Der Samariter

Ich habe häufig mit Terminüberschneidungen zu kämpfen. Leider sprechen sich Termine nicht vorher ab. Statt sich gleichmäßig über die Woche oder den Monat zu verteilen, beanspruchen sie irgendwie immer wieder den gleichen Tag oder Zeitpunkt. Und so muss ich abwägen zwischen Gottesdiensten, Einladungen und Konferenzen. Welchen Termin soll ich wahrnehmen? In der Regel gehe ich Konzessionen ein und schaue, was ich auf ein anderes Datum verschieben könnte, wo mich jemand anderes vertreten könnte, wo ich schon vor längerer Zeit meine Zusage gegeben habe oder schaue, wo ich schon länger nicht gewesen bin. Es gibt bei mir keine eindeutigen Prioritäten, so dass ich sagen könnte, Bistumstermine haben immer Vorrang, oder Gottesdienste, oder Termine in dieser oder jener Gemeinde. Ein erfahrener Mitbruder hat mir diese Woche eine kleine Weisheit mitgegeben, die er offensichtlich irgendwann einmal gelernt hat: „Vor Hochzeiten und Leichen müssen andere Termine weichen.“ Das ist auf der einen Seite klar: Hochzeiten haben eine lange Vorbereitungszeit und können nicht verschoben werden und Beerdigungen kommen immer unerwartet und bringen den Terminplan durcheinander. Man kann darin auch eine qualitative Aussage sehen: Wenn es um die unmittelbare Seelsorge geht, hat diese immer Vorrang. Das ist ein guter Grundsatz – aber auch er lässt sich nicht immer einhalten.

Im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter geht es im Kern um eine solche Abwägungsfrage:

Da stand ein Gesetzeslehrer auf, und um Jesus auf die Probe zu stellen, fragte er ihn: Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz? Was liest du dort? Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst. Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach, und du wirst leben. Der Gesetzeslehrer wollte seine Frage rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster?
Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter. Auch ein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter. Dann kam ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn.
Am anderen Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.

Was meinst du: Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde? Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle genauso! (Lk 10, 25-37)

Das Gleichnis scheint ja auf den ersten Blick sehr leicht verständlich zu sein. Ein Mann wird überfallen und braucht Hilfe. Ein Priester und ein Levit, also zwei Männer, die im Tempel für den Gottesdienst gebraucht werden, gehen vermeintlich achtlos an ihm vorbei. Ein Samariter, also ein Nicht-Jude kommt vorbei und kümmert sich um den Verletzten. Die zwei ersten waren kaltherzig, der dritte nicht. Was den Priester und den Leviten betrifft ist allerdings eins zu beachten. Sie gehören zum Tempelpersonal. Der Tempel, vor allem damit das Allerheiligste, der Ort, an dem Gott selbst zu finden ist, ist ein heiliger Bezirk. Zu diesem Bezirk hatten nur bestimmte Menschen Zugang. Die Heiden kamen nur bis zu einer bestimmten Schwelle, die Juden bis zu einer anderen, die Priester schließlich kamen dem Allerheiligsten am dichtesten. Sie mussten beim Tempeldienst aber auch darüber hinaus „rein“ sein. Dazu gehörte, dass sie keinen Kontakt mit Toten haben durften, denn die Berührung mit einer Leiche machte sie unrein.

Als der Priester und der Levit also an dem Mann vorübergehen, der, wie berichtet wird, „halbtot“ dort liegt, machen sie eine Abwägung. Sollen sie sich um ihn kümmern oder den möglichen Kontakt mit einer Leiche riskieren und damit gegen das göttliche Gesetz verstoßen? Aus Sicht des Gesetzes ist ihr Verhalten vielleicht durchaus zu loben, aus einer allgemein menschlichen Sicht ist es katastrophal. Man darf nicht vergessen, dass Jesus die Erzählung vom Samariter in einem Gespräch erzählt, in dem es um das Gesetz geht. Die Frage „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ ist für einen Juden mit der Frage verbunden „Was muss ich tun, um das Gesetz bestmöglich zu erfüllen?“ Der Schriftgelehrte nennt als Grundlage des Gesetzes das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe. Gott zu lieben heißt, das Gesetz zu erfüllen. Der Clou der Geschichte, die Jesus erzählt ist also der folgende: Es ist richtig Gott zu lieben und das Gesetz zu erfüllen. Allerdings kann gerade die Erfüllung des Gesetzes manchmal gerade das Falsche sein. Gerade der Dienst am Nächsten kann der wirkliche Gottesdienst sein. Wenn Gott das Leben will, ist der höchste Gottesdienst, ein Leben zu retten und zu stärken. Die Lehrgeschichte passt also in die gesamte Verkündigung Jesu, der die Gesetzesauslegung und den Tempelgottesdienst immer wieder kritisiert. Er selbst durchbricht das Gesetz zum Beispiel, wenn er am Sabbat einen Menschen heilt. Das Gesetz muss nicht nach zuerst nach seinem Buchstaben, noch seinem Geist befolgt werden.    

Wir erleben das gerade in einer großen gesellschaftlichen Diskussion auf einer anderen Ebene. Viele aufgeregte Stimmen haben sich gemeldet, als es wieder einmal um die Rettung von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer ging. Im Grundsatz sind sich alle einig: Menschen müssen vor dem Ertrinken gerettet werden. Die einen sagen aber: Das kann nur nach Recht und Gesetz erfolgen. Die Staaten müssen sich um das Problem kümmern. Die Einwanderungsgesetze der verschiedenen Länder müssen beachtet werden. Die privaten Seenotretter halten dagegen: Weil sich die Staaten nicht wirklich um die Menschen kümmern, die auf dem Mittelmeer in Seenot geraten, dürfen wir uns im Sinne der Menschlichkeit über die Gesetze hinwegsetzen. Das Wichtigste ist doch, das Leben gerettet werden. Diese Logik ist bestechend und einsichtig. Man kann hin und her diskutieren, aber im Kern bleibt doch klar: Jedes gerettet Leben zählt. Die Abwägung zwischen Gesetz und Nächstenliebe ist also kein Thema, das sich erledigt hat. So eindeutig das Gleichnis vom Samariter ist: Es ist in der Wirklichkeit schwieriger umzusetzen, als gedacht. Es bleibt eine Herausforderung und eine wichtige Entscheidungshilfe.

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