Die Landschaft – Natur, Seele, Religion

Zu Beginn des Jahres besuchte ich das Museum Barberini in Potsdam. Unwissend, was mich dort erwarten würde, rechnete ich, wahrscheinlich in einem Fehlschluss aus meiner Vertrautheit mit dem Museo Barberini in Rom mit einer Sammlung von Gemälden der Renaissance und des Barock. Das namensgleiche Potsdamer Haus hingegen beherbergt im Kern eine beeindruckend große Sammlung impressionistischer Kunst. Und so schritt ich durch Säle voller Landschaftsbilder. Eine Leinwand nach der anderen zeigte in scheinbar endloser Variation Ansichten südfranzösischer Gebirgs- und Küstenlandschaften. Warum, dachte ich, schauen sich die Besucher diese Bilder an? Es schien mir mit einem Mal unnütz, die zugegebenermaßen kunstvollen Abbildungen von schönen Naturimpressionen zu betrachten, wenn uns Zeitgenossen, besonders den finanziell sicher nicht schlecht gestellten Kunstverehrern um mich herum, doch der Besuch der abgebildeten Orte selbst möglich wäre. Waren die Bilder also vor allem als Dekoration gemalt worden, um die Urlaubserinnerungen aus dem sonnigen Süden in die heimischen Salons einzutragen? Vermutlich ist ein Großteil der Gemälde aus diesem Grund gekauft und verkauft worden. Die schiere Menge von fast gleichen Motiven war wohl kaum allein mit der plötzlichen Inspiration der Künstler zu erklären, sondern diente ihnen zugleich ganz schlicht als Broterwerb. Die Landschaft verkaufte sich als Andenken genauso wie als beliebtes Dekorationsobjekt, das an den grauen winterlichen Tagen in Paris, Brüssel, London oder Berlin die Sehnsucht nach dem Sommer erwecken konnte. Dies galt wohl besonders unter der Voraussetzung des mühsamen Reisens, das vor 100 Jahren den schnellen Wochenendtrip nach Cannes oder Nizza noch nicht kannte.

Die Landschaft, sowohl die real betrachtete, als auch die gemalte oder literarisch beschriebene fasziniert noch heute. Der Bedarf an Fotos oder Gemälden von Naturpanoramen ist im Zeitalter der digitalen Bildbearbeitung, die der Schönheit, ähnlich wie die Kunstfertigkeit des Malers, bis ins Unrealistische hinein auf die Sprünge hilft, ungebrochen hoch. Die Verbreitung der Landschaft auf Instagram zeigt den exquisiten Reisegeschmack des Urhebers eines Postings. Die Aussichtspunkte beliebter Motive wie dem Königssee in den bayerischen Alpen sind bei schönem Wetter heute von Selfie-Touristen umlagert, die für ihr perfektes Posing vor Naturkulisse teilweise große Mühen auf sich nehmen müssen, sofern noch kein bequem mit dem Auto zu erreichender „Skywalk“ den Aussichtspunkt definiert und das Foto erleichtert. Die entstehenden Bilder gleichen sich, ähnlich wie die beschriebenen impressionistischen Gemälde. Die Landschaft fasziniert also noch immer. Abseits ihres rein dekorativen Charakters, der zugleich eine gewisse mediengelenkte Vorstellung von „Schönheit“ reproduziert, verbirgt sich in der Landschaft ein ganzes Bündel von Ideen, denen ich im Folgenden etwas nachgehen möchte.

Die Bibel ist mit Landschaftsbeschreibungen eher zurückhaltend. Dies mag damit zusammenhängen, dass zum einen das Reisen und Wandern eine eher zweckgebundenen Tätigkeit war und nicht in erster Linie der seelischen Erbauung oder der Erholung diente. Man möchte den berühmten Wanderern des Neuen Testaments, Jesus und seinen Jüngern, sicher nicht den Sinn für die Schönheit der Natur absprechen. Zumindest gibt es im Alten Testament zahlreiche Lobpreisungen auf die Schöpfung und ihre Ordnung. Diese allerdings dienen in erster Linie dem Preis des Schöpfers, auf den Gestirne, Himmel, Berge, Pflanzen und Tiere verweisen. Der Mensch innerhalb der Natur und damit außerhalb der Zivilisation setzte sich aber zur Zeit Jesu auch immer der Gefahr aus. Die Landschaft war kein touristischer „safe space“, sondern zugleich der Ort von wilden Tieren und unliebsamen Reisebegleitern, vor denen man sich schützen musste, wie das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter oder die Rede vom Guten Hirten es andeuten.

An einer prominenten Stelle allerdings eröffnet die Bibel den Blick auf die Landschaft. Als Mose kurz vor seinem Tod auf den Berg Nebo östlich des Jordans steigt, blickt er über die Ebene des gelobten Landes (Dtn 34). Vor diesem Panorama endet die Geschichte des Mose, der daraufhin stirbt und begraben wird. Das gelobte Land, das übrigens keine Natur, sondern ein bereits besiedeltes Stück Erde ist, bleibt für Mose ein Sehnsuchtsort. Die Bibelstelle erhält eine gewisse Dramatik dadurch, dass hier der Übergang des Landschaftsbildes von der kargen Wüste, in das grüne Kulturland beschrieben wird. Die Geschichtsschreibung und Dichtung des Volkes Israel wird immer wieder auf das Sehen und schließlich Erobern des Landes zurückkommen.

In der kurz beschriebenen biblischen Szene klingen bereits die wesentlichen Aspekte an, die für die Landschaftsbetrachtung jenseits der reinen Ästhetik bis in die heutige Zeit wichtig sind: Das Lob des Schöpfers, die Sehnsucht des Reisenden, die Verbindung von Mensch und Natur und die Bedeutung der Geschichte.

Die große Zeit der Landschaft ist in Deutschland mit deren künstlerischer Darstellung im ausgehenden 18. und während des 19. Jahrhunderts verbunden. Es ist die Zeit des großen Reisenden Goethe, der seine Naturimpressionen bereits im „Werther“ kunstreich zu schildern vermochte, sie in Gedichten verarbeitete und in der „Italienischen Reise“ das Sehnsuchtsland Italien fest in den Herzen seiner zahlreichen Leser verankerte. Es ist die Zeit, in der Ludwig von Beethoven in seiner 6. Sinfonie eine frühe Form der Programmmusik entwickelte und musikalisch seine Sinneseindrücke verarbeitete, die er bei Spaziergängen im Wiener Umland gesammelt hatte. In England entstand die „Plein Air“-Malerei, bei die Künstler ihre Leinwände aus den Ateliers herausholten und in die Natur stellten, um den unmittelbaren Natureindruck wiederzugeben.

Die Natur ist in dieser Zeit allerdings keineswegs ein „Ding an sich“. Sie dient dem Dichter, teilweise auch dem bildenden Künstler zur Illustration. Natur und Handlung, Natur und Seelenleben sind eng miteinander verwoben. Ein interessantes Beispiel ist das Libretto zu Mozarts „Zauberflöte“, das heute mit dem Namen Emanuel Schikaneder verbunden wird, aber wohl unter seiner Leitung als Gemeinschaftsarbeit der Wiener Freimaurerloge, in der auch Mozart Mitglied war, entstand.[1] Die Regieanweisung sieht für den ersten Akt eine felsige Gegend vor. Als der Prinz Tamino dort als Jäger unterwegs ist, kommt es zur Begegnung mit der Königin der Nacht. Zu deren Erscheinen heißt es im Libretto: „Die Berge teilen sich auseinander und das Theater verwandelt sich in ein prächtiges Gemach.“ Die Königin wohnt in einem Felsen. Sie erscheint damit als eine Art Göttin der Unterwelt, oder auch als „Mutter Natur“. Schließlich entspricht es der freimaurerischen Idee, den Menschen aus seinem Naturstand heraus in die höhere Weisheit, also in die Welt des Geistes einzuführen. Das Land Sarastros ist daher Kulturland der Tempel und Pyramiden. Einer der Tempel, zu denen Tamino gelangt, trägt die Aufschrift „Tempel der Natur“. Hier ist also die Natur bereits durch die Geisteskraft und Wissenschaft eingehegt und veredelt worden. Als der Prinz später die Prüfungen zur Aufnahme in die geheime Priesterschaft bestehen muss, geschieht dies in „einem kurzen Vorhof des Tempels, wo man Reste von eingefallenen Säulen und Pyramiden sieht, nebst einigen Dornbüschen.“ Natur und Weisheit liegen also an diesem Ort noch im Streit miteinander. Das Bühnenbild und die in ihm dargestellte Landschaft illustrieren also die Handlung der Oper auf ihrer ideologischen Ebene. Die Landschaft ist die passende Projektionsfläche der Idee.

In dieser Logik ist die Landschaft im Drama und Roman Schauplatz, ein zur Handlung passender Hintergrund. Es entsteht eine Logik, nach der ein Liebespaar sich im Frühling an linden Bachufern trifft und ein Verbrechen in stürmischer Gewitternacht auf freiem Felde oder im dunklen Wald stattzufinden hat.    

Dieses Prinzip treibt die deutsche Romantik auf die Spitze. Nach dem Wort des Dichters Novalis, dass alles „romantisiert“ werden müsse[2], liegt hinter jeder Darstellung der Natur eine verborgene Wahrheit, ein seelischer Zustand, eine tiefgreifende Symbolik. Die romantische Weltanschauung versteht die gesamte sichtbare Welt als einen zusammenhängenden Organismus. Der Mensch ist auf geheimnisvolle Art mit seinen Mitmenschen, aber auch mit dem gesamten Kosmos in einer Lebensgemeinschaft verwoben.[3] Die Natur ist also kein Gegenüber, sondern gewissermaßen Teil des romantischen Ichs, wie auch das Ich Teil der Natur ist. Der große romantische Maler ist Caspar David Friedrich. Er malt die Natur immer als idealisiertes Wesen, zieht sozusagen einen Seelenfilter über die Landschaft. Seine Bilder entstehen im Atelier, sind also „Nachdichtungen“ seiner Sinneseindrücke. Seinem berühmten Gemälde „Der Mönch am Meer“ von 1810 etwa gibt er die folgende Deutung:

„Und sännest du auch vom Morgen bis zum Abend, vom Abend bis zur sinkenden Mitternacht; dennoch würdest du nichts ersinnen, nicht ergründen das unerforschliche Jenseits. Mit übermütigem Dünkel erwägst du der Nachwelt ein Licht zu werden, zu enträtseln der Zukunft Dunkelheit […]. Tief zwar sind deine Fußstapfen am öden sandigen Strande; doch ein leiser Wind weht darüber hin und deine Spur wird nicht mehr gesehen: Törichter Mensch voll eitlem Dünkel!“[4]

Friedrich hat hier also nicht einfach einen Strandabschnitt auf Rügen gemalt, dem er zur Dekoration die Figur eines Mönches hinzugab. Vielmehr malt er ein „Symbolbild“, das die Verlorenheit und Begrenztheit des menschlichen Verstehens angesichts des großen Geheimnisses des Lebens und der Welt höchstens „im Glauben gesehen und erkannt“ werden kann, wie der Maler an der gleichen Stelle ausführt. Der Mönch hat in der Weite des Geheimnisses also einen Erkenntnisvorteil, während der Philosoph als rationaler Denker kapitulieren muss. Das Landschaftsbild ist hier also fast ein Bilderrätsel oder ein theologisches Emblem.

In der romantischen Epoche spielt die religiöse Dimension, der Glaube an einen Schöpfergott, der sein Werk durch seinen Geist beseelt und vereinigt wieder ein große Rolle. Über die Betrachtung der Natur als dem unverfälschten Werk des Schöpfers (im Gegensatz zur vernunftgeschaffenen „Kultur“ der Zauberflöte), erkennt der Romantiker die Spur des göttlichen Geheimnisses. Natur, Mensch und Gott werden in einem Zusammenhang gesehen. Joseph von Eichendorff schreibt dazu um das Jahr 1815 das folgende Gedicht:

Schlag mit den flamm’gen Flügeln! / Wenn Blitz aus Blitz sich reißt, / steht wie in Rossesbügeln / so ritterlich dein Geist.

Waldesrauschen, Wetterblicken / macht recht die Seele los. / Da grüßt sie mit Entzücken, / was wahrhaft, ernst und groß.

Es schiffen die Gedanken / fern wie auf weitem Meer, / wie auch die Wogen schwanken: / die Wellen schweben mehr.

Herr Gott, es wacht dein Wille! / Wie Tag und Lust verwehn, / Mein Herz wird mir so stille / und wird nicht untergehn.“[5]                    

Ähnlich wie bei Caspar David Friedrich ist der Natureindruck in diesem Gedicht Symbolbild für die inneren Regungen des Menschen (Geist, Seele, Vernunft). Die wahre Ruhe allerdings, die Einkehr des Herzens wird erst in der Anerkennung Gottes erreicht. Natur, Mensch und Gott sind eng aufeinander bezogen. Die Landschaft ist Seelenlandschaft und Geheimnisträger der göttlichen Präsenz.

Die Idee, dass eine bestimmte Landschaft Rückwirkungen auf die menschliche Seele geben kann und Quelle für Charakter- und Gemütsveränderungen wird, ist zu dieser Zeit weit verbreitet. Die Landschaft formt den Menschen, wie auch der Mensch dichterisch oder ganz real durch Ackerbau, Holzeinschlag oder Straßenbau die Landschaft formt. So zieht es die musischen Menschen aus Deutschland oder England etwa an den Golf von Neapel oder in die latinische Gebirgslandschaft rund um Rom. Es entstehen Künstlerkolonien, wie rund um das Dorf Olevano Romano, ca. 50 km vor Rom, wo die pittoreske Bergwelt Anlass zu so mancher Dichtung, manchem Gemälde und manchem Selbstmord gibt. Ähnlich wirkt diese Idee in den Künstlerdörfern des frühen 20. Jahrhundert wie den niedersächsischen Worpswede nach, wo die öde Moorlandschaft zum Hauptelement der künstlerischen Verarbeitung wird. Friedrich Nietzsche bekommt seine zentrale philosophische Einsicht bei einer Bergwanderung, Gustav Mahler zieht sich zum Komponieren in seine Hütte im Voralpenland zurück, Gerhard Hauptmann verbringt weite Teile des Jahres auf Hiddensee und der Philosoph Martin Heidegger vertieft sein metaphysisches Gedankensystem auf langen Spaziergängen im Schwarzwald. Landschaft und Geist kommen so auf kongeniale Weise zusammen.  

Die romantische Verflochtenheit von Natur und Seele erhält in der Spätromantik eine Erweiterung. Die Idee des Nationalcharakters, also einer mythisch-urtümlichen seelischen Verfasstheit eines ganzen Volkes, legt eine Verflechtung mit der Landschaft als Lebensraum der betreffenden Menschen nahe. So ist das italienische Gemüt leicht und künstlerisch und damit ein Spiegelbild der sonnendurchfluteten Mittelmeerküsten und der verträumten Inselchen der oberitalienischen Seen. Die deutsche Seele hingegen ist eine Seele des Waldes und des Winters, die im Volk einen schwermütigen, tiefsinnigen und philosophischen Charakter ausbilden.[6] Es beginnt die Zeit der großen Nationaldichtungen und Musikwerke. Landschaft und „Volksgeist“ klingen in der erwachenden nationalen Begeisterung zusammen, so dass sich bis heute etwa Russland wie Tschaikowski, Tschechien wie Smetana oder Finnland wie Sibelius „anhört“. Die Landschaft wird Teil eines durchaus noch romantisch gedachten Ganzen aus Bevölkerung, Natur, Geschichte und Kultur, das dann als „Heimat“ beschrieben werden kann.     

Selbst in den Zeiten, als Gott von den gesellschaftlichen Oberschichten im Zuge des philosophischen Atheismus in Frage gestellt wird, bleibt die religiöse Aufladung der Landschaft erhalten. An die Stelle des christlichen Glaubens treten nun Mythen und Märchen, Geister und Dämonen. Bis heute hat die Reiseindustrie diesen Aspekt bewahrt und wirbt mit den „Elfen“ in Island, den „Trollen“ in Norwegen oder den „Riesen“ in Irland. Die Landschaft muss dem Besucher offensichtlich weiterhin als „magisch“ verkauft werden. Richard Strauß komponiert in seiner Alpensinfonie 1915 nicht nur schöne „Landschaftseindrücke“, sondern lädt diese in der Szenenbeschreibung seines Werkes durch mystische „Erscheinungen“ auf. Eine der schönsten mit bekannten Landschaftsbeschreibungen bietet die zu Unrecht vergessene italienische Literaturnobelpreisträgerin Grazia Deledda in ihrem Hauptwerk „Schilf im Wind“ von 1913. Hier durchstreift ein klein- und urwüchsiger Diener eines untergehenden Herrschaftshauses die Landschaft Sardiniens. Die Natur wird hier aber als quasi selbst mythisches Wesen verklärt, die als Tresor die untergegangene Geschichte der Geister und Götter der Vorzeit bewahrt. Diese konservierende Funktion stemmt sich gegen die eintretenden gesellschaftlichen Veränderungen und den Zusammenbruch der alten Ordnung. Wenigstens hier, in der Landschaft, bleibt aber das Ursprüngliche, Urwüchsige, Originale erhalten.

Das für Deutschland eklatanteste Beispiel dieser Art ist vielleicht Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“. Vordergründig erzählt das vierteilige Opernwerk die germanische Siegfried-Sage. Der mythische Inhalt dient Wagner aber auch als Antwort auf aktuelle gesellschaftliche und philosophische Fragen. Als Wagner das „Rheingold“ schreibt, wird gerade an einer der größten Baustellen der deutschen Geschichte gearbeitet.[7] Der Rhein erfährt einen nie dagewesenen Eingriff. An seinem Oberlauf zwischen Basel und Koblenz wird der Fluss begradigt und um rund 120 km verkürzt. Ziel dieser Eindämmung und Laufveränderung ist die sichere Schiffbarmachung des Rheins, sowie der Schutz vor Hochwasser und die Gewinnung neuer Ackerflächen. Der Rhein verändert seine ursprüngliche, mäandernde Gestalt zu einem Kanal. Dabei gehen zahlreiche Rheinauen, Seitenarme, Inseln und Flachgewässerzonen verloren. Zugleich verschwindet das Handwerk der Goldwäscher. An den flachen Uferzonen des alten Flusses konnte das Edelmetall geschürft werden. Der neue Kanal macht dies unmöglich. Der Rhein behält sein Gold und lässt es in die Tiefe hinabsinken. Genau hier beginnt Wagners Oper. In der Tiefe des Rheins hat sich das vorher zugängliche Edelmetall zu einem gewaltigen Schatz akkumuliert. Es steht dem „kleinen Mann“ nicht mehr zur Verfügung. Dieses gewaltige Kapital fällt nun in die falschen Hände und entfacht einen Streit, in dem das „neue Menschengeschlecht“ nach dem Rückzug der Götter gegen die Kapitalisten und Technokraten, also gegen die moderne technische Zeit kämpfen muss.

Die Landschaft des Rheins wird von Wagner also noch einmal in ihrer Ursprünglichkeit beschworen und zugleich durch die technische Veränderung bedroht. Als der neue Rhein entsteht, lebt der alte, mythische Rhein wieder auf. In der Folge der romantischen Mittelalter- und Sagen-Begeisterung verformt sich das Mittelrheintal durch Hinzufügung künstlicher Gedenkorte und Ruinen zu einem germanischen Themenpark. Das im 19. Jahrhundert zahlreich anreisende englische Publikum erfreut sich also einer teils echten, teils künstlichen Natur- und Kulturlandschaft. Mythus und Geschichte werden touristisch geschickt vermarktet. Dass dabei manche Burg, Kirche oder Ruine am Flussrand längst nicht alt ist, wie sie scheint, stört die Besucher nicht. Man bekommt die Landschaft geliefert, die man sich vorgestellt hat.

Bei einer Reise durch Israel wird vor allem dem religiösen Pilger die Landschaft als „fünftes Evangelium“ vorgestellt. Das Durchstreifen der Bergwelt von Galiläa, die Fahrt auf dem See Genezareth, der Ausflug in die judäische Wüste, das Ersteigen der Hügel um Jerusalem geben dem Evangelium seine konkrete Verortung. Die Landschaft wird bis heute als Konservationsmedium der neutestamentlichen Berichte genutzt. Die Geschichte wird verständlicher und erfahrbarer. Es ist ein Hauch vom gelobten Land, der in dieser Erfahrung steht, ästhetische Schönheit, religiöse Gestimmtheit, Geschichte, Gemüt und Sehnsucht klingen in einer solchen Landschaftserfahrung zusammen.

Landschaft ist nie „einfach da“. Sie ist, mit einem hässlichen Wort gesprochen, eine „Konstruktion“, also Projektionsfläche für eigene Erwartungen, Sichtweisen und religiöse/mythische Erfahrungen. Deshalb wird sie weiter ein erstrebenswertes Ziel für unsere persönliche Seelenwelt bleiben. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die betrachtete Landschaft fast nie ursprünglich ist, sondern in der Regel durch menschlichen Eingriff kontinuierlich geformt wurde: durch die Abholzung der Wälder, durch Ackerbau und Aufforstung, durch Bergbau, Städtebau, durch Infrastruktur von Straße bis Windrad, durch ein kontinuierliche Erschließung. Die Bewahrung der „ursprünglichen“ Landschaft ist auch unter dem Vorzeichen der ökologischen Motivation weitgehend ein romantisches Projekt. Wer abenteuerlustig ist und es sich leisten kann, sucht daher die letzten Gebiete unberührter Natur auf, Wüsten, Regenwald, die Antarktis oder abgelegene Inseln und hat dort, genauso mit der Unwirklichkeit der „unzivilisierten“ Natur zu kämpfen wie die Menschen zu biblischen Zeiten. Für alle anderen darf der romantische Zusammenklang von Natur und Seele, Religion und Geschichte in unserer gestalteten Landschaft ruhig weiter fortdauern. Die Inspiration der Landschaft, die Muße und Beschauung, die Beruhigung der Seele tut uns gut.   

Bilder: Strand bei Nazaré (Portugal) (Titelbild); Judäische Wüste (Israel), Blick auf den Lago Maggiore (Italien), Nordseeküste bei St. Peter Ording, Ausblick auf die Landschaft bei Tivoli (Italien), Mittelrheingraben vom Drachenfels bei Königswinter, Boot auf dem See Genezaret (Israel)    


[1] W.A. Mozart, Die Zauberflöte, Stuttgart 1971, hier auch das Vorwort von Wilhelm Zentner.

[2] S. Uerlings (Hg.), Theorie der Romantik, Stuttgart 2000, 51f.

[3] Ricarda Huch, Die Romantik, Berlin 2017 (original 1899 und 1912), 413ff.

[4] Zitiert bei Uerlings, 282f.

[5] Joseph von Eichendorff, Ahnung und Gegenwart, Stuttgart 1984 (original 1815), 94f.

[6] Deborah Hoheisel, Landschaft, ein System?, Kassel 2018, 16-31.

[7] S. zum Folgenden: David Blackbourn, Die Eroberung der Natur, München 2006, 115-145.

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