Dein ist das Reich [3. Advent]

Letzte Woche kamen wir in einem Gespräch auf das „Vater Unser“ zu sprechen. Mein Gesprächspartner erzählte mir sein Unbehagen beim Beten des Gebetszusatzes „Denn dein ist das Reich…“, den wir immer dem Vater Unser hinzufügen. „Das Reich – was soll das denn sein?“, fragte er mich. Er hatte da einen guten Punkt getroffen. Das Wort „Reich“ ist tatsächlich missverständlich. Wir denken dabei eher an einen Staat, ein Territorium. Der griechische Begriff „Basileia“ und auch dessen lateinische Übersetzung „Regnum“ haben eine etwas andere Bedeutung. Es wäre wohl ganz gut, sie mit „Königtum“ oder auch „Herrschaft“ widerzugeben. Wenn also in der Bibel vom „Reich Gottes“ die Rede ist, dann ist damit weniger ein Gebiet gemeint, sondern schlicht, dass Gott die Herrschaft, heute würden wir sagen, die „Regierung“ übernimmt. Es geht um den Geltungsbereich seines Wortes und eine menschliche Gemeinschaft, die diesem Wort Gottes folgt, sich den Grundlagen seiner Herrschaft verpflichtet weiß.

Damit ist das „Reich“ nicht nur etwas Abstraktes, eine Utopie am Ende der Zeiten, sondern hat auch einen ganz weltlichen, konkreten Sinn. Mir gehen in diesem Zusammenhang die aktuellen Bilder aus Syrien nicht aus dem Kopf. Das Land hat fast 14 Jahre Krieg und Bürgerkrieg erlebt. Es lag in den Händen eines grausamen Diktators. Und jetzt auf einmal ist diese Herrschaft beendet worden. Der Krieg ist mit einem Mal vorbei. Die Menschen gehen auf die Straße. Sie singen und tanzen. Sie feiern ihre Befreiung. Zu den besonders eindrücklichen Meldungen gehörte die Befreiung der politischen Häftlinge aus einem syrischen Foltergefängnis. Nach Jahren von Haft und Misshandlung werden sie auf einmal von ihren Angehörigen wieder empfangen. Was hier zu sehen war, ist uns aus den Verheißungsschriften des Alten Testaments bekannt. In Psalm 126 heißt es: „Als der HERR das Geschick Zions wendete, da waren wir wie Träumende. Da füllte sich unser Mund mit Lachen und unsere Zunge mit Jubel. Da sagte man unter den Völkern: Groß hat der HERR an ihnen gehandelt! Ja, groß hat der HERR an uns gehandelt. Da waren wir voll Freude. […] Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten.“ Der Text fängt den Jubel und die Erleichterung der Befreiung ein. Diese Befreiung wird als Werk Gottes verstanden. Immer wieder finden sich diese Motive. Sie sprechen vom Ende der ungerechten Herrschaft, von der Heimkehr aus dem Exil, vom Heilen der Wunden. Wenn Gott durch seinen Gesalbten, den Messias, den Friedenskönig, die Herrschaft übernimmt, dann werden „den Blinden die Augen geöffnet und Gefangene aus dem Kerker befreit“ (vgl. Jes 42,7). Das alles meint „Reich Gottes“ in einem ganz weltlichen Sinn. Herrschaft des Friedens und der Gerechtigkeit.

Johannes der Täufer verkündet den Leuten, die zu ihm kommen, dass Gott bald kommen wird, um die Herrschaft zu übernehmen. Die Zeit ist reif. Jetzt gilt es, sich für diesen Moment vorzubereiten. „Befreiung“ wird von seinen Zeitgenossen in zweifacher Hinsicht gedeutet. Es geht um die Befreiung aus der römischen Fremdherrschaft und von den mit ihr verbundenen romtreuen jüdischen Vasallenkönigen und Hohepriestern. Johannes allerdings spricht genauso von einer inneren Befreiung des Menschen von der Sünde. Die kommende Befreiung ist das eine, die Frage ist nun: „Was sollen wir tun?“ Die Leute kommen mit dieser Frage zu Johannes. Er gibt erstaunlich einfache Antworten. Man könnte verkürzt sagen, er mahnt die Leute: „Benehmt euch!“ Das Reich Gottes kann nur Bestand haben, wenn es auch eine wirkliche Hinwendung zu ihm gibt, wenn die Menschen aus Überzeugung auch das Gute tun wollen, sich dem Frieden, der Gerechtigkeit und der Verantwortung füreinander verpflichtet fühlen; wenn sie nicht versuchen, vor allem ihr eigenes Wohl zu suchen. „Tut das, was richtig ist und beginnt nicht wieder mit dem Aufbau einer neuen ungerechten Herrschaft!“ Der Kern der Botschaft des Johannes ist eine wirkliche und ernstgemeinte Absage an die Sünde, eine innere Umkehr und Neuausrichtung.

Die Bilder aus Syrien haben den Moment der Befreiung eingefangen. Zugleich tragen sie die Sorge um die Zukunft des Landes in sich. Wie wird es weitergehen? Bleiben die Zeichen des Reiches Gottes, Gerechtigkeit und Frieden bestehen oder kommt doch nur bloß eine neue ungerechte Herrschaft? Zu den Zeichen der Gottesherrschaft gehört eben nicht nur die Befreiung der Gefangenen und die Heimkehr der Versprengten aus der ganzen Welt, sondern auch das Umschmieden der Waffen zu Pflugscharen und das Ende des Krieges (Jes 2,4).

Das Gebet für den Frieden, das uns aufgetragen ist, beinhaltet immer das Gebet um die Bekehrung der Herzen. Das klingt in der Wortwahl eigentümlich und ist auch unbequem, weil damit auch immer die Bekehrung meines eigenen Herzens mitgemeint ist. Leichter wäre es, der Friede auf der Erde würde einfach vom Himmel fallen. Aber so ist es nicht. Erst wenn die Sünde in ihrer Wirkmächtigkeit zurückgedrängt wird, wenn also Menschen da sind, die es wirklich gut und im Sinne Gottes meinen, hat der Friede wohl überhaupt eine Chance. Dieses Gebet um Bekehrung und Frieden sollte uns begleiten – für Syrien und alle anderen Kriegsgebiete der Erde, aber auch für unser Land, unser Umfeld, unsere Familien. Das Vater Unser bekennt, dass Gott die Fähigkeit hat, dies bewirken zu können. Man könnte den letzten Abschnitt in diesem Sinn übersetzen: „Dein ist die Herrschaft und die Macht (Dinge zu ändern) und die Herrlichkeit (der Glanz des Göttlichen, der schon auf unserer Erde sichtbar werden kann).“

Hinterlasse einen Kommentar