die lange vergangen sind. Die Texte der Evangelien erzählen ein weltveränderndes Ereignis: Leiden, Tod und Auferstehung Jesu. Mit einem zeitlichen Abstand von vielen Jahrhunderten gelesen ist diese Botschaft nicht neu. Die Ereignisse von damals aktualisieren sich jedes Jahr in den Gottesdiensten, die sie reflektieren und „re-inszenieren“. Wir haben uns an die Osterbotschaft gewöhnt. Allerdings zeigt ein näherer Blick auf die Texte, dass in ihnen das Noch-Nicht-Selbstverständliche deutlich zu Tage tritt. Die Evangelien entstehen in einem Umfeld, in der sie um ihre Anerkennung ringen müssen. Sie sind voller Botschaften an die Menschen ihrer Zeit. Der Glaube an Jesus Christus hat sich erst an einigen Stellen, in kleinen Gruppen und Gemeinden durchgesetzt. Er ist noch längst nicht anerkannt. Und so bemühen sich die Texte, Evidenzen und Zeugen für den Glauben zu benennen. Der Palmsonntag ist dafür ein gutes Beispiel. Das Matthäusevangelium (Mt 21,1-11) berichtet den Einzug des Friedenskönigs, wie er in der jüdischen Tradition am Ende der Tage erwartet wird. Jesus befindet sich in Betfage, östlich des Ölbergs in Jerusalem. Auf dem Ölberg, so die Weissagung von Sacharja (Sach 14,4) wird der Gott am Tag des Gerichtes erscheinen. Der Messias würde über den Ölberg in die Stadt Jerusalem einziehen. Nach Sach 9,9 kommt der Friedenskönig auf einem Esel in die Stadt geritten. Die Prozession mit Palmen und Gesängen bildet den Einzug eines Königs in die Stadt nach. Und schließlich ist der Text des Gesanges aus Psalm 118 entnommen, der ein Preislied ist auf Gott ist, der über die Feinde siegt, ein Prozessionsgesang, der auf dem Weg zum Tempel gesungen wird. In ihm wird der siegreiche König als „der kommt im Namen des Herrn“ gelobt. Die Erzählung des Palmsonntags codiert eine einzige Botschaft: In Jesus Christus ist der verheißene Messias gekommen.
Was allerdings hätte wir gesehen, wenn wir damals in Jerusalem gewesen wären? Dem Beobachter am Wegesrand wäre die kleine Prozession sicher aufgefallen. Die Juden hätten die „Codes“ verstanden. Und sie hätten gewusst, dass das, was geschieht gefährlich ist. Seit langem wartete man darauf, dass es wieder einen rechtmäßigen König von Israel geben würde. Immer mal wieder hatte es Aufständische gegeben, die diesen Titel für sich erobern wollten. Und immer wieder hatte es dann Unruhen gegeben. Die Römer waren für solche Bewegungen sensibel. Und so beginnt mit dem Einzug in Jerusalem auch der Streit um die Bedeutung Jesu und die Anfeindung durch die Autoritäten. Dass es sich hier wirklich um den Messias handelt, haben in diesem Moment in Jerusalem wahrscheinlich die wenigsten gedacht. Die Anerkennung der Person Jesu vollzieht sich langsam. Ich könnte mir vorstellen, dass viele der Leute von Jerusalem sich Jahrzehnte später gewünscht haben, sie hätten die Ereignisse von damals schon verstanden. Selbst die Jünger, von denen man meinen könnte, sie hätten in ihren bisherigen Erfahrungen mit Jesus schon so viel an Einsichten und Glauben gewonnen, werden im Passionsgeschehen schwankend uns unsicher. Die Evangelien nehmen uns in jedem Jahr wieder in dieses Geschehen hinein und stellen auch unseren eigenen Glauben immer wieder in dieses Zweifeln und in die Unsicherheit hinein.
Die Geschichte, auch unsere eigene Geschichte erzählt sich im Rückblick leicht als eine logische Abfolge von Ereignissen. Wir verstehen sie erst in der Rückschau. In der Gegenwart, in meiner eigenen Situation allerdings werde ich zu Entscheidungen herausgefordert, die sich erst später bewähren sollen. Darum ist es so schwer, Entscheidungen zu treffen. Die Entscheidung für oder gegen den Glauben gehört dazu. Auch sie speist sich aus Erfahrungen, Überzeugungen, Evidenzen und aus dem Zeugnis anderer. In einer Zeit wie der jetzigen, angesichts der Geschehnisse unserer Welt wird diese Schwierigkeit besonders deutlich. Wie wir in ein paar Wochen oder Jahren über diese Zeit urteilen werden ist noch nicht abzusehen. Für den Moment bleiben das Abwägen, das Diskutieren und die Frage, wem ich vertraue.