Das große Bilderrätsel: Der St. Petri-Altar von Meister Bertram

Das erste Mal besuchte ich die Hamburger Kunsthalle wohl im Grundschulalter. Aus dieser Begegnung mit der Sammlung blieb mir neben den Bildern von Caspar David Friedrich der große goldene Altar von Meister Bertram besonders in Erinnerung.[1] Ich habe ihn seitdem immer wieder gesehen, betrachtet und über ihn gelesen. Heute möchte ich über den Altar schreiben. Er birgt in seinem Bildprogramm Besonderheiten, mit deren Deutung sich die Kunsthistoriker schwer tun. Ich will daher eine theologische Deutung versuchen und zumindest meine Lösung des Bilderrätsels anbieten. Es handelt sich also bei diesem Text um eine kleine theologische Schnitzeljagd.

Meister Bertram von Minden ist einer der bedeutenden Künstler des hohen Mittelalters. Er wurde um das Jahr 1340 geboren und wirkte als Maler nachweisbar ab 1367 in Hamburg und im größeren norddeutschen Raum.[2] Der für die Hauptkirche St. Petri in Hamburg gestaltete Altar in der Hamburger Kunsthalle stammt aus der Zeit um 1380. Er besteht in der gezeigten Form aus zwei Teilen. Die Festtagsseite des Altars zeigt, ganz nach spätgotischen Konventionen, die himmlische Versammlung der Heiligen. 44 geschnitzte Figuren gruppieren sich um die zentrale Kreuzigungsszene. Unter den Haupttafeln ist die Verkündigung des Engels an Maria dargestellt, daneben 10 bedeutende Kirchenväter und theologische Autoritäten. An dieser Schauseite des Altars ist die Kreuzigung als zentrale Darstellung ungewöhnlich. Dem üblichen Bildprogramm zufolge, wäre hier eher eine Marienkrönung zu erwarten gewesen. Eine solche zeigt z.B. der zu ähnlicher Zeit gefertigte Schnitzaltar, der in der Nikolaikirche in Wismar zu sehen ist. Die Marienkrönung ist ein endzeitliches Bild der Erlösung der Geschöpfe und verweist somit auf die himmlische Herrlichkeit, die in der Versammlung der Heiligen ihren Ausdruck findet. Das Kreuz als Schwelle der Heilsgeschichte passt im Grunde nicht in das Programm. Die neuere Forschung hat ergeben, dass die Kreuzesdarstellung älter als der Altar selbst ist. Es wird vermutet, dass Bertram, der Künstler hier den Auftrag hatte, ein vorhandenes Stück in den Altar einzufügen.[3]

Hier soll es aber vor allem um die andere Seite des Altars gehen. Vor die Festtagsseite konnten nämlich Altarflügel geklappt werden, die auf goldenem Grund 18 bildliche Darstellungen der Schöpfung, der Urväter (Erzählungen aus dem Buch Genesis) und der Kindheit Jesu zeigen. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei den Schöpfungsbildern zu. Es handelt sich um sechs Bilder, die leicht mit dem im Buch Genesis berichteten Sechs-Tage-Werk in Verbindung gebracht werden können. Dem biblischen Bericht nach scheidet Gott am ersten Tag Licht und Finsternis voneinander. Am zweiten Tag wird das Himmelsgewölbe geschaffen und trockenes Land und Meer voneinander geschieden. Am dritten Tag schafft Gott die Pflanzen, am vierten die Gestirne, am fünften die Tiere und am sechsten die Menschen. Meister Bertram orientiert sich an diesem Sechs-Tage-Werk. Allerdings handelt es sich um mehr als eine bloße Illustration des biblischen Berichtes. Er malt im ersten Feld den Sturz der Engel, im zweiten Feld eine rote Sphäre mit Christusbild, im dritten die Erschaffung der Gestirne, im vierten und fünften die Erschaffung der Pflanzen und Tiere und im sechsten schließlich die des Menschen. Besonders die ersten beiden Bildtafeln geben Rätsel auf: Was ist hier gemeint? Dann schließt sich die Frage an, warum Bertram den dritten und vierten Schöpfungstag miteinander vertauscht. Und ein weiteres Rätsel beschäftigt die Forschung: Gibt es auf der Bildseite des Altars so etwas wie theologisches Programm? Mittelalterliche Bildwerke arbeiten gerne mit Querverweisen und der Gegenüberstellung von Altem und Neuen Testament, gemäß dem Schema von Verheißung und Erfüllung. Um diese Fragen soll es nun gehen.

Ich besitze zwei Kunstführer zum Bertram-Altar, einen von Christian Beutler aus dem Jahr 1984[4] und einen Stephanie Hauschild und Martina Sitt aus dem Jahr 2008[5]. Die Literatur zum Altar ist noch viel reicher, wird aber von den Autoren gut zusammengefasst. Beide Kunstführer präsentieren neben einer kunstgeschichtlichen Einordnung auch jeweils eigene Versuche, das Bildprogramm zu erschließen. Hauschild/Sitt verweisen darauf, dass sich Meister Bertram bei der Gestaltung der Schöpfungsbilder möglicherweise an zeitgenössischen Buchmalereien orientiert hat. Die Autorinnen stellen auch einen Zusammenhang zwischen den Bildern und den auf der Altarpredella (Aufsatzfuß des Altars) dargestellten Theologen bzw. Kirchenvätern dar. Es ist klar, dass Bertram, oder, wer auch immer ihm bei der Entwicklung des Bildprogramms unterstützt hat, theologische Ideen in die Darstellungen eingebaut hat. Stephanie Hauschild betont die besondere Bedeutung des Lichts in den Darstellungen. Der Goldgrund ist kein zufällig gewähltes Stilmittel sondern verweist auf das unsichtbare Göttliche, das sich als Licht ausdrücken kann. Gott und Licht werden in eins gesetzt. Interessant ist, dass nach mittelalterlicher Farblehre, wie die Autorin schreibt, auch das Rot als Stellvertreter für das Gold und damit das Licht stehen kann. Die rote „Sphäre“ in den ersten beiden Schöpfungsbildern kann so als „göttlich“ gelesen werden. Der Sturz der Engel im ersten Bild würde dann so etwas wie eine Trennung von Licht und Schatten (Licht und Finsternis) darstellen, wie sie der erste Schöpfungstag benennt. Die aus dem Licht herausfallenden Gestalten liest Hauschild als Licht- und Schattengestalten. Die auf die dunkle Erdscheibe fallenden Engel nehmen bereits den später dargestellten Sündenfall vorweg. Die zweite Bildtafel interpretiert die Autorin dann als „Sieg des Lichtes“ über die Dunkelheit.

Christian Beutler verweist in seiner Deutung auf eine andere Quelle. Er verdeutlicht, dass Bertram in den ersten beiden Bildern nicht einfach den alttestamentlichen Schöpfungsbericht darstellt, sondern die Schöpfung vom Neuen Testament her liest. Der Johannesprolog („Im Anfang war das Wort…) spielt in den Gemälden offensichtlich eine große Rolle. Beutler vermutet, dass als literarische Vorlage neben der Bibel auch zeitgenössische „Weltchroniken“ zu Rate gezogen hat. Es handelte sich dabei um Versuche, die Heilsgeschichte mit der Weltgeschichte zusammen darzustellen. Die „Sächsische Weltchronik“ von 1248, so zitiert Beutler, beginnt mit der Schaffung von Himmel, Erde, Wasser, Feuer und Licht. Danach erfolgt die Erschaffung der Engel und der Engelsturz des Luzifer und seiner Gefährten. Im zweiten Bild sieht Beutler dann eine Ausgestaltung des Johannesprologs. Das Angesicht Christi in der roten Sphäre verweist auf das ewige Wort des Vaters.

Beide Kunstführer wagen sich also in die theologische Deutung vor, sind dabei aber aus meiner Sicht nicht ganz überzeugend. Sie sehen richtige Details, können sie aber noch nicht kongruent zusammendenken. Meiner Überzeugung nach spiegelt der Bertram-Altar eine bestimmte Frömmigkeit seiner Zeit wider, die sich unweigerlich auch in anderen Werken der Epoche findet. Es ist daher aus meiner Sicht weniger wichtig, bestimmte kunstgeschichtliche Vorbilder zu benennen, als vielmehr in den „Ideenstrom“ der ausgehenden Gotik einzutauchen. Von dort lassen sich die einzelnen Bildelemente (so hoffe ich) besser zusammendenken.

Bevor wir in die theologische Gedankenwelt reisen, möchte ich noch kurz eine Vorbemerkung machen. Die großen Bildwerke des Mittelalters sind kein reiner Kirchenschmuck, sondern verfolgen katechetische Zwecke. Beim Anschauen der Darstellungen sollen die biblischen Erzählungen nicht nur vermittelt, sondern zugleich auch gedeutet werden. Die Bilder sind Predigt oder Katechese und somit auch Spiegel einer jeweiligen Frömmigkeit.

Wir befinden uns in der Zeit des hohen Mittelalters. In der Theologie der Zeit gibt es im Wesentlichen zwei Strömungen. Beide knüpfen an die griechische Philosophie an. Die eine verfolgt einen aristotelischen Ansatz, die andere einen platonischen. Damit es nicht unübersichtlich wird, hier nur wichtiges Unterscheidungsmerkmal: Die aristotelisch begründete Theologie verfolgt eher einen rationalen Ansatz. Die Glaubensinhalte werden verstandesmäßig und wissenschaftlich erschlossen und erklärt. Der platonische Ansatz hat einen eher meditativen, mystischen, zuweilen auch esoterischen Zug. Der Glaube lebt von der Praxis des Gebets und der Meditation. Die Gotteserkenntnis ist zunächst ein frommes Erfahren. Beide theologischen Systeme bestehen im Mittelalter nebeneinander. In der Frühzeit der Gotik ist man eher „platonisch“ unterwegs, im 13. Jahrhundert dann eher aristotelisch. Es ist die große Zeit der christlichen Universität, die ihren Höhepunkt im Werk des Thomas von Aquin erreicht. Thomas stirbt 1274. Nach ihm bilden sich verschiedene Schulen heraus. Fast gleichzeitig erlebt aber der „platonische“ Ansatz vor allem in Deutschland eine neue Blüte. Es entsteht eine Richtung, die mit einem Sammelbegriff „Deutsche Mystik“ genannt wird. Ihr bekanntester Vertreter ist Meister Eckhart (1260-1328). Obwohl Eckhart wegen seiner Lehren, auf die wir noch zurückkommen werden, ins Visier der Glaubenswächter gerät, finden seine Schriften und Predigten doch weite Verbreitung. Zu seinen bekanntesten „Mitstreitern“ gehören der Straßburger Mystiker Johannes Tauler (1300-1361) und der Niederländer Jan van Ruysbroeck (1293-1381). Mystische, also betrachtende Schriften im Geiste der neuen Theologie entstehen im 14. Jahrhundert auch im Kloster Helfta, angefangen mit Gertrud der Großen (1256-1301). Zudem kursiert in den christlichen Kreisen eine anonyme mystische Schrift, die „Theologia Deutsch“, welche im 14. Jahrhundert verfasst wurde. Wir haben es also mit einer starken geistlichen Strömung zu tun, die unter den Theologen und frommen Laien weitergetragen wurde.

Der Petri-Altar ist um das Jahr 1380 entstanden. Es ist gut denkbar, vielleicht sogar wahrscheinlich, dass Bertram selbst oder seine theologischen Berater mit der Deutschen Mystik vertraut waren. Auf dem Altar selbst findet sich dafür ein konkreter Hinweis. In der Predella sind schließlich theologische „Kronzeugen“, bedeutende Theologen, dargestellt. Man findet neben Johannes dem Täufer, dem Vorläufer-Propheten Jesu die sogenannten lateinischen Kirchenväter, Ambrosius, Augustinus, Hieronymus und Gregor den Großen, daneben den „griechischen“ Kirchenvater Johannes Chrysostomus. Diese Gestalten sind nicht ungewöhnlich, galten sie doch als feste Garanten der theologischen Rechtgläubigkeit. Interessant ist die Auswahl der weiteren Figuren. So findet sich dort der Theologe Origenes (3. Jahrhundert). Das ist ungewöhnlich. Origenes war keine unumstrittene Autorität. Teile seiner Schriften galten als nicht ganz rechtgläubig. Origenes war stark neuplatonisch inspiriert und schrieb u.a. einen langen Traktat über die Schöpfung. Daneben findet sich am Altar eine Darstellung von Dionysius Areopagita. Dionysius, dessen eigentlicher Name nicht bekannt ist, war im Mittelalter die Bezugsquelle für die neuplatonische Theologie und inspirierte etwa die gotischen Baumeister und ihr Verständnis von Licht, Farbe und Ordnung in herausragender Weise. Zudem finden sich unter den Figuren des Altars noch Benedikt, der Begründer des (beschaulichen) westlichen Mönchtums und Bernhard von Clairvaux, der große Theologe und Mystiker der Zisterzienser. Bernhard kann als der größte mystische Schriftsteller des Mittelalters bezeichnet werden. Diese theologische Ahnenreihe deutet also auf eine geistige Nähe des Petri-Altars zum Platonismus und zur Mystik.

Wir wissen nicht, welche Quellen genau den Schöpfern des Bertram-Altars zur Verfügung gestanden haben. Ich denke nicht, dass sich der „eine“ Bezugstext finden lässt. Mein Vorschlag ist eher, das Bildprogramm des Werkes als einen Ausdruck der mystischen Denkrichtung zu lesen. Die erwähnten theologischen „Kronzeugen“ bieten zunächst dazu nur einen Hinweis. Entscheidend ist, ob eine „mystische“ Lesart des Bildprogramms Sinn ergibt.

Dazu lohnt sich ein Blick auf die Theologie Meister Eckharts. Seine Lehren sind Vorbild für weitere Entwicklungen gewesen und zeigen das Grunddenken der „Deutschen Mystik“ am klarsten auf. Eckhart sympathisiert mit dem Platonismus. Diese auf den griechischen Philosophen Platon zurückgehende Denkrichtung entwickelte sich im späteren römischen Reich und im frühen Christentum weiter. Man spricht dann vom „Neuplatonismus“. In gebotener Kürze: Der Platonismus geht von den Ursprüngen der Dinge aus. Das Göttliche ist der Urgrund allen Seins. Obwohl Gott unsichtbar ist, liegt in ihm die Fülle des Seins. Der symbolische Ausdruck für das aus Gott hervorgehende Ur-Sein ist das Licht. Das Sein verwirklicht sich nun in Abstufungen. Erster Ausfluss des Seins ist die geistige Welt der Ideen, also der Grundprinzipien, die das konkrete Sein formen. Die Dinge selbst, die „Materie“ ist ein im Vergleich zur geistigen Welt minderwertiger Ausdruck des Seins. Der Weg der Philosophen besteht darin, von den konkreten Dingen der Welt zu den Prinzipien, zur Erkenntnis der geistigen Welt und schließlich zu Gott zu gelangen. Man könnte also sagen „Das Eigentliche ist unsichtbar“. Auf diesem Erkenntnisweg tritt ein Organ des Menschen in besonderer Weise in den Vordergrund: die menschliche Seele (zuweilen auch die menschliche Vernunft). Im Gegensatz zum Leib ist die Seele der höheren Erkenntnis fähig, da sie von geistiger Natur ist. Der Weg zu Gott führt bei den platonischen Denkern des Christentums also über das innere Suchen, Erkennen und Verstehen des Göttlichen. Dieser Vorgang ist auch der einer beständigen Unterscheidung, was von minderwertiger (materieller) und was von höherwertiger (geistiger, göttlicher) Qualität ist. Die Mystik ist ein inneres Empfinden, das für die wahren Ideen, die wahre Schönheit und Wahrheit Gottes empfänglich macht. Das alles klingt für den heutigen Leser ungewohnt und kompliziert. Vielleicht reicht es, erst einmal drei Dinge im Gedächtnis zu behalten: 1. Es gibt eine Rangfolge des Seins – Gott, die geistige Welt (Ideen, Prinzipien), Materie. 2. Der Mensch hat die Fähigkeit zum inneren Erkennen des höherwertigen Seins (Seele, Vernunft). 3. Der Mensch muss als Geist-Leib-Geschöpf zwischen dem höher- und dem minderwertigen Sein unterscheiden. Letzteres geht über die reine Erkenntnis hinaus und hat auch moralische Konsequenzen. Das Böse kann als Mangel an Sein, als größtmögliche Entfernung vom Sein verstanden werden.

Aus dem komplexen Denken von Meister Eckhart möchte ich ein paar Punkte herausgreifen, die für die Betrachtung der Altarbilder aufschlussreich sein können:

Zum ersten liest Eckhart den Schöpfungsprozess christlich. Sein Ausgangspunkt ist weniger das Buch Genesis als vielmehr das Johannesevangelium. Dieses beginnt ja mit dem Satz: „Im Anfang war das Wort“. Mit dem „Wort“ (griechisch „logos“) ist hier Gott der Sohn gemeint, der in Jesus Christus „Fleisch“ wird, also als Mensch erscheint. In diesem Wort erkennt Eckhard das, was bei den griechischen Philosophen die „Idee“ genannt wird. Der „logos“ ist der mit Gott gleichursprünglich existierende „Plan“ der Schöpfung und Geschichte, ähnlich wie ein Kunstwerk Ausdruck einer künstlerischen Idee des Schaffenden ist. Der „logos“ wohnt als Schöpfungsprinzip allen Dingen inne. Eckhart schreibt:

„Das Wort, der Logos, oder die Idee der Dinge ist so in ihnen, und zwar ganz in den einzelnen, dass sie trotzdem ganz außerhalb jedes einzelnen ist, ganz drinnen, ganz draußen. Das ist deutlich im Lebewesen und in allen seinen Arten und in jedem Einzelwesen innerhalb der Arten. Deswegen bleibt die ganze Idee der Dinge unbeweglich und unzerstört, mögen auch die Dinge selbst bewegt, verändert oder zerstört werden. […] Also ist die Idee das Licht in der Finsternis, d.h. in den geschaffenen Dingen, ohne jedoch von ihr eingeschlossen, mit ihr vermischt oder von ihr erfasst zu sein.“[6]

Man erkennt die platonische Denkweise leicht wieder. Alles Sein ist Ergebnis des Logos. Die göttliche „Idee“ ist das Beständige im Unbeständigen der Materie. Daher nennt Eckhard im gleichen Werk an einer späteren Stelle mit Bezug auf das Johannes-Wort „und das Licht leuchtet in der Finsternis“(Joh 1,5): „Denn in allem Geschaffenen spürt man den Schatten des Nichts“. Ewig ist das Licht. Dort wo kein Licht, also kein göttlicher Logos ist, ist „Nichts“. Der Mensch hat als geistbegabtes Wesen, durch seine Vernunft zu den göttlichen Dingen, den Ursprüngen des Seins vorzudringen. Die Menschen stehen daher in der Mitte „zwischen Gott und dem Nichts“[7]

Die Schöpfung ist bei Eckhard verstanden als eine „Zuteilung des Seins“. Louis Cognet erklärt den Gedanken so: „Von aller Ewigkeit her zeugt der Vater sein Wort, und im Wort befinden sich die Urbilder sämtlicher erschaffener Wesen, ob sie nun bloße Möglichkeit sind oder ein reales Dasein haben.“[8] Die ganze Schöpfung ist also Produkt des Gott innewohnenden Seins. Die ganze Schöpfung existiert nur in Gott.[9] Ohne diese Teilhabe am Sein wäre sie Nichts. Daher bestimmt Eckhart gemäß der „creatio continua“-Lehre die Schöpfung auch nicht als einen einmaligen „historischen“ Akt am Anfang der Zeiten, sondern als ein kontinuierliches, überzeitliches Geschehen. Die Schöpfung, also die Seinszuteilung geschieht in diesem Moment, in dem Sie diesen Satz lesen genauso wie zu Beginn der Welt.[10]

Allem erschaffenen Sein lastet eine Unvollkommenheit an.[11] Daher ist bei Eckhart der zweite Schöpfungstag der Genesis „kein guter Tag“. Er beobachtet, dass der Bibeltext hier, am Tag der Scheidung von Himmel und Erde, Wasser und Land den Satz „Gott sah, dass es gut war“ auslässt. Eckhart sieht darin einen Ausdruck der eigentlich nicht gewollten Zweiheit und Spaltung der Wirklichkeit. Zweiheit bedeutet Trennung. Eckhart wörtlich:

„[…] die Vielheit ist Abfall vom Einen und folglich vom Sein und vom Guten, die mit dem Einen vertauschbar sind. Es wäre also vergeblich und falsch gut zu nennen, was vom Guten abfällt und abweicht, denn eben damit stürzt oder sinkt es dem Übel zu und wird übel.“[12]

Betrachtet man das erste Bild des Bertram-Altars, erscheint es geradezu als Illustration zu diesem Zitat. Man sieht auf dem Bild die Spaltung zwischen Sein und Nichts (der reinen Materie, zugleich dem Bösen). Dargestellt ist oben die rote Sphäre, die wir aufgrund des ihr innewohnenden Abbild Gottes (dem Sohn) als Sein aus dem „logos“ kennzeichnen können. Aus dieser Sphäre des Seins stürzen die Dämonen und Luzifer heraus in die graubraune Sphäre der Materie (oder auch der „Nichtigkeit“). In einer moralischen Deutung des Engelsturzes vergleicht Eckhart den fallenden Engel mit der an sich geistbegabten Seele, die sich dem Vergänglichen zuwendet.[13] Die „Theologia Deutsch“, das ab dem 14. Jahrhundert vielleicht populärste Buch der Deutschen Mystik bestimmt die Sünde als „nichts anderes, als dass sich die Kreatur abkehrt von dem unwandelbaren Gut und sich zu dem Wandelbaren kehre, das heißt, dass sie sich kehre von dem Vollkommenen zu dem Teilhaften und Unvollkommenen und allerweist zu sich selber.“[14]

Damit sind wir bei der erneuten Betrachtung der Altarbilder angekommen. Das erste Bild lässt sich nach der Logik Eckharts, wie gesehen, leicht mit dessen Ausdeutung des zweiten Schöpfungstag in Einklang bringen. Das zweite Bild, das lediglich Gott und die Sphäre des in seinem Logos geschaffenen Seins zeigt, passt zum ersten Schöpfungstag. An ihm entsteht das Licht, das nach platonischer Lehre als Symbol des Seins schlechthin gelesen werden kann. Man fragt sich nur, warum Meister Bertram die Reihenfolge der Schöpfungstage vertauscht. Dies geschieht ihm ja gleich noch einmal, indem er anschließend erst die Erschaffung der Gestirne (vierter Tag) und der Pflanzen (dritter Tag) darstellt. Diese Vertauschung ist vielleicht eher erklärbar, wenn Bertram in abfallender Linie die Manifestationen des Seins zeigen möchte und mit den „höheren Sphären“ der himmlischen Geschöpfe beginnt, die das Licht schließlich verbreiten. Aber das ist nur ein Gedanke.

Über die mutmaßliche Vertauschung von erstem und zweitem Schöpfungstag lässt sich nur spekulieren. Meine Idee dazu wäre, dass das erste Bild bewusst als Eröffnung des Bilderzyklus’ gewählt wurde. Es skizziert das gesamte theologische Programm des Altars, ist gewissermaßen die Ouvertüre des Bilderzyklus. Sollte es so sein, dass hier der Gegensatz zwischen Sein und Nichts (philosophisch), bzw. Licht und Dunkel (Johannesevangelium) geschildert wird, dann steht der Mensch als Geschöpf genau zwischen diesen Polen. Dank seiner Vernunft bzw. gottbegabten Seele ist die Herausforderung seines Lebens gemäß dem mystischen Programm, ein möglichst hohe Annäherung seines Wesens an Gott bzw. die geistige Welt der göttlichen Prinzipien zu erreichen, die in Christus offenbar geworden sind. Genau dies ist z.B. auch das geistliche Programm der „Theologia Deutsch“. Philosophisch könnte man von einem Weg zwischen der Möglichkeit der Erkenntnis und der Verblendung sprechen, moralisch zwischen Gerechtigkeit und Sünde (gut und böse), soteriologisch zwischen Erlösung und Verwerfung. Die Erschaffung des Menschen im sechsten Bild wird durch die weihrauchschwenkenden Engel besonders hervorgehoben, vielleicht ein Hinweis auf den von der Erkenntnisfähigkeit noch ungetrübten Zustand des Menschen, die sich durch den Sündenfall verdunkeln wird.

Bertrams Motivwahl ist im Grunde klassisch: Schöpfung und Sündenfall des Menschen und Neuschöpfung und damit Rückführung der Menschheit zur Erlösung in der Menschwerdung Christi. Ergänzend zu den Erzählungen von Schöpfung und Erlösung wählt Bertram Szenen der sog. „Erzeltern“ im Buch Genesis. Sie sind gewissermaßen Bilder der Entscheidung zwischen der Fähigkeit zum Guten (der Gotteserkenntnis) und der Tendenz zum Bösen (zum „Abfall“). Zunächst ist dort das Opfer der Brüder Kain und Abel zu sehen, das Urbild für Annahme und Verwerfung. Auf dieses Opfer hin geschieht der erste Mord der Menschheitsgeschichte und damit eine Art „zweiter Sündenfall“. Beim Bau der Arche Noah verhält es sich ähnlich. Er symbolisiert den Gehorsam einer kleinen Gruppe gottesfürchtiger Menschen, die sich der allgemeinen Vernichtung des von Gott „abgefallenen“ Menschengeschlechts entziehen kann. Das Opfer Abrahams stellt dessen Glauben und damit seine Fähigkeit zur Gotteserkenntnis auf die Probe. Und schließlich wird die Episode gezeigt, in der zunächst Esau und dann Jakob bei ihrem erblindeten Vater Isaak vorstellig werden. Auch hier geht es wieder um Erwählung und Verwerfung.

Es bleiben weiter Fragen offen und damit Raum für Spekulationen und neue Ideen. Ich habe bis zu diesem Punkt meine Idee über die Bedeutung der Bildkomposition des Bertram-Altars skizziert. Meines Erachtens scheint es deutlich, dass das theologische Programm mit dem Gedankengut der „Deutschen Mystik“ in einer engen Verbindung steht. Genau dies macht es für den heutigen Zeitgenossen schwer lesbar, während der Zeitgenosse Bertrams durch Predigten und geistliche Übungen wahrscheinlich gut mit dieser damals modischen Ideenwelt vertraut war. Der Schlüsselgedanke der Bildtafeln scheint der Mensch in seiner Herausforderung der Erkenntnis Gottes und des Guten zu sein. Er ist in seiner Existenz zwischen den beiden im ersten Altarbild skizzierten Polen zu finden und muss, wie schon die Glaubenszeugen der Bibel nach dem richtigen Weg suchen. An dieser Situation zumindest hat sich nichts geändert.  


[1] Ein hochauflösendes Bild des Altars auf der Seite der Hamburger Kunsthalle: Online Collection | Hamburger Kunsthalle (hamburger-kunsthalle.de)

[2] Hauschild, Meister Bertram von Minden in: Goldgrund und Himmelslicht (Ausstellungskatalog), Hamburg 1999, 98ff.

[3] Hauschild/Sitt, Der Petri-Altar, Hamburg 2016, 32-36.

[4] Beutler, Meister Bertram, Der Hochaltar von St. Petri, Frankfurt 1996 (1984)

[5] Hauschild / Sitt, Der Petri-Altar von Meister Bertram, Hamburg 2016 (2008)

[6] Eckhard, Expositio Sancti Evangelii, 1. Kapitel

[7] Zitiert bei Cognet, Gottes Geburt in der Seele, Freiburg 1980, 62.

[8] Cognet, 57.

[9] Eckhart, Prologus Generalis.

[10] Ebd.

[11] S. hierzu auch die Theologia Deutsch, Ausgabe Einsiedeln 2017 (1980), 39f.

[12] Zitiert bei Cognet, 62.

[13] S. Lasson, Meister Eckhart, Wiesbaden 2003 (1868), 304.

[14] Theologia Deutsch, 41.

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