Vom Fischer zum Menschenfischer

Ich möchte Ihnen von einer Begegnung erzählen. Es war vor etwa zwei Jahren. Ich war zu einem Priestertreffen ins Rheinland gefahren, nach Ehreshoven, dem Bildungshaus der Malteser in Deutschland. Beim Frühstück saß am Tisch neben unserer Gruppe ein Mann, etwa Mitte fünfzig. Wir begrüßten ihn und stellten uns kurz vor. Als ich erzählte, dass ich aus Schwerin nach Ehreshoven gekommen war, sagte er, dass er Schwerin nicht so gut kenne. In Rostock allerdings sei er über mehrere Jahre zu Hause gewesen. Und dann erzählte er seine Geschichte.

Der Mann stammte aus Brandenburg und hatte nach der Schule eine Ausbildung in der Seefahrt begonnen. „Ich hatte die Sehnsucht danach, einmal rauszukommen, das Meer und fremde Länder zu sehen.“ Dies war für ihn möglich, indem er sich für die staatliche Fischereiflotte der DDR bewarb. Dies war mir bis dahin ein völlig unbekanntes Feld der DDR-Geschichte gewesen. „Es war nicht ganz einfach“, so sagte er. „Die Fischerei nahm vor allem linientreue Mitarbeiter, da die Fluchtgefahr ausgeschlossen werden sollte. Ich war mir selbst nicht sicher, ob man mich nehmen würde, einen jungen Burschen ohne Familie und ohne politische Ambitionen. Aber das Vorhaben klappte und so fand ich mich auf einem großen Fischereischiff, einem Trawler, wieder. Wir fuhren über die Ostsee hinaus auf die Ozeane. Wir fischten vor den Kanaren, vor Kanada, im Golf von Mexiko. Unser Fisch, darunter die großen Speisefische des Ozeans, Thunfisch, Kabeljau, Heilbutt oder Rotbarsch. Die meisten Fische waren für den Export bestimmt und wurden gleich vor Ort verkauft. Nach Hause brachten wir für den heimischen Markt nur wenig mit. Aber das Leben auf See war interessant. Wir lernten die Fischer aus anderen Nationen kennen. Wir ankerten in den Häfen Nordamerikas oder der Karibik. Wir durften für begrenzte Zeiten von Bord, sahen uns die fremden Städte an und kauften Souvenirs für die Freunde und Familien zu Hause. Überdies konnte man gut verdienen. So habe ich eine abenteuerliche Zeit verbracht.“ Was er jetzt tue, fragte ich ihn. „Jetzt“, so sagte er, arbeite er seit einigen Jahren für die Malteser im Hilfsdienst. Er mache Krankentransporte und Fahrdienste, medizinische Versorgung und leite mittlerweile ein eigenes Team. Über seine Tätigkeit habe er auch die katholische Kirche und den Glauben kennengelernt. Sein Leben habe sich zwar völlig verändert, aber er sei damit sehr dankbar und zufrieden.

Mit den Worten des Evangeliums (und etwas Pathos) war das die Geschichte eines Fischers, der zum Menschenfischer geworden war. Jetzt werde ich nicht so kühn sein, die Situation der kleinen Fischereibetriebe am See Genesaret mit der modernen Hochseefischerei zu vergleichen. Es geht mir eher um die radikale Lebenswende, die in kurzen Sätzen im Sonntagsevangelium beschrieben wird (Mt 4,12-23). Die Fischer am See bekommen von einem auf den anderen Augenblick eine neue Aufgabe. Jesus ruft sie in seine Nachfolge. Sie lassen nach dieser kurzen Begegnung ihre Netze und mit ihnen ihr gesamtes altes Leben liegen und begeben sich mit Jesus auf eine abenteuerliche Reise, die sie in vorher nicht geglaubte Situationen führen wird. Sie werden später von Jesus beauftragt, seine Sendung weiterzuführen. Aus Fischern werden Menschenfischer, die das Evangelium predigen sollen, die Schuld vergeben, die Kranken heilen und die Dämonen austreiben. Die kurze Episode am See steht für den Moment, in dem den zukünftigen Jüngern bewusst wird, dass sie über ihren Beruf, ihr sicheres Leben hinaus noch einen anderen Auftrag für sich erkennen, der weit über ihr bisheriges Dasein hinaus geht.

Ich glaube, dass dieser Genesaret-Moment im Leben vieler Menschen eine Rolle spielt, bei manchen in einem religiösen Sinn, bei vielen aber zunächst in einem ganz menschlichen Sinn. Jeder Mensch, so glaube ich, trägt in sich eine tiefere Berufung, derer er sich irgendwann bewusst wird, auch dann, wenn er sie nicht mit seiner von Gott geschaffenen menschlichen Natur in Verbindung bringt. Das Leben kann sich in wenigen Momenten wandeln und so an Reife und Tiefe gewinnen. Der Genesaret-Moment stellt die bisherigen Werte in Frage. Es ist der Augenblick, in dem mir klar ist, dass nicht allein der Beruf, der materielle Wohlstand, die Unternehmungen und Abenteuer eines äußerlich bewegten Lebens von Bedeutung sind. Es sind Momente wie die Liebe zu einem anderen Menschen, die meinen inneren Kompass neu ausrichten. Es ist die Genesaret-Zeit der jungen Eltern, bei denen die Kinder einen neuen Lebensmittelpunkt bilden, der alles bisherige in den Schatten stellt. Es ist aber auch der Moment der Begegnung mit der Not, wenn ich herausgefordert bin, für einen anderen Menschen, der krank oder in Schwierigkeiten ist, zu sorgen, oder wenn ich konfrontiert bin mit materieller oder seelischer Armut, mit Streit und Entzweiung mit Ungerechtigkeit und Gewalt bei mir selbst oder bei anderen.

Im Geist der Werke der Barmherzigkeit im Matthäusevangelium begegnet mir Christus selbst im anderen, im Armen, Fremden, Gefangenen, Nackten, Kranken oder Sterbenden. Genesaret ist überall, wo diese Begegnung mit Jesus stattfindet, in der religiösen Erkenntnis genauso wie im Nächsten. Ich trage eine Berufung in mir, die mich dahin führt, an konkretem Ort und an konkreter Stelle nachzufolgen, also mich beauftragen zu lassen, zu verkündigen, zu heilen, zu trösten, zu vergeben und das Böse zu bekämpfen.       

Das ist der Genesaret-Moment. Am Strand bleiben meine alten Netze liegen. Vielleicht werde ich sie wieder zur Hand nehmen. Aber ich weiß: Es sind nur Mittel im Großen Ganzen meines Lebens, nicht der Mittelpunkt. Dieses Leben geht über den Gebrauch der Netze hinaus. In Wahrheit bin ich auf einer Reise, die mir mit der Zeit mehr erschließen wird, als ich zu Anfang gedacht habe. Es ist eine Reise aus Berufung, zu der mich der Anruf Jesu, der zugleich Anruf meines Nächsten ist, getroffen hat.

Beitragsbild: Fischerboot am Hafen von Portofino (Italien)

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