Vor 25 Jahren zeigte die Hamburger Kunsthalle eine große Werkschau der religiösen Bildern von Emil Nolde. Der Katalog zur Ausstellung trug den Titel „Legende, Vision, Extase“. Das Titelbild zeigte eine entblößte Frau in bester Feierlaune, um sie herum gaffende und grölende Männer.
Das Bild stammte aus dem dreiteiligen Zyklus: Heilige Maria Aegyptiaca.[1] Es erzählt eine frühchristliche Legende: Die Heilige Maria von Ägypten lebte 17 Jahre als Prostituierte in Alexandrien. Eines Tages entschloss sie sich, an einer Wallfahrt nach Jerusalem teilzunehmen. Damit sie das Schiff bezahlen konnte, verkaufte sie ihre Dienste, ihren Körper an die Mannschaft. In Jerusalem angekommen, wollte sie am Gottesdienst in der Grabeskirche teilnehmen. Jedes Mal, wenn sie eintreten wollte, wurde die Tür durch eine unsichtbare Kraft zugehalten. Eine Stimme sagte ihr, dass sie nicht würdig sei, die Kirche zu betreten. An der Kirchenwand allerdings entdeckte sie ein Bild der Gottesmutter Maria und flehte sie um ihre Fürsprache an, damit ihre Sünden vergeben würden. Danach zog sie sich in die Wüste zurück und lebte als Büßerin jenseits des Jordan. Die Jahre vergingen. Niemand wusste von Marias Existenz. 46 Jahre später fand ein Mönch mit dem Namen Zosimas Maria. Sie war nackt, aber von ihren langen Haaren vollkommen bedeckt. Zosimas versprach, Maria die Kommunion zu bringen. Als er sie am Osterfest deswegen besuchen wollte, war der Fluss über die Ufer getreten. Zosimas konnte nicht zu Maria gelangen. Maria aber schritt über das Wasser auf ihn zu. Sie empfing die Kommunion. Ein Jahr später fand der Mönch sie tot am Strand liegen. In den Sand hatte sie die Bitte geritzt, ihren Körper zu bestatten. Als Zosimas begonnen hatte zu graben, kam ein Löwe und half ihm.
Diese so merkwürdige wie spektakuläre Geschichte hat Emil Nolde gemalt. Das erste Bild zeigt, wie schon erwähnt Maria, die Prostituierte, die sich der Schiffsmannschaft verkauft. Das zweite Bild zeigt die Frau vor dem Bild der Muttergottes kniend, das dritte den toten mit Haaren bedeckten Leib, den Mönch und den Löwen. Wie kommt man dazu, eine solch abenteuerliche wie unbekannte Legende zu malen? Wahrscheinlich kam die Geschichte dem Expressionisten Nolde gerade recht. Der Expressionismus hat ein Faible für große Dramen und große Emotionen. Der spektakuläre Bericht von der „femme fatal“, der verruchten Frau, die die Phantasien der Männer entzündet und ihrer dramatischen Lebenswende bot genug Potential für die visuelle Umsetzung. Aus der großen Sünderin wird eine große Heilige. Es findet eine Umkehr von Sünde zu Gnade statt, wie sie extremer kaum sein könnte.
Das frühe Christentum ist voll von solchen Geschichten. Im Grunde geht es in ihnen um eine Bekehrung, also einen inneren Vorgang. Ein Mensch kommt zum Glauben und ändert sein Leben, wie Zachäus oder wie Paulus. Und nun konnte zur Illustration dieser Bekehrung der Gegensatz nicht groß genug sein. Das Sündenleben nahm extreme Züge an und das Gnadenleben nach der Bekehrung bringt die krassesten Formen der Askese hervor. Bei Maria sind es 46 Jahre in der Wüste. Die Schlüsselfunktion nimmt die Szene in der Mitte ein. Maria, die tief gefallene begegnet im Bild und Gebet Maria, der Hocherhobenen. Sünde trifft auf Gnade.
Die Legende der Maria von Ägypten ist aus heutiger Sicht hochproblematisch. Sie zeigt einen pathologischen Blick, der „Sünde“ in ihrer höchstmöglichen Steigerung automatisch mit Sexualität assoziiert. Dabei steht die Frau im Mittelpunkt, ohne dass das Verhalten der Männer, die Nolde zurecht so abstoßend und geifernd gemalt hat, problematisiert würde. In Wirklichkeit kennt die Legende der Maria viele Sünder, die sich schämen müssten.
Warum, so frage ich mich, ist man nicht bei der biblischen Urszene der Heiligenlegende geblieben, die an diesem Sonntag als Evangelium gelesen wird (Joh 8, 1-11)? Dort wird eine Frau, die beim Ehebruch erwischt wurde von den Schriftgelehrten und Pharisäern zu Jesus gebracht. Sie haben das Urteil über die Frau schon gesprochen. Für ihre Sünde soll sie sterben. Doch im Laufe des Gesprächs wendet sich das Blatt. Diejenigen, die die Frau anklagen, geraten nun selbst auf die Anklagebank. Können sie sich denn vor Gott freisprechen? Haben sie etwa keine Sünden begangen? Was gibt ihnen das Recht, so hartherzig zu urteilen?
Und auch hier gibt es, wie in der Legende, eine Schrift im Sand. Jesus schreibt mit seinem Finger auf den Boden. Formuliert er sein Urteil? Schreibt er das Gesetz neu? Die Bibelstelle gibt dazu keine Hinweise. Am Ende der Szene allerdings steht der Freispruch. Auch hier also eine Erfahrung der Gnade, hier in Form einer Begnadigung. „Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ – Das ist die einzige „Auflage“, die Jesus verhängt. Die Frau wird wahrscheinlich zu ihrer Familie zurückgekehrt sein. Es gibt keine 46 Jahre der Askese, in denen sie für ihre Sünde büßt. Die Gnade ist hier etwas Stilles, fast Unscheinbares. Sie stammt aus der einfachen Begegnung mit Jesus.
Die Ausstellung in der Kunsthalle hieß: „Legende, Vision, Extase“. Die biblische Wirklichkeit setzt an vielen Stellen dagegen: „Wahrheit, Einsicht, Innerlichkeit“. Das ist eher Impressionismus statt Expressionismus. Ich glaube, dass es heilsam ist, meinen Blick auf den Glauben eher so auszurichten. Realistischer wäre es zumindest.
[1] Die Bilder kann man hier anschauen: Sammlung Online | Hamburger Kunsthalle