In der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1-45) spricht die meisten Leser der Mittelteil an. In ihm wird geschildert, wie Jesus zu den beiden Schwestern Martha und Maria in ihr Dorf Betanien kommt. Gemeinsam mit den Nachbarn sind die Frauen in ihrem Haus versammelt um über ihren verstorbenen Bruder Lazarus zu trauern. Es ist bereits der vierte Tag nach seinem Tod. Und immer noch ist Zeit der Totenklage. Auch von Jesus heißt es, dass er „im Innersten bewegt“ ist und in die Trauer und das Weinen einstimmt. Das Bild der trauernden Menschen ist uns bekannt. Es ist das Bild der Versammlung bei der Beerdigung, vielleicht die Erinnerung an Begegnungen mit Sterbenden und Trauernden, die uns selbst nahegegangen sind. Es ist aber auch das Bild, das derzeit wieder in den Bildern der Medien auftaucht, wenn die aufgestellten Särge der am Corona-Virus Verstorbenen in Italien gezeigt werden, trauernde Angehörige, die nicht mehr zu den Sterbenden gehen durften, Beerdigungen, die in Stille stattfinden müssen, weil die gemeinschaftliche Totenfeier nicht erlaubt ist. Neben der Zeit der Schutzmaßnahmen, der wirtschaftlichen Sorgen, der familiären Nöte ist eben auch Zeit der Trauer. Trifft das Evangelium also in die richtige Zeit, um dieser Zeit Trost zu geben? Vielleicht ist es so. Die Auferweckung des Lazarus kann als ein Zeichen der Hoffnung gesehen werden, auch als ein Hinweis darauf, dass eine solch tiefe Krise überwunden werden kann. Aber damit ist die Lazarus-geschichte noch nicht zu Ende erzählt.
Auch ich nutze die Zeit für häusliche Aufgaben. So habe ich in den letzten Tagen immer mal wieder meine Fotos sortiert und bearbeitet. Dabei stieß ich bei den Israelbildern auf ein interessantes Motiv. Es zeigt eine Versammlung orthodoxer Juden in Jerusalem. Die Männer, schwarz gekleidet und mit Hut, haben sich an einem Steinsarg auf einem Friedhof versammelt. Sie halten Gebetbücher in den Händen, aus denen sie singen oder Beten. Vermutlich haben sie sich zum Totengedenken versammelt, denn dieses setzt nach rabbinischer Sitte die Anwesenheit von mindestens zehn Männern voraus.
Das Foto entstand am Ölberg. Dieser Hügel liegt östlich der Jerusalemer Altstadt. Seit alter Zeit ist der Ölberg ein Friedhof. Dies hat einen besonderen Grund. Nach jüdischer Überzeugung wird der Messias die Stadt Jerusalem vom Ölberg her in Besitz nehmen. Am Tag des Gerichts und der Wiederaufrichtung Israels steht der Herr nach Sach 14,4 auf dem Ölberg. Dort beginnt die neue Heilszeit. Zu dieser Heilszeit gehört auch die Auferweckung der Toten. Wer also auf dem Ölberg seine letzte Ruhe findet, wird am Tag des Messias der erste Zeuge der neuen Heilszeit sein. Die Trauer um die Toten ist für die Verstorbenen des Ölbergs der Beginn einer Wartezeit auf das Kommen Gottes. Das jüdische Totengebet, das Kaddisch-Gebet bringt das zum Ausdruck. Es ist entgegen dem, was wir uns unter Trauer vorstellen keine Klage, kein Text der menschliches Mitleid ausdrückt. Das Kaddisch ist ein Lobpreis Gottes. Sein Text lautet:
„Erhoben und geheiligt werde sein großer Name auf der Welt, die nach seinem Willen von Ihm erschaffen wurde – sein Reich soll in eurem Leben in den eurigen Tagen und im Leben des ganzen Hauses Israel schnell und in nächster Zeit erstehen. Und wir sprechen: Amen! Sein großer Name sei gepriesen in Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten. Gepriesen sei und gerühmt, verherrlicht, erhoben, erhöht, gefeiert, hocherhoben und gepriesen sei Name des Heiligen, gelobt sei er, hoch über jedem Lob und Gesang, Verherrlichung und Trostverheißung, die je in der Welt gesprochen wurde. Sprechet Amen! Fülle des Friedens und Leben möge vom Himmel herab uns und ganz Israel zuteil werden. Sprechet Amen. Der Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen, stifte Frieden unter uns und ganz Israel. Sprechet Amen.“[1]
In christlich gewohnter Kurzform könnte man sagen: „Geheiligt werde dein Name, dein Reich komme“. Die Hoffnung, die sich in diesem Gebet ausdrückt, ist eine Hoffnung auf die Größe und Treue Gottes zu seinem Volk. Gott ist größer, auch angesichts des Todes und des Leidens. Dort, wo wir nichts mehr tun können, wird er sich im Letzten als der Stärkere erweisen, der am Ende sogar den Tod besiegen kann.
In der jüdischen Totenklage mischt sich also die Trauer mit dem Lobpreis Gottes. Es ist genau diese Verbindung, die das Lazarus-Evangelium zum Ausdruck bringt. Martha bekennt ihren Glauben Jesus gegenüber: „Ich glaube, dass er [Lazarus] auferstehen wird am Letzten Tag“ (Joh 11,24). Der „Letzte Tag“ ist der Tag des Messias. Daher antwortet Jesus ihr: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt wird leben, auch wenn er stirbt“. Martha bekennt ihm darauf: „Ich glaube, dass du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll.“ Damit ist die Sache klar. Wenn Jesus als Messias erkannt wird und die Menschen ihm glauben, dann ist der „Letzte Tag“ angebrochen. Dann wird auch der Tod überwunden werden. Die Auferweckung des Lazarus soll den Ungläubigen ein letzter Hinweis darauf sein. Die Menschen sollen „die Herrlichkeit Gottes sehen“ (Joh 11,40). Daher sagt Jesus im Gebet am Grab, dass Gott ihn erhören möge, „denn sie sollen glauben, dass du mich gesandt hast.“ Die Auferweckung des Lazarus ist damit im Johannes-Evangelium beides: ein menschlicher Trost und zugleich Verweis auf die kommende Herrlichkeit Gottes. Was das Kaddisch-Gebet (das es zur Zeit Jesu noch nicht gab) also glaubend voraussieht, wird in Betanien schon Wirklichkeit. Betanien liegt übrigens in östlicher Richtung kurz vor dem Ölberg. Der Messias ist noch nicht am Ziel angekommen.
[1] Übersetzung nach: https://www.talmud.de/tlmd/das-kaddisch-gebet/